Hugo Schuchardt an Lajos Katona (443-05067_475)

von Hugo Schuchardt

an Lajos Katona

Graz

20. 04. 1910

language Deutsch

Schlagwörter: Ethnologische Mittheilungen aus Ungarn Koloman Mikszáth (1903)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (443-05067_475). Graz, 20. 04. 1910. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10629, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10629.


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G., am Tage nach dem Hall. Kometen1
[20.4.1910]

Lieber Freund,

Egszer volt hol nem volt2 - gestern als ich Ihren Brief empfing, hatte ich mir gerade vorgenommen Ihnen zu schreiben. Der Anlaß dazu war folgender. Obwohl ich kein Greis bin der von seinen Erinnerungen „zehrt“, so besitze ich doch ein sehr dankbares Gefühl für Alles und Alle welche je zu meiner Freude oder Erheiterung beigetragen haben. Bei meinem ersten Besuch in Budapest lernte ich eine Menge von Menschen kennen; vor Andern – nicht unter Andern auch Sie. Mit manchen blieb ich in irgend einer Beziehung; manche |2| waren aber nur vorübergehende Bekanntschaften. Dazu gehörte auch Mikszáth K.,3 mit ihm und andern (ich entsinne mich nur des Adv. Dr. Takács †)4 habe ich manche Stunde verlumpt. Eines Abends kneipten wir zu viert (oder zu dritt) in der „Königin von England“ zusammen (lauter Junggesellen); wir tranken Brüderschaft miteinander und versprachen uns wenn wir heirateten, der Hochzeit des Andern beizuwohnen – ich weiß nichts mehr von den Andern, einer war ein Abgeordneter serbischer Nationalität. Mikszáth konnte nicht viel mehr deutsch, als ich damals madjarisch; und so war natürlich von |3| einem seelischen Austausch nicht die Rede. Nun habe ich aber immer seine Novellen mit grossem Genuss gelesen, meistens allerdings in deutscher Sprache,5 wie auch die Romane von Jókai;6 aber ich habe die damals beiden Schriftstellern gemachte Zusage doch gehalten: ich würde sie einst auch in ihrer Muttersprache lesen. Nun erfahre ich vor längerer Zeit aus den Zeitungen daß M. in diesem Jahre seinen sechzigsten feiere und beschloß damals ihn wenn der Tag gekommen wäre, telegraphisch zu beglückwünschen. Aber ich vergaß den Tag [jetzt schaue ich nach und finde den 19. Jänner 1909 |4| angegeben - ??] und nun las ich gerade gestern in der N. Fr. Pr. vom vorhergehenden Tag ein Feuilleton von S. Radó über Mikszáth. Hätten Sie also, lieber alter Freund, die Güte, Mikszáth – wenn Sie überhaupt mit ihm „stehen“ und Gelegenheit haben ihn zu sehen – meine Teilnahme an seinem Jubiläum (und insbesondere an dem Erwerb eigenen Grund und Bodens) zu übermitteln? Vielleicht ist der Komet schon vorübergegangen; ich bin ein so kalenderloser Mensch dass ich alle wichtigen Daten zu versäumen pflege und mich nur durch starke Verfrühung zu retten vermag. Meine besten Freunde hier, Bauers,7 feiern gegen Ende Juni ihre silberne Hochzeit; ich habe schon vor einer Woche Geschenk und Verse erledigt. Mein Gedächtnis ist zwar nicht so schlecht daß ich mir Monatstage |5| nicht merken könnte (übrigens verwechsle ich sehr gern Juni und Juli), aber die Haupthemmung für mein Mitfeiern besteht darin daß ich gemeiniglich nicht weiß wann ich lebe oder vulgär gesprochen den wievielsten wir haben.

Elég azzal!8Das sollte nur der Anlaß sein um wieder einmal von Ihnen zu hören, von Ihrem und der Ihrigen befinden und von Ihren Ferienplänen. Und nun zum Anlaß Ihres Briefes. Wenn Sie nicht wissen wo die Geschichte, die ich meine, steht, dann ist die Sache allerdings hoffnungslos. Aber ich muß bemerken daß Sie, wahrscheinlich infolge meiner nicht hinlänglich klaren Darstellung auf der Karte an Simonyi, den Kern nicht ganz erfaßt haben. Es handelt sich gar nicht um die etymologische Bedeutung von Wörtern (esö)9,|6| sondern das Verhalten der Muttersprache zu den fremden Sprachen. Der naive Deutsche sagt: „Das ist Wein, der Ungar nennt es bor, der Italiener vino“ usw. Wort und Sache fallen geradezu für den Einsprachigen zusammen, die Vielheit der Benennungen leuchtet ihm nicht recht ein und ebensowenig daß ist mehrfachen Sinn hat. Ich erinnere Sie an das berühmteste ist, das ἐστί der Abendmahlseinsetzung.10

Ich danke Ihnen auch für das Gedruckte; man muß immer seiner ersten Liebe gedenken, das erhält jung.

Mit herzlichstem Gruss an Sie und die Ihrigen
Ihr getreuer
HSchuchardt

Bitte um Nachsicht für das sehr eilig sehr Geschmierte.


1 Der Periheldurchgang des Halleyschen Kometen fand in diesem Jahr am 20. April statt.

2 „Es war einmal, und es war doch nicht“.

3 Kálmán Mikszáth (1847-1910), ungar. Schriftsteller; vgl. HSA 07381. – Er verstarb am 28. Mai 1910 in Budapest; sein Geburtstag war der 16. Januar 1847; offenbar geben andere Quellen als Geburtsjahr 1849 an.

4 Istvan Takács, Jurist in Budapest, Anwalt und Angesteller der Akademie.

5 Ungarische Novellen von Koloman Mikszáth. Aus d. Ungar. v. C. Langsch. Mit Ill. von W. Roegge ; Ill., Berlin: Hillger, [1903], (Kürschners Bücherschatz; 370).

6 Mór (Maurus, Mauritius) Jókai / Jókay Móritz (1825-1904), ungar. Schriftsteller und Journalist, Akademie-Mitglied, vgl. Anzeiger der Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns I, 1, 1890, 1-2: „Die Gesellschaft für die Völkerkunde Ungarns ist aus den Bestrebungen hervorgegangen, zu denen die unmittelbare Anregung die im Jahre 1887 gegründete Zeitschrift ,Ethnologische Mitteilungen aus Ungarn‘ gegeben hat. Die statutenmässige Aufgabe der Gesellschaft ist: das Erforschen der jetzigen und einstigen Völker des ungarischen Staates und des historischen Ungarns, ferner auf Grund gegenseitigen Kennenlernens die Pflege der geschwisterlichen Eintracht und des Gefühles der Zusammengehörigkeit unter den im Vaterland lebenden Völkern.- Die Gesellschaft, die ihre Tätigkeit im Herbst 1889 mit etwa 500 Mitgliedern begonnen hat, hält monatliche Vortragssitzungen ab und gibt als Amtsorgan […] die Monatsschrift , Ethnographia‘ heraus“.

7 Adolf Bauer (1855-1919), Althistoriker in Graz (später Wien); er war seit 1885 mit Amalie (gen. Mela), Tochter des Obersten Emanuel Smekal, verheiratet.

8 „Das reicht!“

9 „Regen“.

10 Lk. 22, 19: τοῦτό ἐστιν τὸ σῶμά μου.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_475)