Hugo Schuchardt an Lajos Katona (347-05067_416)

von Hugo Schuchardt

an Lajos Katona

Kairo

29. 04. 1903

language Deutsch

Schlagwörter: Todesfälle Letterio Di Francia (1902) Bernát Munkáksi (1896)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (347-05067_416). Kairo, 29. 04. 1903. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10534, abgerufen am 16. 07. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10534.


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Grand Contintental Hotel
Cairo, 29 April 1903

Lieber Freund!

Gestern erzählte mir mein Araber (ein Hiesiger) eine Anekdote die mich wegen Anklangs an eine mir dunkel vorschwebende interessirte und die ich hier zu Papier bringe, vielleicht dass Sie sie irgenwie verwerten können. Etwa in irgend einer – abgekürzten, erweiterten – Gestalt, mit einer Anfrage ob Entsprechendes in Ungarn bekannt o. ä. in der >Ethnographia.

Zu einem Geizhals auf dem Land kommt um die Zeit des Mittagessens ein Gast, d. h. kein geladener, sondern ein Fremder der auf Gastfreundschaft rechnet. Diese wird ihm aber nicht zu teil; der Herr des Hauses lässt ihn stehen und zieht sich in sein Gemach zurück um hier allein zu speisen. Der Andere wartet einige Zeit vergeblich, dann schickt er ihm folgende zwei Verse hinein: |2| [es folgten zwei Zeilen in arabischer Schrift, die dann lateinisch transkribiert werden]

Ga ‘alt qôli nuṣḥan liḥâlî:
iḫzif illâmên; tifham su‘ âlî.

„ich habe mein Wort zum (guten) Rat für mich gemacht; nimm die beiden Lâm [L] weg; du wirst meine Frage verstehen“. Wenn in den ersten beiden Wörtern die beiden L beseitigt werden, so erhält man

[es folgen zwei arabische Worte]

gu’t qawî

„ich bin sehr hungrig“. Vielleicht kennen Ihre Orientalisten diese Anekdote, so oder in einer andern Gestalt. Bruchstücke einer entsprechenden, bei der es sich aber um eine Schrift (gestr. Rede) und Rückschrift (gestr. Gegenrede) handelt und wie ich glaube, Friedrich d. Gr. eine der Personen ist, sind mir aus meiner Schülerzeit erinnerlich

>G a

G grand, a petit = j’ai grand appétit.

p

Und auf der andern Seite war von einem Souper die Rede : ….. = sous pé.

Diese Anekdote würde ich so bestimmen: Genus : Verschleierte Bitte, Species: Verschleierung in Schriftzeichen, Suspecies: Gegenstand der Bitte eine Mahlzeit.

Bei dieser Gelegenheit will ich ein neues, wenngleich nicht besonders glänzendes Beispiel dafür mitteilen wie Anekdote und wirkliches Geschehen zusammen= |3| stossen. Ich entsinne mich mit vielem Vergnügen eines Bildes in den >Fliegenden Bl. auf welchen ein angezechter Dorfschulmeister der seinen Heimweg durch eine Pappelallee zu machen hat, über jeden Schatten einer Pappel – es ist Mondschein – hinwegspringt, und dabei ausruft: Nein, was aber hier für viele Gräben sind. Vor einiger Zeit erzählte mir ein Herr eine lange Geschichte von einer Dame die bei Mondschein in den Tempelruinen von Karnak zu Schaden gekommen war; sie war über die Schatten der Säulen hinweggesprungen die sie für Gräben oder dergleichen gehalten.

Kennen Sie – bei Anekdoten darf einem ja Sacchetti einfallen – das Buch von Letterio di Francia Fr. Sacch. Novelliere Pisa 1902 (340 S.)?1 Der Verf. ist ein ganz junger Mann, ist hier Lehrer; es ist ein Schüler Rajnas der ihn veranlasste mich aufzusuchen. Das Buch, das er mir in diesen Tagen gebracht hat, macht mir einen sehr guten Eindruck. Auch G. Paris – an den ich |4| jeden Tag denke2 soll sich günstig darüber geäussert haben.

Ásboth3 hat sich mit Feuereifer auf das Georgische gestürzt, zunächst wohl auf Munkácsi.4 Feindschaft und Liebe gehen ja so oft miteinander. Er machte mir eine Andeutung als ob er schon etwas in dieser Hinsicht veröffentlicht hat. Nun das werde ich wohl zu Hause vorfinden.

Haben Sie je mit Alecsi Gy.5 über mich gesprochen? Ich möchte so gern wissen ob ich ihn ohne zu wollen, irgendwie gekränkt habe.

Ich werde am 3. Mai mit dem nach Genua gehenden „Rhein“ Ägypten verlassen.

Herzlichst Ihr und der Ihrigen
HSchuchardt


1 Letterio Di Francia, > Franco Sacchetti novelliere, Pisa: Nistri, 1902, 342 S. (S.-Abdr.aus: Annali della R. Scuola Normale Superiore di Pisa, Vol.XVI). Di Francia (1877-1940) arbeitete sich aus einfachen Verhältnissen zum Gymnasiallehrer hoch und konzentrierte sich in seinen Publikationen auf die italienische Novellistik. Eine akademische Karriere blieb ihm verwehrt. Er unterrichtete u. a. in Tunis und Shkodër (Scutari).

2 Schuchardt hatte vermutlich von seinemTod am 5. März 1903 in Cannes erfahren.

3 Oszkar Asbóth (1852-1920), ungar. Slawist; vgl. HSA 00176-00200.

4 Bernát Munkáksi, > A votják nyelv szótára; Lexicon linguae Votiacorum, Budapest; Franklin-Társulat Nyomda. 1896 [Das Votiakische gehört zu den finno-ugrischen Sprachen].

5 Gem. ist wohl György Alexics (1864-1936), ungar. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 00031-00046.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_416)