Zsigmond Simonyi an Hugo Schuchardt (118-10680)
von Zsigmond Simonyi
an Hugo Schuchardt
28. 10. 1917
Deutsch
Schlagwörter: Ungarisch Slawische Sprachen Niederländisch Latein Litauisch Finnisch Udmurtisch Italienisch Finnisch-ugrische Sprachen Spanisch Ettmayer, Karl von Italien Schuchardt, Hugo (1917)
Zitiervorschlag: Zsigmond Simonyi an Hugo Schuchardt (118-10680). Budapest, 28. 10. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.11035, abgerufen am 17. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.11035.
Budapest 28. Okt. 1917.
Verehrter Herr Professor!
Ich kann mich nicht erholen von der Verwunderung und Entrüstung über Ettmeyers Selbstüberhebung und Undank.1 Ihre Weisheit wird sich auch darüber, wie über manches andere, hinwegzusetzen wissen.
Es bedarf einer durch Eitelkeit verblendeten „Mentalität“, jenen inkriminierten Satz misszuverstehen, da es ja unmittelbar vorher heisst: „Der Willkür ist ein ziemlich weiter Spielraum gewährt.“ –
In den „Benennungen der Milz“ S. 2 2ist von der Wade als Bauch des Beines die Rede. Das bestätigt meine Ansicht, dass ung. und slavischikra „Rogen“ und „Wade“ identisch sind. Das letztere lautet im Ungar. gewöhnlich lábikra, also Fussrogen. Bei Berneker3 heisst es: „Die behauptete Identität von ikra 2. mit ikra 1. wird durch die vermeintliche |2|Parallele von ndl.kuit „Rogen“ und „Wade“ nicht wahrscheinlich gemacht, da diese vielmehr verschiedene Wörter sind (vgl. Franck EtWb)“. Es gibt aber im Ungarischen noch eine Parallele: in der Volkssprache heisst die Wade auch lábkásajá „Brei des Beines“, was also dem „Rogen des Beines“ ziemlich nahekommt.
Zu lat.cōleus und culleus gehört litauischkulé, das die beiden Bedeutungen vereint: „Sack, Hodensack“. Ich kenne das Wort, weil es ins Finnische und Lappische entlehnt worden ist: finn. kulli, lapp. kuellje „Hode“ (aber auch wotjak.kęlan).
Für nucca habe ich in einem ital. Wörterbuch auch gnucca gefunden und dieses mit ahd. hnacch, nacch und ungar.nyak verglichen (in meinem Magyar Nyelv 1. Aug. 61* und in der Ung. Sprache 18). Unser nyak hat nämlich in den finn.-ugr. Sprachen nichts entsprechendes. Sollte dies alles auf dem Spiele des Zufalls beruhen?
Zu span.musco „braun“ (Ben. der Milz S. 161, letzte Zeile) stimmt zufällig finn. musta „schwarz“. –
|3|Nun schliesse ich und lege bloss noch einen Zeitungsausschnitt bei über den österr.-ungar. Lebensmittelverkehr. 4
Unser Sohn ist jetzt nach Troitzkosavsk in Transbaikalien (einige Meilen von der mongolischen Grenze) überführt worden.6 Möchten uns doch die Erfolge in Italien den Frieden näherbringen!
Mit unser aller ergebensten Grüssen
Ihr getreuer
Simonyi.
1 Vgl. dazu den von Hans Goebl ed. Briefwechsel Schuchardt-Ettmeyer im HSA. Dort heißt es eingangs: „Das innerhalb des erhaltenen Brief-Korpus zweifellos bedeutendste und auch wissenschaftshistorisch interessanteste Ereignis ist der von Ettmayer ausgehende Bruch mit Schuchardt im Oktober 1917 (Briefe 27-02814 und 28-02816 vom 9. und 20.10.1917). Auslösende Momente waren die Lektüre von Schuchardts Schrift über “Sprachverwandtschaft“, die dieser knapp zuvor Ettmayer als Sonderdruck zugesandt hatte, und der sich daran entzündende Groll Ettmayers. Im wissenschaftshistorischen Rückblick lassen sich die Hintergründe der offenbar ziemlich tief gehenden Verstimmung Ettmayers aber durchaus plausibel machen bzw. schlüssig darstellen“.
2 Schuchardt, „Zu den romanischen Benennungen der Milz“, Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 8, 1917, 156-170.
3 Erich Berneker (1874-1937), Vf. von Slavisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1908-13.
4 Nicht beigefügt.
6 Károly Gábor Simonyi (1883-1927), Ingenieur. Wärend des Weltkriegs geriet er in russische Gefangenschaft und wurde nach Sibirien deportiert, von wo er nach Shanghai gelangte, wo er vermutlich verstarb.