Georg Gerland an Hugo Schuchardt (02-03653)

von Georg Gerland

an Hugo Schuchardt

Straßburg

18. 11. 1882

language Deutsch

Schlagwörter: Kreolsprachenlanguage Bantu-Sprachenlanguage Spanischlanguage Semitische Sprachen Lepsius, Karl Richard Sayce, Archibald Henry Bastian, Adolf Tomaschek, Wilhelm Straßburg Schuchardt, Hugo (1882) Lepsius, Richard (1880) Gerland, Georg (1875) Gerland, Georg (1882)

Zitiervorschlag: Georg Gerland an Hugo Schuchardt (02-03653). Straßburg, 18. 11. 1882. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10843, abgerufen am 10. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10843.


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Straßb. 18/11 82.

Sehr geehrter Herr Kollege,

Ihre neuliche Anfrage hat mich noch nachträglich hinsichtlich unseres Briefwechsels erschreckt; ich kann Sie aber versichern, daß ich nicht entfernt an eine Verstimmung oder etwas der Gleichen gedacht habe, daß ich auch nicht den leisesten Grund dafür sehe; und so thut es mir leid, daß Sie mich in einem solchen Verdacht gehabt haben. Gern hätt‘ ich Ihnen denselben ausgehend benommen, wenn es mir mit der Zeit irgend möglich gewesen wäre. Und der Zeitmangel hielt mich auch ab, Ihnen eher zu schreiben; denn wenn ja auch nichts besonderes zu schreiben war, so hatt‘ ich doch einige Notizen mir für Sie gemacht, die Sie jetzt haben sollen, selbst auf die Wahrscheinlichkeit |2| hin, daß Ihnen dieselben nicht neu sind.1

Der Sommer gieng mir so rasch hin, daß ich noch jetzt kaum weiß, wo die Zeit hingekommen; dann waren die Ferien da, einige notwendige Reisen mußt‘ ich machen, dazwischen nahm mich der ethnolog. Bericht über 1880-2 für Wagners geograph. Jahrbuch von früh bis spät ganz in Beschlag; nun ist wieder Semester, die Kollegien (wie auch im Sommer) kosten mir die Hauptzeit, zumal jetzt, wo ich ein neues u. mühevolles angefangen habe (Völker Europas) – da haben Sie die Gründe, weswegen ich nicht schrieb, zumal ich nichts eiliges zu schreiben hatte.

Denn in Halle hatt‘ ich ja gar nichts für Ihre Zwecke2 erfahren. Dagegen will ich Sie jetzt auf den dicken Band der Comptes rendus des Congrès international des sciences ethnographiques tenu à Paris du 15. au 17. Juillet 1878 (Paris, Impr. national 1881) aufmerksam machen.3 Daselbst finden Sie im 2. Annex, p. 568-583 eine Abhandlung von A. Castaing, les langues à grammaire mixte. Ich kann nicht sagen, daß ich dieselbe für sehr wichtig halte, bin aber gern bereit, wenn Sie das Buch nicht haben, Ihnen einen Auszug aus der |3| Arbeit zu schicken. Ebenso findet sich in dem Band ein Abriß oder eigentlich nur ein paar Bemerkungen von L. de Rosay über la langue coréenne vulgaire; auch sonst ist über Sprachen viel darin gehandelt, namentlich über allgemeine linguist. Fragen, ohne daß ich mich jedoch sehr durch diese Betrachtungen u. Behandlungen gefördert fühlen kann (Siehe umstehend am Rand).

Für Ihren Artikel „zur afrik. Sprachmischung“4 sag ich Ihnen besten Dank. Drei Hauptpunkte scheinen es mir zu sein, in welchen Sie von Lepsius5 abweichen. 1) Verlangen Sie ein Zusammenfassen der einzelnen Punkte, welche L. als charakteristisch für die Bantusprachen aufstellt. Wenn ich Sie recht verstehe, so wollen Sie das zu äußerliche Verfahren L.‘ nicht billigen, sondern mehr sprachgeschichtlich, mehr aus Wesen, Bedeutung und also sprachlichem Zusammenhang heraus die einzelnen Erscheinungen u. Sprachkategorien gegeneinander übergestellt u. verglichen haben. Gewiß sehr mit Recht. 2) wollen Sie noch weiteres Eingehen auf bestimmte wichtige Dinge der inneren Sprachformen, welche für die Negerspr. von grundlegender Bedeutung sind; und gerade das |4| Beispiel, was Sie erwähnen, ist von sehr hohem Interesse. Es ist dies Verlangen nur ein Fortsetzen des ersten: wie Sie dort Präfigirung u. s. w. nach dem wirklichen sprachlichen Wert dieser Erscheinung aufgefaßt wissen wollen, so bringen Sie hier ein einzelnes Neues, was L. gar nicht aufgefaßt hat. 3) sagen Sie, daß Sprachmischung u. Blutmischung von einander unabhängig sei[en]; erstere sei socialer, diese dagegen physiolog. Art. Nun, ich glaube, so hat man es bisher aufgefaßt, daß Sprachmischung nur als die soziale Consequenz der Blutmischung eintrete; wie es ja auch in den meisten Fällen geschehen wird, wenn nicht geradezu Sprachvertauschung sich einstellt. Dagegen verstehe ich Ihre Behandlung des Beispieles von den Finnotataren u. Haitinegern nicht ganz. Leider hab‘ ich Lepsius Buch nicht zur Hand, was mich recht hindert. Sie wollen doch wohl auch hier nachweisen, daß Blutmischung u. Sprachentausch nicht Hand in Hand gehen: dort Blutmischung ohne Sprachentausch, hier Sprachentausch ohne (wenistens bedeutende) Blutmischung. Oder meinen Sie, daß auch die finnotatar. Sprachen stark gemischte seien? Doch wohl kaum; aber hier verstehe ich Sie nicht. Den Schluß Ihres Artikels faß‘ ich so, daß die Nuba (Subjekt der Sprache) eine Sprache sprechen, |5| welche keine Negersprache ist, denn ein Kennzeichen kann nichts beweisen, daß auch dadurch, daß die Nuba (Neger ?) die Sprache sprechen, sie noch lange nicht zur Negersprache wird, ebenso wenig wie Spanisch im Munde eines Zigeuners zigeunerisch wird. Ich nun freilich halte die Nuba durchaus nicht für ein Negervolk.

Hab‘ ich Ihre Abhandlung recht verstanden? Es wäre mir lieb, wenn Sie mir etwaige Missverständnisse aufklärten.

Lassen Sie mich nun noch bei einigen Kleinigkeiten verweilen. Zum Schluß sagen Sie, daß die Sprachen, wenn sie sich mischen, sich als verschied. Tätigkeiten eines Subjektes mischen. Dem möchte ich nicht ganz beistimmen. Der Ausdr. Tätigk. scheint mir nicht ganz richtig. Denn eine neue „Tätigk.“ tritt nur ein bei Bilinguität, nicht bei Einmischungen. Bei letzteren bleibt die psych. Tätigkeit das Subjekts der Sprache, die Auffassung der äußerlichen Welt u. die bestimmt formirte Wiedergabe derselben ganz gleich, nur die Wortklänge, das wenigst Wichtige in der Sprache, werden vertauscht oder hinzugenommen, also nur das an sich Gleichgültige, das Werkzeug dieser Tätigkeit, nicht diese selbst, alterirt. Syntaktische Einmischungen, wo sie ja irritirten, führen allerdings eine neue psych. Auffassung u. deren sprachl. Widergabe, also eine neue Tätigk. des Subjekts ein; doch jedenfalls nur auf kleinem, eng beschränktem Gebiet.

Ich stimme Ihnen ganz bei, daß die Sprache kein selbständiger Organismus, überhaupt kein |6| Organismus sei, wenn man das Wort irgend signifikant nehmen will. Ebenso ist Ihr Satz daß die Sprache nur das Produkt eines Subjektes sei, nicht das einmalige, sondern das fortdauernde, sich stets mit dem Subj. ändernde, durchaus mein Programm, schon seit lange. Aber dieser Begriff des Subjektes selbst ist von wesentlicher Bedeutung. Das Subjekt, u. dies möchte ich sehr betonen, ist kein einheitliches, sondern ein aus sehr vielen Individuen bestehendes (Sujb.) = i + i + i + i ….), derart jedermann auch noch so ähnlich wie der Nebenmensch, die Welt doch für sich u. gemäß seinen Schicksalen sieht, denn jeder bei aller psycho-physischen Gleichheit doch wieder Verschiedenheiten zeigt, im Temperament u. ohne Zweifel in dem so höchst complicirten System der Leitungsbahnen. Dennoch wollen sich alle diese Individuen vermittelst des von ihnen gemeinschaftl. geschaffenen Kunstmarktes, der Sprache, verstehen u. zwar rasch und bequem. Die Sprache muß also einmal eine gewisse Dehnbarkeit der Begriffe, dann aber, was uns hier angeht, eine bestimmte Festigk. u. Dauer haben. Sie wird sich mit ihrem Subjekte (über S = i + i + i + i + i + i ……. ) weiter entwickeln, wird sich auch umändern, aber stets muß die Summe des bleibenden Alten, Bekannten weitaus größer sein, als das Neue, weil sonst das Subjekt eben nicht unser Subjekt sein, eine Menge jener |7| von der Subjekttätigkeit ausgeschlossen sein würden.

Aus diesem letzten Grunde halt‘ ich auch an einem gewissen, gar nicht unbedeutenden genealogischen Wert der Sprache fest; u. gerade von hier aus tue ich sehr stark Einspruch gegen die Behauptungen von Lepsius, Saÿce,6Bastian7 u. a. v. der Volubilität der Sprachen. Eine solche ist ganz unmöglich; bei ihrer Annahme vergißt Lepsius ganz den unendlich allmählichen Gang der Entwicklung, der doch hier ebenso langsam u. wohlbegründet ist als es paläontologische Wandelungen sind.

Aber ich bin überhaupt sehr gegen die Annahme der Mischungen, welche L. in Bezieh. auf Continentalafrika aufstellt. Wo ist denn der Beweis für sie? L. entnimmt ihn wesentlich der Sprache, diese aber soll ja so flüchtig sein; u. so kommen wir hier zu einem völligen Cirkelschluß. Auch anthropologisch sind diese Mischungen nicht entfernt bewiesen. Meine Ansichten über die afrik. Sprachen hab‘ ich in meinem ethnol. Bilderatlas8 ausführlich entwickelt u. halte noch daran fest, wenn gleich sie keinen Beifall, ja überhaupt keine Besprechung gefunden hat [sic]. Mir sind die Bantuspr., aber auch – die semit. Sprachen nur extreme u. hohe Entwicklungsstufen der sprachl. Anlagen, welche wir vielfach noch unent- |8| wickelt, oder nur teilw. entwickelt finden. So glaube ich z. B. nicht, daß im Twi9 (bei Ihnen S. 867, b) das Bantusystem aufgegeben ist, sondern daß sich die Sprache selbständig parallel den Bantuspr. entwickelt hat, und nur eine frühere neutrale Verwandtschaft zeigt – d. h. die Bantuspr. erst zu Bantusprachen nach der Lostrennung ihres Subjektes wurden. Ich lege Ihnen zur weiteren Ausführung meiner Ansichten über die so leicht u. – oft so leichtsinnig angenommenen Mischungen meine Rede vom Hallischen Geographentag bei,10 die freilich auch mehr andeutet als ausführt, u. bin begierig, was Sie dazu sagen. – Aber gerade im Anschluß an Alles Dies möchte‘ ich diesen Fragen, auch den sprachlichen mehr zu Leibe gehen, u. zunächst einmal – nach Kräften – zusammenstellen, wo Sprachentausch vorgekommen; u. dann die Regeln, die psych. Gesetze für denselben ableiten. – Darf ich mir hierzu Ihre Hilfe ausbitten? würden Sie mich gefälligst im Sammeln des Materials, d. h. Angaben wo Sie Sprachentausch kennen, unterstützen? Meines lebhaften Dankes seien Sie versichert. – Für heute schließ‘ ich mit wiederholtem Dank für Ihre anregende u. wertvolle Abhandlung. Seien Sie versichert, daß mich sachliche Einwendungen nie persönlich verstimmen werden, als nur, wenn sie treffen, gegen mich selber: denn es gilt ja der Sache nicht der Person, u. jeder corrigirte [Forts. S. 1] Irrtum ist ja ein Schritt zur Wahrheit weiter.

Grüßen Sie bitte Koll. Tomaschek11 aufs beste von mir. Seine schönen Abhandlungen hab‘ ich kurz aber nachdrücklich im ethnologischen Jahresbericht besprochen, den ich Ihnen schicken werde. Mein Schweigen verzeihen Sie, es war nicht als solches beabsichtigt. Und nun seien Sie herzlichst gegrüßt von Ihrem ergebensten

G. Gerland


1 Dem Brief nicht beigefügt.

2 Es geht um Kreolsprachen, s. o.

3 Die bibliogr. Angabe lautet korrekt: Comptes rendus sténographiques, publiés sons les auspices du Comité central des congrès et conférences, et la direction de M. Ch. Thirion, secrétaire du comité, avec le concours des bureaux des congrès et des auteurs de conférences: Congrès international des sciences ethnographiques, tenu à Paris du 15 au 17 juillet 1878. No 5 de la série.

4 Schuchardt, Hugo (1882). Zur afrikanischen Sprachmischung. In: Das Ausland. Wochenschrift für Länder- und Völkerkunde H. 55, S. 867-869.

5 Carl Richard Lepsius, Nubische Grammatik mit einer Einleitung über die Völker und Sprachen Afrika's, Berlin: Hertz, 1880.

6 Archibald Henry Sayce (1845-1933), engl. Orientalist u.Sprachformer; vgl. HSA 09979-09981.

7 Adolf Bastian (1826-1905), Ethnograph u. Mediziner; vgl. HSA 00570-00571 (Entzifferung des hier vorkommenden Namens unsicher!).

8 Gerland, Bilder-Atlas. 7. Ethnographie. Ikonographische Encyklopädie der Wissenschaften und Künste ; ein Ergänzungswerk zu jedem Conversations-Lexikon ; fünfhundert Tafeln in Stahlstich, Holzschnitt und Lithographie in acht Bänden ; erläuternder Text in zwei Bänden. Bearb. von Karl Gustav von Berneck ...; Leipzig: Brockhaus, [1875].

9 Twi ist eine Akan-Sprache wird heute von ca. 3,4 Millionen Menschen, vor allem in Ghana, gesprochen, wo es auch eine der Amtssprachen ist.

10 Gerland, „Über das Verhältnis der Ethnologie zur Anthropologie“. Separatdruck aus den Verhandlungen des zweiten deutschen Geographentages zu Halle (April 1882) am 12., 13. und 14. April 1882, Berlin: Dietrich Reimer, 1882.

11 Wilhelm Tomaschek (1841-1901), tschech.-österr. Geograph; vgl. HSA 11732-11736.

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