Hugo Schuchardt an Lajos Katona (02-05067_214)

von Hugo Schuchardt

an Lajos Katona

Graz

02. 03. 1885

language Deutsch

Schlagwörter: Kreolsprachen Schuchardt, Hugo (1883) Turiault, Jean (1874) Marbot, François Achille (1869) Thomas, John Jacob (1869) Schuchardt, Hugo (1884)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Lajos Katona (02-05067_214). Graz, 02. 03. 1885. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2023). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10188, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10188.


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Graz, 2 März 85

Sehr geehrter Herr,

Da Ihr Brief mich gerade unter kreolischen Arbeiten überrascht, so will ich ihn auf der Stelle beantworten. Es freut mich sehr dass bei Ihnen die sprachliche Hybridität solches Interesse findet, insbesondere die welche sich in den kreolischen Idiomen offenbart. Die Beschäftigung mit letzeren hat, abgesehen von den wissenschaftlichen Resultaten, für mich auch deshalb einen eigenthümlichen Reiz weil sie mich in Beziehung zu Personen aller möglichen Racen, so zu Indern, Annamiten, Mulatten, Negern, gesetzt hat und vielfach ist diese Beziehung über weite Meere hin zu einer wirklich herzlichen und freundschaftlichen geworden. |2| Zunächst muss ich Ihnen sagen dass Sie indem Sie Belehrung verlangen, auch mir solche ertheilen. Obwohl ich ein sehr reiches gedrucktes und ungedrucktes Material beisammen habe, so fehlt mir doch noch Verschiedenes. Von dem Carillon dessen Sie gedenken, habe ich nicht einmal gehört.1 Bitte schreiben Sie mir doch Näheres darüber besonders, wo er herausgekommen ist und in welchem kreolischen Dialekt er geschrieben ist.

Sie scheinen vor allem die französischen Negerdialekte im Auge zu haben; ich bemerke über die Quellen derselben Folgendes. In der Bibliographie créole welche ich in der Revue critique 16 avril 1883 gegeben habe,2 weiss ich Gedrucktes von einiger Wichtigkeit nicht nachzutragen. In Zeitungen von Mauritius u.s.w. kommt immer einiges Kreolische vor, so auch in den reizenden kleinen Erzählungen von M lleDoudou (Baissac’s Tochter).3 Neue Aufsätze über das Kreolische von Réunion finden sich im dortigen Sport national. Turiault, Étude sur le langage créole de la Martinique (Brest 1874 – ich glaube es kostet |3| 7 francs)4 scheinen Sie nicht zu kennen, schon H. Gaidoz (in der Revue critique) hatte es angeführt. Haben Sie denn nicht die bekannten Bambous5 im Kreolischen von Martinique? ich habe das Buch in zwei Exemplaren und mache mir ein Vergnügen daraus, Ihnen das eine zu schicken. Einen Katechismus in gleichem Kreolisch besitze ich auch; aber er ist sprachlich werthlos, d. h. das Kreolische übel zugerichtet.6 Über den so wichtigen Dialect von Haïti existirt fast gar Nichts; das Nützlichste ist noch ein Glossar aus dem Anfang dieses Jahrhunderts. Trinidad ist nur durch die Grammatik von Thomas vertreten.7 Ich sammele mit vieler Mühe Märchen aus Westindien und gedenke sie mit schon gedruckten in einer zu Paris erscheinenden Sammlung zu vereinen.

Was die Pariser Kataloge anlangt, so dürfte wohl vor Allem die Bibliotheca Americana von Maisonneuve (mit Suppl.) gemeint sein.8 Auch in Auctionskatalogen, wie besonders dem der A. Pinart’schen Bibl. vom vorigen Jahre, findet sich Manches.9 Was aber das französische Kreolisch Westindiens und Ostafrika’s anlangt, so dürften doch |4| die Angaben in Trübner’s Rec. und in der Revue critique (von Gaidoz und mir) ziemlich erschöpfend sein. In Paris und London (Brit. Mus.) scheint wenig Apartes dieser Art zu sein; ich habe mich schon danach erkundigt. Aber mit Thomas,10 St Quentin,11 Baissac12 [und Turiault]13 haben Sie eigentlich fast alles Material von wirklichem Werthe schon; denn die Publicationen, in kreolischer Sprache sind recht unzuverlässig, sie wimmeln von Gallicismen.

Ich werde Ihnen übrigens in dieser Beziehung gern zu Diensten sein, soweit ich es vermag; nur bitte ich Sie zu bedenken dass da meine kreolischen Studien, wenn auch mit Unterbrechungen, immer fortlaufen, ich selbst eines kleinen Theiles des gesammelten Materials nicht gut zu entrathen vermag. Ich kann selbst nicht einmal genau wissen was ich in der nächsten Zeit brauchen werde; denn beständig treffen, mehr oder weniger unerwartet, Briefe ein welche mich veranlassen Dinge aufzunehmen die ich momentan beiseite gelegt hatte.

Ich schliesse indem ich noch meiner Genugthuung Ausdruck gebe mit einem Angehörigen derjenigen Nation in Beziehung getreten zu sein, deren Sprache ich, allerdings erst seit einigen Tagen, mit grossem Eifer zu studiren begonnen habe. Nachdem ich in meiner Festschrift für Miklosich vor allem nur die cisleitanische Sprachmischung studirt habe,14 denke ich später in ähnlichem Sinne weiter im Osten rumzuschauen.

Hochachtungsvollst Ihr ergebener

H. Schuchardt


1 Le Carillon. Journal peu politique, encore moins littéraire, pas du tout sérieux erschien von 1869 bis 1875 in New Orleans und enthielt auch kreolische Texte.

2 Schuchardt, „Bibliographie créole“, Revue critique d’histoire et de littérature 17, 1883, 314-318.

3 Basile Charles Baissac (1831-1892), britisch-französischer Romanist und Kreolist (französischer Herkunft) aus Mauritius; vgl. HSA 00443-00450; seine Tochter Jenny gen. Doudou war das älteste von sechs Kindern Baissacs aus seiner Ehe mit Louise Jeanne Charlotte Breton (keine Daten); vgl. HSA 00451-00453.

4 Jean Turiault, Étude sur le langage créole de la Martinique, Brest: Lefournier, 1874.

5 François Marbot, Les Bambous. Fables de La Fontaine travesties en patois créole par un vieux commandeur, Fort de France: Thomas, 1869; 22002.

6 Vermutlich Abbé Paul Goux, Catéchisme en langue créole, précédé d’un essai de grammaire sur l’idiome usité dans les colonie françaises , Paris: Impr. H. Vrayet de Surcy, 1842.

7 John Jacob Thomas, The Theory and practice of Creole Grammar, San Fernando, Calif., 1869.

8 Charles Leclerc, Bibliotheca americana; histoire, géographie, voyages, archéologie et linguistique des deux Amériques et des Iles Philippines , Paris: Maisonneuve, 1878.

9 Catalogue de livres rares et précieux, manuscrits et imprimés principalement sur l’Amérique et sur les langues du monde entier: composant la bibliothèque de … Alph.-L. Pinart et comprenant en totalité la bibliothèque mexicoguatémalienne de … Brasseur de Bourbourg: [La vente aura lieu du lundi 28 janvier au mordi 5 février 1884, Paris: Labitte, 1883.

10 Antoine Thomas (1857-1935), franz. Romanist; vgl. HSA 11658-11668.

11 Alfred de St. Quentin (keine Daten), Chef de Bataillon, Membre de l’Académie des sciences, belles lettres et arts de Rouen; Wirken um 1872.

12 Charles Baissac (1831-1892), franz. Philologe und Folklorist; vgl. HSA 00418-00442.

13 Jean Turiault (keine Lebensdaten), Verf. von Étude sur le langage de la Martinique, Brest: Lefournier, 1874.

14 Schuchardt, Dem Herrn Franz von Miklosich zum 20. November 1883. Slawo-deutsches und Slawo-italienisches. Graz: Leuschner & Lubensky, 1884.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Bibliothek und Informationszentrum der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Abteilung für Handschriften und Alte Bücher. (Sig. 05067_214)