Hugo Schuchardt an Lajos Katona (99-05067_257)
von Hugo Schuchardt
an Lajos Katona
16. 05. 1889
Deutsch
Schlagwörter: Aphasie
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (99-05067_257). Graz, 16. 05. 1889. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10286, abgerufen am 18. 11. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10286.
Graz, 16 Mai 89
Lieber Freund!
Sie gehören unter die Encyclopädisten; ich beantworte Ihren klaren und umfassenden Bericht über einen Gegenstand der in eine Ihnen vermuthlich bisher fremde Sphäre fällt. Ich danke bestens.1
Da der Patient* (* man müsste suchen später von ihm eine genaue Beschreibung seines innern Zustandes zu erhalten)2 glücklicher Weise auf dem Wege der Besserung ist so wird nicht viel mehr zu beobachten sein. |2| Das allmähliche Zurückkehren der Sprechfähigkeit zu verfolgen wäre sehr interessant gewesen. Dass die anfänglich gebrauchten Worte nur igen und nem3 gewesen sind, ist sehr bemerkenswerth. Wir hatten hier einen Kutscher, der sich eine Kugel von hinten in den Kopf geschossen hatte, die zwischen Schädel und Hirnhaut stecken geblieben war. Er hatte wohl, nicht in Folge der Wunde, sondern in Folge der angewandten Heilverfahren, vorübergehend die Sprache verloren; wir konnten aus ihm gar Nichts heraus- |3| bringen als ein leises ja und nein. Die von Ihnen registrirten Erscheinungen gehören in das Gebiet der Paraphrasie und Paragraphie, weisen also auf eine Unterbrechung der Leitung zwischen dem sensorischen und motorischen Centrum hin. Auf diese würde also die anfänglich auf das motorische Centrum ausgedehnte Unterbrechung (vollständige, Broca’sche Agraphie)4 zurückgegangen sein. Man pflegt Sprachkranke auf folgende 8 Punkte zu prüfen:
1) willkürliche Sprache (Benennung vorgelegter Gegenstände – Berücksichtigung der Mehrsprachigkeit)
|4| 2) Nachsprechen (können einzelne Worte oder auch längere Sätze wiederholt werden? kann der Kranke ein einzelnes Zahlwort nicht hervorbringen, wohl aber in der ganzen Reihe?)
3) Lautlesen.
4) willkürliche Schrift (man frägt ihn wie er heisst, wie alt er ist u.s.w.)
5) Dictatschreiben (von Ihnen vorgenommen)
6) Sprachverständnis
7) Schriftverständnis
8) Copiren einer Vorlage.
Die Ärzte pflegen auf diese Dinge weniger Gewicht zu legen weil sich allerdings für die Aetiologie und die Therapie kaum etwas daraus gewinnen lässt. Was die erstere anlangt so scheint es nur sehr |5| wesentlich zu sein dass die Sprachstörungen schon ein Jahr vor dem (vorübergehenden) Verlust des Sprachvermögens aufgetreten sind. Das macht wohl die eine und die andere der Ursachen an die man denken kann, unwahrscheinlich. Ich werde Ihnen sehr verpflichtet sein wenn Sie die Sache im Auge behalten wollen. Ich denke über kurz oder lang einmal das Kussmaul’sche,5 von Lichtheim6 verbesserte Schema der Sprachleitung vom sprachwissenschaftlichen oder viel mehr psychologischen Standpunkt aus zu prüfen; ich denke es werden |6| weitere Modifikationen daran anzubringen sein.
Pogatscher7 ist endlich zum Extraordinarius für englische Philologie in Prag ernannt worden.
Meine Mama ist gestern glücklich hier angekommen.
Empfehlen Sie mich Ihren treuen Pflegerinnen.
Herzlichst
Ihr
Hugo Schuchardt
in Eile!
1 Es geht um Katonas detaillierten und sachkundigen Aphasie-Bericht; vgl. Brief HSA 05367.
2 Julius Nagy, vgl. Brief Ms 5067/256.
3 „ja“ bzw. „nein“.
4 Paul Broca (1824-1880), franz. Arzt und Hirnforscher; vgl. z. B. „ Perte de la parole, ramollissement chronique et destruction partielle du lobe antérieur gauche ," Bulletin de la Société d'Anthropologie 2, 1861, 235-238.
5 Adolf Kussmaul (1822-1902), deutscher Arzt, beschrieb 1877 die totale sensorische (kortikale) Aphasie.
6 Ludwig Lichtheim (1845-1928), deutscher Arzt, veröffentlichlte 1884 die Auffassung der Trennung zwischen Zentren Hirnrinde und der sie verbindenden Nervenbahnen, die isoliert voneinander geschädigt werden können (wikipedia).
7 Alois Pogatscher (1852-1935), österr. Anglist; vgl. HSA 08889-08959.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_257)
