Hugo Schuchardt an Julien Vinson (35-HSJV14)

von Hugo Schuchardt

an Julien Vinson

Graz

09. 05. 1898

language Deutsch

Schlagwörter: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien) Dodgson, Edward Spencer Linschmann, Th. Wustmann, Gustav Webster, Wentworth Welter, Hubert Gotha Vinson, Julien (1898) Schuchardt, Hugo (1898) Schuchardt, Hugo (1898)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Julien Vinson (35-HSJV14). Graz, 09. 05. 1898. Hrsg. von Bernhard Hurch (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10113, abgerufen am 29. 11. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10113.


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Graz, 9 Mai 1898 1

Verehrter Kollege,

Vorgestern empfing ich den Supplementband, gestern sandte ich eine ganz kurze Anzeige davon an das Litteraturblatt; heute spreche ich Ihnen meinen herzlichsten Dank dafür aus2. Er kam mir sehr erwünscht; ich bin gerade dabei meine paar baskischen Bücher durchzusehen und zu ordnen – ich werde in einigen Tagen in der Lage sein, Ihnen zwar nicht eigentlich Corrigenda et Addenda zu bieten, aber doch einige kleine Bemerkungen die Ihnen vielleicht dienen können. Zugleich werde ich dann bezüglich des Einen und des Andern, was zu meinen baskischen Studien nothwendig ist, Sie um Rath oder Hülfe angehen. Vorderhand bemerke ich nur dass Sie doch sofort schon an den Abschluss des Ganzen denken sollten, mit den Generalregistern. Das Werk ist jetzt einigermass schwer zu benutzen; das Papier ist desto leichter, es reisst gern bei etwas temperamentvollem Umblättern.

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Ich würde Ihnen in diesen Tagen so wie so geschrieben haben; ich habe unsern Drucker schon vor einiger Zeit gebeten von einem Bogen einige überschüssige Exemplare herzustellen und Ihnen eines davon zukommen zu lassen. Ich möchte auch jetzt da wir fast in die Mitte nicht des ganzen Druckes, aber doch des N.T. gelangt sind, unserer Akademie eine Probe vorlegen; der verrückte Angriff Dodgsons könnte doch irgend einen kleinen Eindruck gemacht haben. Es ist furchtbar schwer die Druckfehler zu vermeiden; ich habe bis jetzt von solchen wofür ich als Revisor verantwortlich bin, nur drei entdeckt:

83v 17 M.
54r 54 M.Eſa statt Eſa
80v 7 M. 1. Cor statt i Cor

Aber diese nur zufällig; denn wenn wir auch immer wieder in dem schon Gedruckten lesen, so doch nicht wieder Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe. Das müsste ein Dritter thun. Dazu kommen nun einige Mängel für welche die Druckerei – die übrigens ihr Bestes thut – verantwortlich ist; so werden wozu |3| sie sich selbst erboten hat, einige Blätter kartonnirt werden müssen: 44 r Überschr. hat pɩçuen statt piçuén, 174 r 2 M. fehlt der Punkt nach Leuit. 23, 188v 39 M steht 33 statt 13; der Setzer hat offenbar die 1 ausfallen lassen und dann in der Zerstreutheit eine 3 genommen [–] dem Revisor der Druckerei ist das entgangen. In solchen Angelegenheiten können Sie vielleicht guten Rath geben.

Sie sagen S. 523 vom Leipziger Exemplar des N.T.: „très frais, très propre“. Das ist es nicht oder nicht mehr. Als ich es vor zwei Jahren in der Leipziger Stadtbibliothek in Händen hatte, machte es mir auch diesen frischen Eindruck; doch hatte ich das Buch eben nur ein paar Minuten in den Händen und meine Aufmerksamkeit war auf Anderes als auf sein Äusseres gerichtet, sodass, als ich das Buch dauernd behufs der Revision des Neudrucks erhielt, zunächst den Unterschied nicht konstatirte. Es ist, besonders |4| auf den rechten Seiten, und da wiederum unten, recht schmutzig; und schon das Titelblatt zeichnet sich in diesem Sinne aus. Linschmann sagte mir ([a]ls er mich in Gotha für einen Nachmittag mit dem Stuttgarter Exemplar besuchte) dass die Blätter noch verklebt gewesen seien, er hätte sie erst voneinander lösen müssen. [I]ch fragte ihn, wie er das Schmutzige erkläre, er meinte, es sei wohl der Kleister: An manchen Stellen sieht man allerdings korrespondirende Flecken oder Ueberbleibsel von Pflanzen oder Anderem; aber meistens ist die eine Seite rein, die andre nicht. Diese Schmutzflecken machen aber wiederum nicht den Eindruck als ob Sie neuerdings, etwa beim Abschreiben entstanden wären, dann würden sie ganz anders aussehen, sie deuten auf mannigfachen Gebrauch, sind sehr verschiedener Art, Manche wie Abdrücke von Fingern die in der Erde gewühlt haben. Mir ist die Sache ganz räthselhaft; ich habe nur eine Erklärung dafür; das Exemplar ist viel gebraucht worden, dann gebunden oder umgebunden, gepresst und unwillkürlich verklebt worden, |5| und nun bei seinem Wiedergebrauch sind die alten Schäden zu Tage getreten. Ich habe Ihnen das so ausführlich geschrieben nicht damit Sie es weiter verbreiten, sondern um wenigstens an einer Stelle mich gegen den Vorwurf zu wahren dass durch mich das Buch in einen Zustand gebracht worden sei, der mit dem von Ihnen beschriebenen im Widerspruch steht. Jetzt erst verstehe ich dass der Bibliothekar, Dr Wustmann3, der auf meine Bitte es an Linschmann behufs Abschreibens zu senden, sofort eingegangen war, später zauderte es mir selbst anzuvertrauen, indem er bemerkte: die Bücher würden durch das Ausleihen, auch bei grösster Sorgfalt, nicht besser. Ich habe nun ein eigenes Etui, das mit Plüsch ausgeschlagen ist, für dieses κειμὐλιον machen lassen.

Was Sie über Dodgson sagen, ist nur zu mild; ich begehe vielleicht eine Indiskretion – aber ich kann Ihnen nicht verhehlen dass ich kürzlich eine Karte von ihm gesehen habe, in der von den impostors Webster and Vinson die Rede war. Sie war nicht an mich gerichtet, mir selbst hat er |6| in diesen Tagen wegen jenes Briefs im Avenir zu schreiben gewagt und darin mit „Lügen“ u.s.w. um sich geworfen4. Ist es nicht auch für Sie besser völlig mit einem solchen Menschen zu brechen, auch wenn Ihnen dafür eine oder die andere bibliographische Notiz entgehen sollte?

Sie müssen schon vor 8 Tagen von H. Welter, den ich damit beauftragt habe, meine Broschüre Tchèques et Allemands5 erhalten haben. Ich bitte die damit verfolgte Absicht nicht zu verkennen; ich will die Liebe zu den Tschechen nicht aus dem Herzen der Franzosen reissen, sondern nur das Widersinnige ihrer Forderungen darthun. Aus guten Gründen habe ich von Einem geschwiegen; will man alte Königreiche wieder aufrichten, so hätten die Polen ganz andere Ansprüche darauf als die Tschechen.

Demnächst mehr!

Mit bestem Gruss

Ihr ganz ergebener

H. Schuchardt


1 Handschriftlicher Zusatz von Vinson: “rép.”.

2 Hier zeigt sich die Geschwindigkeit im Ablauf des wissenschaftlichen Diskurses: Am 5. Mai schickte Vinson das Exemplar des Buches in Paris ab, die Anzeige im Literaturblatt (Schuchardt 1898a) erscheint bereits am 6. Juni in gedruckter Form.

3 Vgl. die Korrespondenz Schuchardt - Wustmann HSA 12905-12906.

4 Es geht um das Schreiben HSA 246-02596 von Dodgson an Schuchardt vom 27. April 1898. Schuchardt ist hier sogar allzu dezent, denn Dodgson beklagt sich in dem Schreiben auch über Vinson.

5 Schuchardt (1898b).

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung von: Azkue Biblioteka (Euskaltzaindia) (Sig. HSJV14)