Hugo Schuchardt an Lajos Katona (113-05067_265)

von Hugo Schuchardt

an Lajos Katona

Graz

06. 07. 1889

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (113-05067_265). Graz, 06. 07. 1889. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10300, abgerufen am 09. 12. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10300.


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Graz, 6 Juli 89

Lieber Freund,

Ich würde wahrscheinlich bei meiner Auslassung über die Herkunft von Armande Béjart mich schon auf Mahrenholtz1 bezogen haben; aber obwohl Dietrich2 mir seiner Zeit die rasche Zurückstellung der Molièrebücher gemeldet hatte, so hatte er vergessen mir sie einzuhändigen und ich sie von ihm zu verlangen. Bei Mahrenholtz finde ich nichts was ich nicht schon berücksichtigt hätte; leider kenne ich Loiseleur,3 auf den er sich bezieht, nicht. |2| Was ich nun heute, ohne die Frage von Neuem und mit neuen Hülfsmitteln zu studiren, sagen kann, ist Folgendes.

1) Von unserem alten Rost4 hörte ich zuerst dass wenn eine dunkle und unwahrscheinliche neben einer klaren und vorherrschenden Lesart stünde, die erstere genuin die echte sei.5 Ich glaube nicht dass das in der Textkritik immer zutrifft, wohl aber dass es sich auf unseren Fall anwenden lässt. Wenn die Mutter Béjart in ihren alten Tagen noch eine Tochter bekam, so war das unwahrscheinlich genug dass eine geringere Klatschsucht als sie zu Lebzeiten |3| Molières gegen ihn herrschte, diese Tochter zur Enkelin stempelte. Wenn aber Armande Madeleine’s Tochter war, und dies verheimlicht werden sollte, so hätte man doch gewiss eine wahrscheinlichere Kombination finden können, als die welche sie zu ihrer Schwester zu machen. Was Ihnen, Mahrenholtz u. s. w. unglaublich vorkommt, das musste doch den Zeitgenossen, die die Familie Béjart persönlich kannten, noch unglaublicher vorkommen. Wie konnte man denn daran denken, denen Sand in die Augen zu streuen?

2) Unwahrscheinlich mag die Mutterschaft Marie B.‘s an sich genommen vielleicht sein. |4| Keinesfalls unmöglich; und meiner Ansicht nach, nicht allzu unwahrscheinlich. Dass dieser – physiologische – Punkt der Hauptpunkt ist, darin stimme ich mit Ihnen überein. Ich werde mit Ärzten darüber reden. Vorderhand bemerke ich, daß die Behauptung Mahrenholtz's: „eine solche Spätgeburt nach einer Ruhezeit von 12 Jahren gehöre zu den physiologischen Unmöglichkeiten“ mir ausserordentlich kühn vorkommt. Die Ruhezeit thut meines Wissens gar nicht zur Sache, ich entsinne mich solcher Fälle, in denen weit längere Intervalle vorgekommen sind.6 Geburten kommen wohl, wenn auch nicht mit zunehmender und schliesslich ausserordentlicher Seltenheit bis in die Mitte der 50 er Jahre vor. Worauf die Annahme dass die Marie |5| Béjart bei der Geburt der Armande 52 oder 53 Jahre alt war, beruht, kann ich augenblicklich nicht feststellen. Aber eine Altersdifferenz, wie zwischen Josephe B. und Armande B. – 26 Jahre – kommt keineswegs selten vor. In Montreux haben meine Mutter und ich eine Engländerin (Mrs. Robinson) kennen lernen, deren ältestes Kind – ein Sohn – 40 Jahre, das jüngste eine Tochter – 16 Jahre alt war. Eine Freundin meiner Mama, deren ältester Sohn etwa in meinem Alter ist, bekam in sehr späten Jahren eine Tochter (sie ist, denk‘ ich, jetzt 23 Jahre); als dieselbe geboren wurde, war das nächstvorhergehende Kind, ebenfalls eine Tochter, schon ein Backfisch, also die Differenz so gross oder grösser wie die zwischen Louis Béjart und Armande B. |6| Mahrenholtz sagt nämlich, Louis Béjart (1630) sei das letzte Kind der Marie B. gewesen; wie steht es denn mit Bénigne Madelaine (Soulié S. 31)7 vom Jahre 1639, die bald wieder starb und der Armande nur 4 Jahre voraus war?

3). Endlich scheint es mir doch wunderbar dass man eine doppelte Fälschung und zwar zweier fast zwanzig Jahre auseinander liegender Dokumente (1643 und 1662) annehmen muss. Dass die Motive der ersten Fälschung „nicht unbedingt klar“ sind gesteht Mahrenholtz selbst ein. |7| Wie gut hätte vor Gericht die „petite non baptisée“ unerwähnt bleiben können, ohne dass deshalb von den Bekannten der Familie diese Kleine als Kind der Madeleine betrachtet wurde. Es konnte ja irgend eine sonstige „Seiten“verwandte sein, z.B. eine Tochter von Joseph B. u. sw.

Ich schreibe in fliegender Eile um Ihren Wunsch zu befriedigen; aber da ich nun einmal wieder angeregt worden bin, komme ich doch vielleicht auf diese Sache noch einmal in der Öffentlichkeit zurück.

|8| Es ist übrigens eine reine Kuriosität und schon desshalb hätte sie vielleicht in einer derartigen Molière-vorlesung nicht verdient hervorgehoben zu werden und noch weniger in einer so entschiedenen Form. Es gibt Leute die nur dergleichen aus einer Vorlesung mit nach Hause nehmen. – Ich bitte Sie, mir Ihre Gegenargumente mitzutheilen. Für Ihr Anerbieten bezüglich der Uebersetzung meiner Arbeit bin ich Ihnen von Herzen dankbar;8 seine Annahme seitens Szarvas würde mich sehr befriedigen. Mit besten Grüssen

Ihr ergebener

HSchuchardt


1 Richard Mahrenholtz, Molière - Einführung in das Leben und die Werke des Dichters , Heilbronn: Henninger, 1883. Vgl. hier HSA 05373 (3.7.1889).

2 Adolphe Dietrich; vgl. HSA 02307.

3 Jules Loiseleur, Les points obscurs de la vie de Molière; Les années d'étude; Les années de lutte et de vie nomade; Les années de gloire; Mariage et ménage de Molière , Paris: Liseux, 1877.

4 Reinhold Rost (1822-1896), Orientalist und Bibliothekar in Graz; vgl. HSA 09772-09797.

5 Prinzip der sog. lectio difficilior.

6 Die Schauspielerin Madelaine Béjart war seit 1642 die Weggefährtin Molières. Sie wurde 1618 in Paris geboren, ihre Brüder Joseph 1616, Louis 1630, ihre Schwester Geneviève 1624, und besagte Armande 1642. Die Zweifel, ob Armande nicht ihre und Molieres Tochter waren, bestehen bis heute.

7 Eudore Soulié, Recherches sur Molière et sur sa famille , Paris: Hachette, 1863.

8 Vgl. Brief Ms 5067/265.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_265)