Hugo Schuchardt an Matthias de Vries (04-3)

von Hugo Schuchardt

an Matthias de Vries

Graz

09. 07. 1882

language Deutsch

Schlagwörter: Literaturhinweise / bibliographische Angaben Publikationsversand Morphologie Phonetik Syntax Literaturbeschaffung Biographisches Reisen Flexion / Wortformenbildung Tempus und Temporalität Sprachkontakt (allgemein) Sprachen in Südafrikalanguage Französischlanguage Portugiesischlanguage Deutschlanguage Namalanguage Malaiischlanguage Niederländischlanguage Niederländisch außerhalb Europaslanguage Zentral-Khoisan-Sprachenlanguage Afrikaans Bad Alexandersbad Bruwer, J. P. van S. (1972) Mallinger, Lena (2012) Zuidema, (1912) Pagel, Julius (1901)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Matthias de Vries (04-3). Graz, 09. 07. 1882. Hrsg. von Jörg Ahlgrimm-Siess und Johannes Mücke (2013). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1073, abgerufen am 03. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1073.


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Graz, 9 Juli 1882.

Verehrtester Herr Kollege!

Ich sage Ihnen meinen besten Dank für Ihren gestern mir zugekommenen Brief. DieAntwort hatte ich nicht so rasch erwartet und desshalb vorgestern einen zweiten Briefmit einigem Detail - da inzwischen des Changuion habhaft geworden war - an Sieabgeben lassen. Wie darin bemerkt ist, hat es mit der Beantwortung durchaus keineEile. Die litterarischen Nachweise, die Sie mir geben (auf Tromp war ich schonaufmerksam gemacht worden), sind mir sehr erwünscht. Ich werde heute noch an HerrnDr. Brill schreiben.1 Für das Anerbieten des Werkchens|2| vonIhrem Namensvetter bin ich Ihnen sehr verbunden.

Soviel ich aus Changuion ersehe, finden sich nur wenig portugiesische Elemente im Kapholländischen; verschiedene französische, die aber vielleicht in Hollandselbst ebenso verbreitet sind (wie makénen = manquer); aber merkwürdiger Weise ziemlich viel hochdeutsche.

Was mir zuerst afrikanisch darinvorgekommen, die Flexionslosigkeit im Praesens, erklärt sich aus rein phonetischenUrsachen; wohl aber scheinen Wendungen wie ik is jammer voorjou, ichbemitleide Euch, Hottentottismen2 zu sein oder vielmehr auf Rechnung einesunarischen Bau zu kommen; denn wenn ich nicht irre, sagt der malaiische Batavierebenso.

Es ist durchaus zu billigen, dass die Holländer reges Interesse an der Erhaltungihrer Sprache und Litteratur in Südafrika nehmen; Sie wissen, dass wir Deutschenhierin|3| durchaus mit den Holländern gegen die Engländersympathisiren. Neulich schickte mir Dr. Theophilus Hahn3 den Schluss eines wissenschaftlichen Vortrags,den er in der Kapstadt gehalten hat und welcher in einem durchaus unedlen undunmotivirten Angriff auf die holländische Sprache besteht - Er wurde desshalb sogarvon dem englischen Vorsitzenden gerügt. Ich habe ihm auch meine Meinung, die er zuwissen wünschte, unverblümt gesagt. Sollten Sie diese Expectoration4 nicht kennen und doch zu kennen wünschen, so schicke ichIhnen die Zeitungsnummer gern zu.

Da ich sonst durchaus keine Beziehung zu Holland habe, so erlaube ich mir eine Bitte,die ich Ihnen gegenüber schon ausgesprochen habe, noch zu verallgemeinern und hoffenicht sie dadurch lästiger zu machen. Wegen der Beschaffung|4|des Materials für meine kreolischen Studien (sowohl an Büchern wie an Mittheilungen)stehe ich zwar mit Surinam und Curaçao in Verbindung; aber dieselbe lässt noch zuwünschen übrig. Wenn Sie zufällig - die Gelegenheit leistet auch in der Wissenschaft oft die besten Dienste - aufAdressen oder Büchertitel, die mir nützlich sein könnten, stossen sollten, so bitteich Sie, sich meiner freundlichst zu erinnern. Ich bin auf der Jagd nach einigen inHolland gedruckten Schriften, die mir auch Nijhoff5 in Haag (doch wohl Ihr bester Antiquar?) nicht hatverschaffen können. Für die nördlichen niederländisch-westindidischen Inseln(S. Eustathius, S.Martin und Saba) habe ich keine Adresseund dürfte mir auch kaum anders eine solche verschaffen können, als dass ich mich -was ich jedoch nicht mag - an das Colonialministerium wendete. So schreibe ich heuteauf gut Glück an den Prediger in S. Eustathius, um zu wissen, ob sich dort nicht etwaebenso ein Negerholländisch entwickelt hat, wie auf den dänischen Inseln.6 - Wenn Runge7 in Nassau noch lebte, so würde ich wahrscheinlichheuer wieder dort sein (wie im vorigen Jahre) und so das Vergnügen haben, Ihrepersönliche Bekanntschaft zu machen. Statt dessen reise ich in etwa 10 Tagen nachAlexanderbad im Fichtelgebirge, wo mich Briefe treffen würden.

In vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebenster

HugoSchuchardt


1 Das SchreibenSchuchardts an JohannesBrill konnte noch nicht aufgefunden werden. Die Antwort Brills vom23. August 1882 liegt noch unveröffentlicht im Nachlass Schuchardts (Briefnummer01374). Darinschreibt Brill, er habe das Schreiben Schuchardts „vom 9. Juli“ erhalten. Brillschreibt ferner, dass er keine Grammatik über das Kapholländischeverfasse, gibt aber Auskunft über die Verbreitung des Afrikaans in Südafrika,dessen relative Einheitlichkeit und über den seiner Meinung sehr geringen Einflusslokaler SprachenSüdafrikas oder der Sprachen malaiischer Sklaven auf dasAfrikaans.

2 DerBegriff Hottentotten wurde von den Buren als Sammelbezeichnung für die inSüdafrika und Namibia lebende Völkerfamilie der Khoi Khoi verwendet. Die für Khoisan-Sprachentypischen Klick- und Schnalzlaute (ingressive Verschlusslaute) verglichen dieniederländischen Siedler mit Gestotter. Ein Stotterer wird im nördlichen Dialektdes Afrikaans hottentots genannt(Bruwer1972).

3 Johannes TheophilusHahn (1824-1904) war Bibliothekar, Philologe und Sprachforscher inSüdafrika. Zur Korrespondenz zwischen ihm und Schuchardt vgl. Mallinger(2012).

4 Unter Expektoration versteht man in derMedizin das Abhusten und Entleeren von Auswurf aus den Atemwegen und auch denAuswurf selbst.

5 Martinus Nijhoff(1826-1894) war Antiquar und Verleger. In seinem 1853 gegründetenUnternehmen erschien unter anderem auch das WNT (Zuidema1912).

6 Die damals dänischen und heuteu.s.-amerikanischen Jungferninseln Saint Thomas, Saint John und Saint Croix.

7 KarlFriedrich Ferdinand Runge (1835-1882) war deutscher Mediziner undMilitärarzt. Der Hydrotherapeut wurde 1867 Leiter der Wasserheilanstalt inNassau an der Lahn (Pagel 1901:Sp. 1451).

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