Hugo Schuchardt an Julien Vinson (38-HSJV15)
von Hugo Schuchardt
22. 07. 1898
Deutsch
Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Hofbibliothek Universität Graz Baskisch Eys, Willem Jan van Stempf, Victor Giacomino, Claudio Bonaparte, Louis Lucien Dodgson, Edward Spencer Graz Gotha Paris Schuchardt, Hugo (1898) Voltoire, (1642) Eys, Willem Jan van (1896) Giacomino, Claudio (1898)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Julien Vinson (38-HSJV15). Gotha, 22. 07. 1898. Hrsg. von Bernhard Hurch (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10116, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10116.
Gotha, 22 Juli 98.1
Siebleberstr. 33.
Verehrter Kollege!
Ich hatte in Graz – bei der Durchsicht meiner baskischen Bücher – viel Material zu einem Briefe an Sie gesammelt: Notes and Queries. Wegen plötzlicher Abreise nach Gotha muss ich diesen Brief um einige Monate aufschieben, und beschränke mich auf ein paar Bemerkungen über Dinge die mir gegenwärtig sind.
Sie haben Recht mit meiner kurzen Anzeige Ihres Suppl. nicht ganz zufrieden zu sein; ich wollte zu gleicher Zeit die Arbeit Farinellis2 erwähnen, und die von mir vorgenommene Verknüpfung war keine sehr geschickte. Nun, ich hoffe Gelegenheit zu finden den Fehler zu verbessern.
|2|Unser Druck schreitet stetig vor; wir sind jetzt schon in die Korintherbriefe gekommen. Bezüglich desselben habe ich Sie mancherlei zu fragen; aber das kann erst später geschehen. – Es findet sich kursives I und J (Iauna, Jauna) nebeneinander; nach einigem Schwanken habe ich mich entschlossen, in beiden Fällen I zu drucken da es sich doch nur um einen Unterschied wie dem zwischen E und Ɛ, G und G u.s.w. handelt.3 Oder dachte man wirklich bei dem J an den Konsonanten Jod? Ganz dieses selbe J begegnet z.B. in der Funktion des Konsonanten in dem Katechismus, von dem ich das einzige Exemplar besitze. Wann ist wohl in französischen Drucken zum ersten Mal zwischen dem Vokal und dem Konsonanten unterschieden worden? –
Den Wiener Voltoire hatte ich einige Tage in Graz, d.h. auf der Universitätsbibliothek4. Der Direktor der Hofbibliothek misst diesem |3| Büchlein – auf Grund Ihrer bibliographischen Angabe – einen ungeheuern Werth bei; er hatte es mit 1000 fl. versichern lassen. Ich betrachte es – in wissenschaftlichem Sinne – als ziemlich werthlos; ich habe Nichts darin gefunden was wirklich neu wäre, und sollte doch Etwas darin vorkommen was sich anderswo nicht fände, so könnte das bei dieser Unmenge von Druckfehlern aller Art keinen Anspruch darauf machen als sicher bezeugt zu gelten. Wieviel lernen wir hingegen aus den Sprichwörtern die van Eys gefunden hat!5 Ich habe mich eingehender damit zu beschäftigen begonnen; es sind da noch viele Probleme zu lösen. –
Stempf hat mir wiederum die Entzifferung einer Inschrift zugeschickt6; ich bedauere sehr dass er sich mit solchen Dingen abmüht. Auch Giacomino|4| hat kürzlich versucht die Inschrift von Castellón de la Plana zu deuten7; allerdings mit etwas weniger Phantasie als Stempf, aber immerhin noch mit zu viel Phantasie als dass ich diese Deutung annehmen könnte. Ich werde mich darüber in einem längeren Artikel, der auch Romano-baskisches und Ibero-romanisches enthalten wird, aussprechen.
Haben Sie etwa baskische Doubletten deren Sie sich zu entäussern wünschten? Oder können Sie mir Adressen von Besitzern seltener baskischer Bücher geben, auf die Sie selbst nicht reflektiren? Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: kennen Sie in Paris Jemanden, der einen Calderon in erster Ausgabe zu haben wünscht (Band I 1640. II 1636 – dieser existirt nur in ein paar Exemplaren, vier oder fünf, soviel ich weiss)?8 – Was mit der Bibliothek vom Prinzen Bonaparte geworden ist, weiss ich nicht.
Verzeihen Sie, ich schreibe die Dinge wie sie mir gerade durch den Kopf gehen – fast à la Dodgson.
Mit besten Grüssen
Ihr ganz ergebener
Hugo Schuchardt
1 Von Vinson in Handschrift hinzugefügt: “rép.”
2 Arturo Farinelli [1867-1948] war ursprünglich italienischer Romanist und Germanist. Es ist nicht ganz verständlich, warum Schuchardt Farinellis Habilitation in Graz gegen den Willen einiger guter Freunde und Kollegen durchgesetzt hat. Die Qualität seiner wissenschaftlichen Arbeiten ist nicht unumstritten, ebenso seine Rolle in den Jahren des Faschismus und Nationalsozialismus. Zur umfangreichen Korrespondenz mit Schuchardt vgl. HSA 02875-03006.
3 Es handelt sich um gleiche Buchstaben unterschiedlicher Schrifttypen.
6 Diese Zusendung muss verloren gegangen sein, denn im Nachlass Schuchardt findet sich keine Korrespondenz mit Victor Stempf.
8 Schuchardt hat in den frühen 1880er Jahren einige Veröffentlichungen zu Calderon verfasst, außerdem an der Universität Graz Vorlesungen zu Calderon gehalten.
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Azkue Biblioteka (Euskaltzaindia) (Sig. HSJV15)