Hugo Schuchardt an Lajos Katona (55-05067_231)
von Hugo Schuchardt
an Lajos Katona
02. 06. 1887
Deutsch
Schlagwörter: Verlage Revue des Langues Romanes Kreolsprachen Broca, Paul (1875) Dietrich, Adolphe (1891)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (55-05067_231). Sare, 02. 06. 1887. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10241, abgerufen am 09. 12. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10241.
Sare (Basses Pyrénees)
2 Juni 1887.
Lieber Herr Doktor!
Ich danke Ihnen für Ihre Briefe. Dass Ihre Erwerbsquellen wieder versiegen, thut mir herzlich leid, wundert mich aber offen gestanden, in Anbetracht dass dieselben nur pädagogischer Art sind, nicht. Vielleicht liesse sich eine einträgliche Hofmeisterstelle finden; aber dafür sind Sie zu gut, und wären doch wiederum, indem Sie selbst das beständig fühlen würden, nicht gut genug. Das Einzige, was mir für Ihre Neigungen und Fähigkeiten – wenigstens für die nächste Zeit – zu passen scheint, ist die litterarische Thätigkeit. Ein materieller Erfolg von einigem Belang stellt sich daher freilich erst im Laufe der Zeit heraus. Indessen hoffe ich einerseits dass der Doktorhut der sich nun doch endlich auf Ihr Haupt senken muss, sehr dazu beitragen wird Sie bekannt zu machen, |2| anderseits denke ich dass Sie schon jetzt bei einiger Umfrage und Bemühung (vielleicht würde Ihnen Prof. Meyer, der in diesen Dingen viel praktischer ist als ich, mit seinem Rathe beistehen) – irgendwo gelegentlich oder dauernd für Ihre Feder Verwendung finden könnten. Unsere Zeitungen und Zeitschriften sind im Vergleiche zu denen anderer Länder, eine ziemlich reiche Mine; der beste Beweis dafür ist dass sie so viele so sehr mittelmässige Kräfte ernähren. Für den Anfang dürfte es Ihnen vielleicht nicht unangenehm sein, an irgend einer unscheinbaren Stelle Ihr schriftstellerisches Talent zu bethätigen, wie kleine Schulknaben bei der Erlangung allgemeiner Kenntnisse zu unterstützen. Es gibt z. B. so mancherlei encyclopädische Unternehmen; wäre denn nicht irgendwo ein Artikel über „magyarische Litteratur“ oder dergleichen zu haben? Auch unsere „Tagespost“, die nun freilich wieder in süsser Alleinherrschaft schwelgt, könnte von Zeit zu Zeit ein Feuilleton |3| von Ihnen über irgendeine litterarische Neuigkeit bringen. Sie müssten freilich* (* Ich habe seit lange beobachtet dass freilich und allerdings mir beständig in die Feder kommen; welche Schlussfolgerung liesse sich daraus betreffs meines Ideenganges ziehen?) etwas aus Ihrer Zurückhaltung heraustreten und dürften einen etwaigen Korb nicht scheuen. Trösten Sie sich mit Ihren grossen Pariser Freunden deren Anfänge ja zum Theil mit ganz unglaublichen Schwierigkeiten verbunden waren. Unternehmen Sie, ich bitte, keinen entscheidenden Schritt, treten Sie keinen Rückzug an ohne erst mich benachrichtigt zu haben.
Ich schreibe Einiges über mein hiesiges Leben heute Ihnen, da ich jetzt durch ernstes und anhaltendes Studium an allzu mannigfacher Korrespondenz verhindert bin. Es ist unmöglich einen günstigeren Ort für baskische Zwecke zu finden als diesen. Zunächst liegt er im Herzen des baskischen Landes, direkt an der Spanischen Grenze die ich neulich in einem Nachmittagsspaziergang |4| überschritt, sodass ich die Lage einer paradiesischen, das Leben ein höchst stilles, ganz so wie ich es liebe, dabei fehlt es mir aber doch nicht an Konfort, ich bin in einem herrschaftlichen Hause prächtig logirt und führe meine eigene Küche; den ganzen Tag liege ich bei meinem Nachbar, einem Schuster,1 der eben sein Handwerk aufgegeben hat und dessen einzige vernünftige Beschäftigung es ist mir die baskischen etwas schwer verdaulichen Brocken vorzukauen. Er ist recht intelligent und hat als Dichter schon einige Erfolge erzielt. Weiterer lebt hier seit 20 Jahren ein Engländer der liebenswürdigsten Art,2 an dem ich nur eine Unvollkommenheit seine wirkliche unglaubliche Aussprache des Französischen kenne; ich werde bald so weit sein dass mir das Baskische zu verstehen keine grössere Schwierigkeit bereitet als dieses. Er besitzt eine so reiche baskologische Bibliothek wie ich sie kaum anderswo finde und sicher nirgends mit gleicher Bequemlichkeit |5| benutzen könnte. So sitze ich denn mit grösstem Eifer über meinem Baskischen (das sich der näheren Betrachtung, wegen unendlicher lokaler Nüancen und einer höchst flüchtigen Aussprache – ceinbeaut z. B. heisst „was muss ich thun?“ = cer eguin behar daut, noch etwas bedenklicher ausnimmt als von Weitem), wenn mich nicht irgend welche besondere Veranlassung wie neulich das Ballspiel von Cámbo3 hinweglockt. Bei diesem Feste ging es ohne jene häufigen und allzu heterogenen Libationen nicht ab, die man bekanntlich überall braucht um mit dem Volke sich zu familiarisiren. Ich kann das jetzt um so weniger brauchen, als ich fast immer an Appetitlosigkeit leide. Daran scheint zum grossen Theile das vorwiegend regnerische Wetter (nur ist in der letzten Zeit die Temperatur beträchtlich gestiegen) schuld zu sein, von dem im |6| Übrigen meine Nerven jetzt weniger spüren. Heute heult der Wind und es regnet was vom Himmel herunter will. Die Spaziergänge sind sonst hier für mich eine wahre Wollust, so bequem, schön, idyllisch. Was bei meinen baskischen Studien herausspringen wird, weiss ich noch nicht; wenn man so mitten in einer Sache drinnen steckt, dann erschrickt man ordentlich über ihren Umfang und glaubt das Leben reiche nicht aus sie zu bewältigen. Anthropologisch wäre hier viel zu machen wenn mit diesen zähen derben Baskenschädeln sich operiren liesse; selbst der junge nette Arzt winkte schon bei meinen einleitenden Bemerkungen, deutlich genug ab. Die Resultate Broca’s,4 welche mir eben schon früher ihrer Beschaffenheit selbst nach Bedenken erregten, scheinen mir, mag die Methode auch eine unübertreffliche sein, aus mangelhaftem und zum Theil unsicheren Material hergeleitet zu sein. Neulich in Cambo, wo auch sehr |7| viele spanische Basken waren, habe ich in Bezug auf die Nasen eine so wunderbare Uebereinstimmung gefunden dass ich meinen Augen nicht traute und immer wieder von Neuem prüfte. Danach muss ich allerdings gestehen dass an eine Verwandtschaft der Basken mit den Andalusiern (vià Ibero-Turdetaner) nicht zu denken wäre, denn da schauen die Nasen ganz anders aus.
Grüssen Sie Professor Meyer und tutti quanti von mir. Er hat mir in seinen letzten Briefen nicht geschrieben, ob Lubensky5 mein Slawo-d. u. Slawo-it. an C. Chabaneau6 in Montpellier gesandt hat. Mit Dietrich7 kommen Sie wohl nicht einmal in gelegentliche Berührung? Er hat neulich Prof. Meyer, auf meine Anfrage, ob er |8| noch an der freudig übernommenen Arbeit über das Kreolische von der Ile de la Réunion dächte, geantwortet: ja, aber es kam dabei nicht das heraus was ich erwartete. Das hat mich zum Lachen gebracht; denn ich habe eben weiter Nichts erwartet als eine Zusammenstellung des grammatikalischen und des (unverstandenen) lexikalischen Materials.
Hat man denn über die Motive von Janottas Selbstmord8 nichts erfahren? Ich denke der eigentliche Grund war Lebensüberdruss; meist pflegt aber irgend ein besonderer Anlass hinzuzutreten. Er thut mir sehr leid.
Mit besten Grüssen
Ihr ergebener
Hugo Schuchardt
1 Auguste Etcheverry war eine bekannte Persönlichkeit, der schon mit Bonaparte gearbeitet hat. Der Kontakt mit ihm kam über Vermittlung von Wentworth Webster zustande. Briefe Etcheverry an HS: 02781-02786.
2 Wentworth Webster (1828-1907), anglikan. Priester, der 1869 ins Baskenland kam, 1882 seine Pfarrstelle in Saint-Jean-de-Luz aufgab und nach Sarre übersiedelte. Vgl. hier Brief Ms 5067/234. Vgl. den ausführlichen Briefwesel Schuchardts mit Webster, HSA 12541-12695.
3 Cambo-les Bains, Département Pyrénées-Atlantiques in der Region Nouvelle-Aquitaine, ca. 17 km südlich von Bayonne, bekannt für das Pelota-Spiel („pelote basque“).
4 Paul Broca, Sur l’origine et la répartition de la langue basque: Basques français et Basques espagnols, Paris 1875 (II, 54 S., und 3 Tafeln; 8°, Extrait de la Revue d'anthropologie). – Broca (1824-1880) war ein bedeutender französischer Arzt und Anthropologe.
6 Camille Chabaneau (1831-1908), franz. Romanist; vgl. HSA 01603-1606; Redakteur der Revue des langues romanes.
7 Vgl. Graz, UA Doktoratsakte (Digitalisat) Adolf Dietrich (Februar 1890), Thema der Arbeit: „Die kreolischen Mundarten der beiden Inseln Maurcius und Réunion“. Schuchardt gutachtet: „Die Doktorabhandlung des Herrn A. Dietrich beschäftigt sich mit einem wichtigen kreolischen Dialekt. Er hat die ihm zur Verfügung stehenden Materialien in gründlicher Weise durchgearbeitet, hat interessante, zum grossen Theil sichere Ergebnisse gewonnen und dieselben in einer angemessenen Uebersicht zusammengeordnet. Zu wünschen übrig lässt allein die sprachliche Darstellung; es handelt sich dabei aber nicht sowohl um Verstösse gegen die französische Grammatik als um eine Unbeholfenheit die sich bis zu einem gewissen Grade auch in deutscher Sprache fühlbar gemacht haben würde. Ich beantrage die Zulassung des Doktoranden zur mündlichen Prüfung. Graz 10 Febr. 90. H. Schuchardt“. Der Kandidat schloss im Rigorosum in Romanistik und Allg. Sprachwissenschaft „mit Auszeichnung“ ab, musste aber die Nebenfachprüfung wiederholen. – Die Diss. erschien unter dem Titel Les parlers créoles des Mascareignes, Paris-Mâcon-Boullion, 1891; von Dietrich stammt ebenfalls „ Gedanken über die Heranbildung von Neuphilologen an unseren Universitäten “, Jahresbericht der Steiermärkischen Landes-Oberrealschule in Graz, Graz 60, 1910/1911, 18-23.
8 Nicht identifiziert. Sollte der Grazer Musikwissenschaftler L. Janotta gemeint sein? Oder der Verleger J. Janotta?
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_231)