Matthias de Vries an Hugo Schuchardt (07-12555)

von Matthias de Vries

an Hugo Schuchardt

Bad Ems

06. 08. 1882

language Deutsch

Schlagwörter: Biographisches Phonologie Flexion / Wortformenbildung Tempus und Temporalität Polemik Universität Leiden Universität Amsterdam Königliche Bibliothek (den Haag) Sprachkontakt (allgemein) Verb Suppletion Kasus (morphologisch) Pronomenlanguage Niederländischlanguage Niederländische Dialektelanguage Malaiischlanguage Spanischlanguage Portugiesischlanguage Französischlanguage Niederländisch außerhalb Europaslanguage Niederländisch (Südafrika)language Afrikaans Bad Alexandersbad

Zitiervorschlag: Matthias de Vries an Hugo Schuchardt (07-12555). Bad Ems, 06. 08. 1882. Hrsg. von Jörg Ahlgrimm-Siess und Johannes Mücke (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1076, abgerufen am 10. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1076.

Printedition: Ahlgrimm-Siess, Jörg; Mücke, Johannes (2012): „Ich bin auf der Jagd nach einigen in Holland gedruckten Schriften...“ Der Briefwechsel zwischen Matthias de Vries und Hugo Schuchardt.. In: Grazer Linguistische Studien. Bd. 78., S. 7-61.


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Ems, 6 Aug. 1882.

Verehrtester Herr Kollege,

Schon früher hatte ich Ihre zwei letzten Briefe, und zumal den aus Alexanders-bad mir zugekommenen, beantworten wollen. Da hat aber das einförmige Leben an diesem Bade-Orte und das ewige Herumbummeln am Brunnen und beim Kurhause mich zu einem solchen Faulenzer gemacht, dass ich gar nicht zum Schreiben kommen könnte. Weiter aber will ich es doch nicht verschieben, und so benutze ich das schlechte Wetter, das uns heute ins Hause fesselt, zur Beantwortung Ihrer mir vorgestellten Fragen, in so weit ich dazu im Stande bin.

Was erstens die sprachlichen Fragen anbetrifft, so erwiedere ich Folgendes:

1. Die Wiederholung von niet und al am Schluss des Satzes ist im Holländischen, auch dialektisch, völlig unbekannt.

2. Abfall der Consonanten, wie in loo, gloo, zi, wee u.s.w. kommt überhaupt nicht vor. Für als spricht man ge-|2|wöhnlich as, nie aber a.

3. jullie = gij (plur.), aus gijlieden zusammengezogen (oder vielmehr aus dem alten jij liede), ist noch heute im gewöhnlichen Leben allgemein üblich.

zullie = zij lieden, ist ebenfalls noch im Gebrauch. Hullie aber (= hun lieden) nur dialektisch. Es stammt aber gewiss schon von Holland her.

4. Flexionsloses Praesens kennen wir nur in der ersten Person sing.. Wir sagen ik kom, loop, geef u.s.w. Das ältere kome, loope, geve gehört jetzt zum höheren Stil.

In den anderen Personen aber wird regelmäßig conjugirt. Im plur. aber wird das n von komen u.s.w. im Alltagsleben nicht gehört: Wir sagen komme (nicht kome), loope, geve u.s.w., wie auch im Imperf. aij kwamme (für kwamen), liepe, gewe, und selbst bei Subst. im plur. huize, mencohe, boeke. Das weglassen des n nach stummen ĕ ist in unserer Aussprache feste Regel, wenigstens in der Alltagssprache. Der Redner aber soll das n hören lassen, aber doch sehr schwach.

Ik heeft wird in der niedrigen Klasse viel gesagt, nicht aber ik heef, ik het oder ik is.

5. Formen wie blij für blijven, krij für krijgen, sind völlig unbekannt. Wir kommen nur bis blijve, krijge; Die|3| Consonanten aber fallen nicht weg, sondern werden ganz deutlich ausgesprochen.

6. Den accus. ons für nom. wij kennen wir gar nicht und haben wir nie gekannt.

7. Ik ziet, ik doet wird beim Volke mitunter wohl gehört (wie oben ik heeft), weniger aber als dialektische Eigenthümlichkeit, doch vielmehr als ein mislungenes Streben quasi-rein und vornehm zu sprechen.

Ein Infin. auf t aber (wie gaat) ist völlig unerhört.

8. Partizipiěn wie gebrenge, gedenke, gekoop, gezoek sind unerhört.

9. Den Accus. bei lebenden Objekten durch voor zu umschreiben ist völlig unbekannt. Es ist ohne Zweifel dem Spanisch-Portugiesischen a entlehnt.

10. Loopen für geben ist ganz und gar unbekannt.

11. Maskie, obschon, ist ohne Zweifel unseres misschien (das aber nur vielleicht bedeutet), Mnl. masschien, machscien, = fr. peut-être, engl. may-be.

12. Amper, ampertjes = bijna, ist allgemein gebräuchlich. Es stammt aus dem Malayischen.

13. Mos für immers kennen wir nicht. Die Volksaussprache läutet ommers.

14. Zijn bei Preisandeutung ist ganz unerhört.

15. Der Ausruf mijn gonne! Ist uns ganz unbekannt.

Das in Ihrem späteren Briefe erwähnte makéren = fr. manquer ist unserer Volks|4| sprache entnommen, in der es aber mankeeren heißt. Das Wort wird noch jetzt täglich gebraucht.

Was den Vortrag des Dr. Theoph. Hahn anbetrifft, dessen inhalt ist mir schon lange bekannt. Das dumme Zeug des anmassenden Schwätzers, der so absprechend eine Sprache und eine Litteratur beurtheilte, von der er auch die Elemente nicht kannte, hat so wohl in Holland als im Kaplande mehr Aufregung gemacht als es verdiente. Unsere Zeitungen haben dem ungezogenen Kritiker in der Weise Bescheid gegeben, dass er wahrscheinlich in der ersten Zeit wohl schweigen wird, in der Überzeugung dass man erst eine Sprache kennen soll, ehe man dazu kommt die Litteratur zu beurtheilen. Schade nur, dass er nicht genug Holländisch versteht, um seine gerechte Bestrafung selbst lesen und prüfen zu können.

Es wird kaum nöthig sein zu sagen, dass ich hier in der Fremde ohne Bücher und sonstigen Hülfsmittel darauf verzichten muss, Ihnen irgend einige litterarische Mittheilungen zukommen zu lassen. So bald ich aber wieder in Leiden bin (ich denke ungefähr 20 Aug.), und die Collegen auch wieder zurück sind, mit denen ich über dergleichen Sachen mich besprechen kann, werde ich nicht verfehlen nach demjenigen umzusehen, was Ihnen von Nutzen sein könnte und Ihnen mitzutheilen|5| was mir vielleicht vorkommen möchte. Wenn ich mich nicht irre, so hat mein Kollege Dr. P. J. Veth, der berühmte Verfasser mehrerer ausgezeichneter Werke über Java und über Indische Angelegenheiten, sich auch mit West-indischen Fragen beschäftigt. Ich werde mich bei ihm erkündigen, was er vielleicht für Ihren Zweck beizutragen hat. Auch einige Bücher-Kataloge werde ich nachschlagen, die brauchbares Material erwähnen könnten.

Die Leidener Bibliothek wird wohl von diesen Sachen weniger enthalten. Ich werde aber einen der Bibliothekare bitten mir darüber die erwünschte Auskunft zu geben.

Für weitere bibliographische Notizen könnten Sie sich am besten wenden an Herrn Dr. H. C. Rogge,1 Oberbibliothekar der Universitäts-Bibliothek in Amsterdam, und Herrn Dr. M. F. A. G. Campbell,2 Oberbibliothekar an der Königlichen Bibliothek im Haag. Die beiden Herren sind ausgezeichnete Bibliographen und werden ohne Zweifel Ihnen mit Freude alle mögliche Hülfe leisten. Nöthigenfalls können Sie sich auf mich berufen, der ich mit beiden befreundet bin; aber auch ohne dem|6| werden sie Ihren Wünschen aufs Bereitwilligste entgegenkommen. Die Behülfsamkeit und Liberalität der Niederländischen Bibliothek-Verwaltungen ist ja auch im Auslande rühmlichst bekannt, und schwerlich wird in dieser Hinsicht jemand die Herren Rogge und Campbell übertreffen.

Indem ich für heute schliesse, in der Hoffnung Ihnen später etwas mehr mittheilen zu können, verharre ich mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener

M de Vries

Die „Eerstelingen“ von Roos sind mir, wie Sie denken können, ganz unbekannt, und es lässt sich aus dem Titel nicht schliessen, welcher der Inhalt sei. Es wird aber gewiss in Holland ein Exemplar des Buches zu finden sein.


1 Zwei noch unveröffentlichte Briefe Hendrik Cornelius Rogges (1831-1905) an Schuchardt aus dem Jahr 1882 (Briefnummern 09704, 09705) sind im Nachlass Schuchardts erhalten.

2 Von Marinus Fredrik Andries Gerardus Campbell (1819-1890) liegen keine Briefe im Nachlass Schuchardts vor.