Hugo Schuchardt an Matthias de Vries (10-4)

von Hugo Schuchardt

an Matthias de Vries

Graz

01. 04. 1883

language Deutsch

Schlagwörter: Biographisches Reisen Literaturhinweise / bibliographische Angaben Sprachkontakt (allgemein) Kreolsprachen Networking Literaturbeschaffung Sprachen in der Karibik Koninklijk Bataviaasch Genootschap van Kunsten & Wetenschappen Herrnhuter Brüdergemeindelanguage Afrikaanslanguage Französischlanguage Niederländischlanguage Saramakkanischlanguage Englischbasierte Kreolsprachen Meyer, Joseph (1885–1890) Wolf, Michaela (1993) Schuchardt, Hugo (1914) Schuchardt, Hugo (1881) Smith, Norval S.H./Vate, M. S. van de (2006)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Matthias de Vries (10-4). Graz, 01. 04. 1883. Hrsg. von Jörg Ahlgrimm-Siess und Johannes Mücke (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1088, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1088.


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Graz, 1 April 1883.

Verehrtester Herr Kollege.

Soeben von Neapel und Rom zurückgekehrt, finde ich Ihren Brief und Ihre Karte vor undsage Ihnen dafür meinen herzlichsten Dank.

Besonders erwünscht waren mir Ihre Mittheilungen über die Kapholländische Litteratur;ausser der Ihrer Güte zu verdankenden Schrift besitze ich nur eine Sammlung der Afrikaanse Gedigte und die Geskiedenis van die Afrikaanse taalbeweging.Ihre Bemerkung über den Einfluss des|2| franz. Elements auf dasholländische erscheint mir als eine sehr scharfsinnige und beherzigenswerthe;freilich kann ich dies nicht ganz leicht beurtheilen, ich müsste denn - vielleicht ineiner Komödie - einem holländisch redenden Franzosen begegnen. Von dem Anerbieten,das Sie mir gütigst gemacht haben, mir eine Abschrift von den von Ihrem Freundegesammelten Freiheitsliedern zu senden, würde ich - wenn es Sie nicht allzusehrbelästigte - sehr gern Gebrauch machen. Doch bemerke ich, dass das auf jeden Fallnoch hinlänglich Zeit hat, da ich die eingehende Beschäftigung mit dem Kaphollän-|3|dischen mir für eine spätere Periode vorbehalten habe.

Von der sonstigen mitgetheilten kreolischen Litteratur ist mir neu van Hoëvell1 und g. B. Bosch. Das übrige besitze ich, mitAusnahme van Dijk, den ich bis jetzt nichthabe erlangen können. Ich werde demnächst den von Ihnen vorgeschlagenen Weg, Einsichtin dieses Buch zu erlangen, betreten.

Meine kreolische Bibliothek beträgt jetzt nahe an 90 Druckschriften; ich möchte Sieaber dadurch nicht etwa abhalten, mir, wenn Ihnen irgend Etwas Kreolisches aufstossensollte, davon Mittheilung zu machen. Auch wenn es mir schon bekannt wäre, würde meineErkenntlichkeit für|4| den Dienst eine ungeschmälerte sein.

Ich habe eine neue Bitte an Sie zurichten. Einem herrnhuterischen2 Neger in Surinam,3 welcher mir Proben von dem sogen.Negerportugiesisch (Saramakka-Kreolisch)4 geschickt hat, möchte ichgern einen holländischen Thomas a Kemptis5 zukommen lassen. Welche Ausgabe?und woher beziehe ich sie am Einfachsten?

An das holl. Kolonialministerium schrieb ich am 18 Febr. mit der Bitte mir dieAdressen von Personen auf S. Martin, S. Eustathius und Saba zu geben, an die ich michum Auskunft über die dort gesprochenen Negerpatois wenden könnte. Es scheint, dassich die Hoffnung auf Antwort aufgeben muss.6

Mit herzlichsten und hochachtungsvollsten Grüssen

Ihr ergebenster
HugoSchuchardt.

Im Begriffe mich durch einen Berg an Briefen durchzuarbeiten, schreibe ich etwaseilig; betrachten Sie meinen deutschen Stil nicht mit der Loupe; er würde allzuviel Mängel aufweisen.


1 Wolbert Robert van Hoёvell(1812-1879) studierte Theologie in Groningen und ging 1836, für elfJahre, als Geistlicher und Vorstand der Bibel- und Missionsgesellschaft nachBatavia. Als Gründer der Tijdschrift voor Nederlandsch-Indie und Präsident der Bataviaasch Genootschap voor Kunsten enWetenschappen förderte er die Kenntnis der Kolonien in der Heimatund trug nach seiner Rückkehr als Führer der liberalen kolonialen Bewegung vielzur Abschaffung der Sklaverei in den westindischen Kolonien bei (MKL, Bd. 8:604 s. v. „Hoёvell, Wolbert Robert, Baron van“).

2 Die HerrnhuterBrüdergemeinde ist eine aus der böhmischen und mährischen Reformationentstandene überkonfessionell-christliche Glaubensbewegung, welche vomProtestantismus geprägt wurde und die Missionstätigkeit in den Kolonien Afrikas,Amerikas und Asiens zu einer ihrer Hauptaufgaben machte (MKL Bd. 3:503-504, s. v. „Brüdergemeinde“).

3 Es handelt sich um DanielP. Ijveraar aus Suriname (Lebensdatenkonnten bisher nicht ermittelt werden), der über Vermittlung des HerrnhuterMissionars in Suriname Jonathan Kersten (gest. 1916, Geburtsjahr konnte bislang nichtermittelt werden) Schuchardt einige Sprachproben des Saramakkakreolszukommen ließ. Die noch unveröffentlichten Briefe Kerstens an Schuchardt sind imNachlass Schuchardts erhalten (Briefnummern 05520-05530), ebenso wie die SchreibenIjveraars (Werkmanuskripte Nr. 11.3.5., verzeichnet als „6 Blatt. Sprachproben zuEnglisch u. Niederländisch in Surinam [fr. Hs.]“ in Wolf 1993:577). Schuchardt druckte das zweite Schreiben Ijveraars vom 27. Januar1883 in Gänze über dreißig Jahre später in Die Sprache der Saramakkaneger inSurinam (Schuchardt 1914: 36-42, Brevier-/Archivnr.656) ab. Über Ijveraar schreibt Kersten am 1. Februar 1882 aus Paramaribo anSchuchardt: „[…] wir haben in Ganzee [Ortschaft in Suriname am Surinamefluss]einen ziemlich gebildeten Schullehrer Daniel Ijveraar, der des Holländischenmächtig ist, der selbst ein geborener Saramakka-Neger ist“ (Bibl. Nr. 05520).Kersten ist es auch, der Schuchardt vorschlägt, Ijveraar das Werk des Thomas vonKempen zuzusenden. Er schreibt am 20. Februar 1883 aus Paramaribo an Schuchardt:„Sie fragten einmal an, ob Sie jenem Herrn Ijveraar nicht irgend ein Buch verehrenkönnten. Ich bin leider recht unbekannt mit holländischen Büchern, aber würdevorschlagen, irgend ein Erbauungsbuch z.B. Thomas a Kempis in holländischerUebersetzung“ (Bibl. Nr. 05524).

4 Saramakka istein englisch und portugiesisch basiertes Kreol, das in Suriname gesprochenwird. Es entstand ab Mitte des 17. Jahrhunderts als Sprache entflohenerSklavengemeinschaften am Surinamefluss. Es wird noch heute als Umgangsspracheverwendet (vgl. dazu u.a. Smith2009, Smith & Vate2006). Schuchardt beschäftigte sich intensiv mit dieserKreolsprache. In seinem Nachlass befinden sich zahlreiche noch unveröffentlichteKorrespondenzen und Notizen zum Saramakka. Die Ergebnisse seiner Recherchenmündeten in einer seiner letzten kreolistischen Arbeiten (Schuchardt1914, Brevier-/Archivnr. 656).

5 Thomas von Kempen (1379/80-1471), eigentlich ThomasHamerken oder Hämmerlein, war Priester im Augustinerkloster St. Agnes in Zwolle.Sein Hauptwerk Vier Bücher von der NachfolgeChristi (De imitatione Christi),von dem hier vermutlich die Rede ist, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt undwar weltweit verbreitet (MKL, Bd. 15:658, s. v. „Thomas von Kempen“).

6 Der Nachlass Schuchardts enthält allerdings ein Schreiben des niederländischen Department van Kolonien vom 19.10.1883(Bibl. Nr. A0144), in welchem das Bestehen einer niederländischen Kreolsprache aufden drei niederländischen Inseln in der Karibik verneint wird. Zwar wäre aufdiesen Inseln ein Patois in Gebrauch, dies wäre jedoch ein Englisch mit einem„eigenartigen“ Akzent. Im Schreiben wird direkt auf Schuchardts Anfrage vom18.02.1883 Bezug genommen.

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