Hugo Schuchardt an Lajos Katona (88-05067_251)

von Hugo Schuchardt

an Lajos Katona

Friedrichroda

25. 09. 1888

language Deutsch

Schlagwörter: Ethnologische Mittheilungen aus Ungarn Universität Heidelberg Föherezeg, József (1888) Pogatscher, Alois (1886) Sachs, Karl (1882)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (88-05067_251). Friedrichroda, 25. 09. 1888. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10275, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10275.


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Friedrichsroda 25 Sept 88

Geehrter Freund,

Wenn Herr Munthe sich um Sie verdient gemacht hat,1 so gewiss auch um mich, indem er mir Nachricht von Ihnen verschaffte. Er hat mir übrigens mit überschwänglichen Worten dafür gedankt dass ich seinetwegen an Sie geschrieben habe.

Zu Ihrer pekuniären Erhöhung würde ich Ihnen aus vollem Herzen Glück wünschen, wenn sie nicht mit einer grösseren Arbeitslast verbunden wäre. Unter diesen Umständen kann ich Ihnen nur em- |2| pfehlen sich mit allen Kräften vor Zersplitterung Ihrer wissenschaftlichen Thätigkeit zu hüten und selbst durch den Wunsch Andern zu dienen sich nicht vom geraden Wege ableiten zu lassen. Es ist merkwürdig wie sehr Herrn Szarvas an einer Revision der Körösischen Arbeit liegt.2 Ich hatte ihm eine solche halb und halb zugesagt, bin aber nicht dazu gekommen. Ohne ital. und deutsche Dialektwörterbücher können Sie Nichts machen und die können wir in Graz auch nicht entbehren. Davon dass Sie die Uebersetzung der erzherzoglichen Zigeunergrammatik besorgen würden,3 hatte mir schon Prof. Thewrewk welcher mehrere Tage – mit Familienangelegenheiten in Graz zubrachte – gesprochen. Das ist auch ein sehr undankbares, aber vielleicht einträgliches Geschäft. – Was ich mit dem „geraden Weg“ meine kann Ihnen nicht |3|zweifelhaft sein, es ist der den Sie einmal eingeschlagen haben und zwar mit Glück, den folkloristischen. Und da will ich Ihnen denn nun einen Gedanken ans Herz legen, mit dem ich mich schon lange trage. Die heutige Folkloristik ist Nichts als „disjecta membra“; die periodischen Veröffentlichungen nehmen erstaunlich zu (kürzlich bekam ich das zweite Heft von dem Journal of American Folklore, das mich besonders interessirt) die Sammlungen gehen fort. Aber es fehlt immer noch eine Einleitung, ein Handbuch, ein Kompendium, ein Katechismus oder wie man es nennen will dieser Wissenschaft – und das wäre um es nebenbei zu sagen, auch vom buchhändlerischen Standpunkt ein sehr empfehlenswerthes Unternehmen. Schon vor Jahren suchte ich meinen Freund R. Köhler4 darauf zu hetzen; aber er ist ganz Detailmensch und macht immer weniger. |4| Dann dachte ich Prof. G. Meyer würde auf diese Aufgabe verfallen; er besitzt so ausgedehtnte Kenntnisse und eine ausserordentliche Technik, freilich fehlt es bei ihm an Speculation – die hier doch in Betracht kommt – und er würde daher wohl kaum originelle Gesichtspunkte aufstellen. [# Gaston Paris scheint seit langem etwas ähnliches geplant zu haben; bei einem Diner in Bologna,5 wo ich zwischen Wesselofski6 und Carducci und ihm gegenüber sass, sprach er davon; aber ich denke, er ist mit so Vielem beschäftigt, dass er vorerst nicht gerade hierzu kommen wird.] Bei Ihnen scheinen mir die Bedingungen zu einer derartigen Arbeit vereint; nur dass Sie Ihrem etwas rhetorischen Stil ganz entsagen müssten, im Gegentheil sich einer fast monumentalen Kürze bedienen. Sie brauchten auch nicht immer über den Büchern zu hocken; die Hauptsache wäre die Verarbeitung und Anordnung Ihnen schon vertrauten Materials. Kurze Beispiele für das Einzelne könnten Sie aus dem Ihnen Zugänglichen entnehmen und Sie hätten nur auf diejenigen Veröffentlichungen Rück- |5| sicht zu nehmen, welche in methodischer Beziehung bemerkenswerth sind, also nicht auf Märchensammlungen schlechtweg, so interessant sie auch sein mögen, sondern nur auf solche die in Einleitung und Kommentar irgend welchen innern Fortschritt aufweisen. Was die Klassifikation der Märchen anlangt, so findet sich m. A. eine solche in einem frühen Jahrgang des Londoner Folklore Record7 (ich weiss nicht ob Sie denselben zur Hand haben). Wenn Sie freilich einmal zwei oder drei Monate in Weimar zubringen könnten, da hätten Sie Alles beisammen! Einen Verleger wollten wir schon finden. Es thut mir – das fällt mir nur beiläufig ein – sehr leid dass Baron Andrian8 nichts wieder hat |6| von sich hören lassen. Ich wollte ihm in diesem Sommer in Aussee einen Besuch abstatten, bin aber nicht dazu gekommen. Wüsste ich dass er noch da wäre, so würde ich auf der Rückreise dort vorsprechen, ich gedenke die Route über München, wo ich u. A. Paul Heyse9 zu sehen hoffe, und Salzburg zu nehmen.

Vielleicht könnten Sie eine Unterstützung erlangen, wenn Sie ein solches Büchlein erst magyarisch veröffentlichten; die deutsche Uebersetzung könnte ja unmittelbar folgen. Mit dem magyarischen Chauvinismus müssen Sie doch in einer oder der andern Weise rechnen und hier wäre eine solche Rücksichtsnahme eine ganz unschuldige. Sie kennen |7| meine Sympathien für Ihre Landsleute; aber manchmal treiben sie es in dem Punkte etwas zu bunt; s. z. B. den Arader Pressprocess.10

Herrn G. Alessi = Alexics11 hat sich schon vor einiger Zeit bei mir angemeldet. Ich habe eben seine Recension von Réthys Buch12 im Budapester Szemle gelesen, bin aber obwohl ich das Buch selbst nicht kenne nicht durchaus mit ihm einverstanden. Wie kann man denn einem Buche über die Bildung der rumänischen Sprache und Nationalität eine epochemachende Bedeutung zuerkennen, dessen Verfasser „árulja el, hogy ö az oláh népet, nyelvet es népithet nem ismeri alaposar“ (p 14 des Separatabzugs)?13

Herr Dietrich14 wird mir Weiteres über Sie melden; er wird |8| Ihnen auch alle Grazer Neuigkeiten mitgetheilt haben, so die Habilitation Pogatschers, die mir zu besonderer Genugthhung gereicht hat.15

Gestern bekam ich von Baissac16 eine illustrirte Zeitung Le Mauricien 14 Juillet 1888, von glühendem französischen Patriotismus von einem Ende zum andern durchweht. Da findet sich auch eine Prière pour la Reine, in welchem die République universelle als Reine verstanden wird. Ich begreife die Sache nicht recht; sie haben zwar auf Mauritius keine Arader Gerichtshöfe, aber ob das für Baissac, den Président du Comité de Rédaction, der doch in englischem Staatsdienst steht (oder ist er vielleicht schon ausgeschieden?) gar keine Unannehmlichkeiten haben kann, weiss ich nicht. S. 15f. steht Le lièvre et la tortue kreolisch und französisch (mauricianischen Verhältnissen angepasst). – Rufino José Cuervo (Paris rue Meissonnier 3)17 fragte mich nach den spanisch-jüdischen Liedern in Herrmanns Mitth.18 – Verzeihen Sie mein Geschmiere, mein décousu. Mit besten Empfehlungen an Ihre Frau Mama

Ihr ergebenster

HS.

|9| Zweierlei fällt mir noch ein:

1. Für Sie wäre eine Bibliothekarstelle das Passendste. Wie schwierig jetzt dergleichen zu finden, wo man von der Pike auf und zwar zunächst ohne oder mit ganz geringer Besoldung dienen soll, das wissen Sie am besten. Doch habe ich neulich mit Leskien19 von Leipzig der in Graz war gesprochen: in einigen Jahren wird die Leipziger Bibliothek reorganisiert und vielleicht wäre dann Aussicht für Sie dort unterzukommen. Aber freilich Ihr Lehrergehalt, als solcher noch unbedeutend, würde |10| schwer als anfängliches Bibliotheksbeamtengehalt zu erlangen sein. Wenn Sie aber wollen, so bitte ich einmal meinen Freund Zangemeister in Heidelberg20 um einen Bericht über die Verhältnisse der deutschen Bibliotheksbeamten.

2. Den Sachs21 brauche ich zwar nicht augenblicklich; über kurz oder lang muss ich ihn aber doch wieder haben – kann er denn dort nicht angeschafft werden?


1 Vgl. HSA 05362 (20.9.1888).

2 József Körösi (1844-1906) war ein ungar. Statistiker und Organisator von Volkszählungen; um welche seiner Schriften es hier geht, konnte nicht ermittelt werden.

3 (Erzherzog Johann), Czigány nyelvtan. Románo csibákero sziklaribe irta József Föherczeg, Budapest: Akademia, 1888, XXIV & 377 S.

4 Reinhold Köhler (1830-1892), Bibliothekar in Weimar; vgl. HSA 05692-05729.

5 Schuchardt reiste im Juni 1888 nach Bologna, um am 13. d. M. einen Ehrendoktor entgegenzunehmen. Der Anlass war die 800-Jahrfeier der Universität; die Feierlichkeiten wurden von Giosuè Carducci (1835-1907), dem Literaturnobelpreisträger von 1906, organisiert.

6 Gem. ist der russische Slavist Alexander Wesselofsky (1838-1906), Prof. in St. Petersburg.

7 Charlotte Burne, „ Classification of Folk-Lore “, The Folk-Lore Journal 4, 1886, 158-163.

8 Ferdinand L. Baron Andrian-Werburg (1835-1914), Anthropologe, vgl. HSA 00108-00117.

9 Paul Heyse (1830-1914), deutscher Schriftsteller und Nobelpreisträger; vgl. HSA 04717-04722.

10 Vgl. Lutz Korodi, Siebenbürgen. Land und Leute , Bad Griesbach: Classic Library, 2017, 92.

11 György Alexi[cs] (1864-1936), ungar. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 00031-00049.

12 Alexi, Rez. von László Réthy, Az oláh nyelv és nemzet megalakúlasa , Budapest: Pallas észvénytársaság nyomdája, 1887 [= Die walachische Sprache und die nationale Gruppierung], Budapesti Szemle 136-138, 1888, 413-428.

13 „Der offenbart, dass er das Volk und die Sprache des Volkes nicht kennt“.

14 Der bereits mehrfach genannte Grazer Kommilitone Katonas, Adolphe Dietrich.

15 Der Anglist Alois Pogatscher wurde am 20.7.1888 in Graz auf Grundlage der Arbeit „Zur Lautlehre der griechischen, lateinischen und romanischen Lehnwörter“ habilitiert.

16 Charles Baissac (1831-1892), britischer Romanist und Kreolist französischer Herkunft; vgl. HSA 00454-00466.

17 Cuervo (1844-1911), kolumbianischer Romanist, der seit 1882 in Paris lebte; vgl. HSA 02068-02097; 02097A-02128; 02130-02183.

18 Anton (Antal) Herrmann (1851-1926), aus Siebenbürgen stammender Ethnologe; gem. sind die von ihm hrsg. Ethnologischen Mittheilungen aus Ungarn.

19 August Leskien (1840-1916), deutscher Slavist, zeitweise Schuchardts Leipziger Kollege; vgl. HSA 06419-06438.

20 Karl Zangemeister (1837-1902), Klass. Philologe, seit 1873 Oberbibliothekar an der Heidelberger Universitätsbibliothek; vgl. 12943-12965.

21 Karl Sachs, Encyclopädisches französisch-deutsches und deutsch-französisches Wörterbuch. 1. Französisch-deutsch, Berlin 1882 (Grosse Ausg. 4., nach der 7. Aufl. der Académie durchges. und verb. Stereotyp-Aufl.).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_251)