Eduard Wölfflin an Hugo Schuchardt (01-12872)

von Eduard Wölfflin

an Hugo Schuchardt

München

02. 03. 1883

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Würzburg Universität München Tobler, Adolf Hartel, Wilhelm von Meyer, Gustav/Schuchardt, Hugo (1882) Sittl, Karl (1882) Ernst, Gerhard (2003) Wölfflin, Eduard (1876)

Zitiervorschlag: Eduard Wölfflin an Hugo Schuchardt (01-12872). München, 02. 03. 1883. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.10025, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.10025.


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München, d. 2 März 1883.

Geehrtester Herr Professor,

Da ich doch wohl Ihrer Güte die Zusendung der Anzeige1 von Sittls Schrift2 verdanke, so erlaube ich mir zunächst dieselbe durch meine Gemination zu erwiedern.3 Bei dieser Gelegenheit will ich aber auch erläuternd beifügen, daß H. Dr. Sittl nun in seinem 4ten Studienjahre steht; ich selbst wies ihn, da er gleich bei meiner Berufung unter meine Fahne trat, auf die Africitas,4 und nur auf diese hin; seine Idee war es, der Frage einen allgemeinen Hintergrund zu geben, & daher entwarf er Theil I und II, den er vor 3 Semestern als Seminararbeit bei Bursian5 einlieferte. Ich selbst habe damit nichts zu thun, & da ich keine Verantwortlichkeit dafür übernehmen wollte, konnte auch von einer Dedikation keine Rede sein.

Ich muß es bedauern, daß Sie das Mißtrauen, welches Sie bei dem Studium der ersten Theile gefaßt, auch auf den III übertragen haben, der ja doch offenbar der selbstständigste, oder allein selbstständig ist. Denn selbst zugegeben, Sittl hätte aus Commentaren zu Afrikanern Material zusammengetragen, was ja nicht verboten ist, so existiert ja eine solche Zusammenstellung nirgends, wie jeder Philolog & Romanist wissen muß. Nun weiß ich aber, daß Sittl die bisher vernachlässigten Afrikaner alle selbst gelesen hat. Da der Verleger mir eben schreibt, vor Jahresfrist werde eine zweite Auflage nöthig,6 so wird H. Dr. Sittl ohne Zweifel diesen Theil bedeutend bereichern, & Philologen, wie Tobler,7 Bücheler,8Hartel9 haben sich brieflich sehr anerkennend darüber geäußert. Leider bekommen Ihre Leser nichts davon zu hören, & so giebt |2| der Artikel auch keine „Anzeige“, da er ja nur tadelt, & von dem Guten nicht einmal die Resultate mittheilt, und nur das gleichsam abgenöthigte Zugeständniß enthält, die Partie sei lehrreich. Wenn Sie uns einmal eine ähnliche Arbeit eines Ihrer Grazer Seminaristen schicken, so wollen wir sie möglichst objectiv zu beurtheilen suchen.

Wenn Sie vermissen, daß ich in meinem Aufsatz über Vulgärlatein10 Ihres Buches gedacht habe, so ist die Erklärung doch sehr einfach. Ich operiere nicht gern mit Vokal= & Consonantvertauschungen, nicht als ob ich davon gering dächte, sondern weil ich mich dazu weniger eigne, & weil ich bei so geringen Differenzen der Ueberlieferung nicht durchweg sicher zu sein glaube. Handelt es sich aber um sol od. soliculus, duco oder conduco, quatere od. quassare, diu od. longo tempore, so fühle ich mich auf festem Boden. Daher berühren sich unsere Forschungen nicht, sondern sie ergänzen einander. Bei lexikologischen Untersuchungen od. Forschungen über Wortbildung kann man nicht von Vokalismus sprechen: davon spreche ich allein im Colleg über Vulgärlatein suo loco, und fortwährend mit Bezugnahme auf Sie. Die negative Beobachtung von dem Fehlen und Absterben der Wörter habe ich von Niemandem entlehnt, & glaube von der Gründermoral entfernt zu sein, die ohne Arbeit auf Resultate hofft. Wenn Sie aber auch Comparation, Gemination, Allitteration und andere Rationen als Gründerschriften betrachten wollen, so kann ich natürlich nichts dagegen einwenden & muß mich mit dem Urtheile anderer trösten.

Hochachtungsvoll ergebenst
Prof. Ed. Wölfflin.


1 Gustav Meyer & Hugo Schuchardt, „[Rez. von:] Dr. Karl Sittl, Die lokalen Verschiedenheiten der lateinischen Sprache mit besonderer Berücksichtigung des afrikanischen Lateins“, ZrP 6, 1882, 608-628. – Zu Einzelheiten vgl. auch HSA 02-07760 (Fritz Neumann [4.3.1883] an Hugo Schuchardt).

2 Karl Sittl, Die lokalen Verschiedenheiten der lateinischen Sprache; mit besonderer Berücksichtigung des afrikanischen Lateins, Erlangen: Deichert, 1882. Am Ende des Vorworts S. IV heißt es: „Dass aber die rasche Veröffentlichung möglich wurde, verdanke ich freundlicher Beihilfe, vor allem der Unterstützung des Herrn Professor Dr. E. Wölfflin, der die Arbeit nicht nur mit wertvollen Zusätzen bereicherte, sondern mich auch stets auf die neuesten Erscheinungen aufmerksam machte und sogar bei der Korrektur unterstützte“. - Karl Sittl (1862-1899) wurde am 4.3.1882 in München promoviert, 1889 habilitiert und 1899 für Klass. Philol. u. Archäologie nach Würzburg berufen.

3 Es könnte Bd. 1, 1884, des ALLG gemeint sein, in dem Schuchardt mehrfach, mal zustimmend, mal kritisch zitiert wird.

4 vgl., in: Gerhard Ernst (u. a.), Romanische Sprachgeschichte / Histoire linguistique de la Romania, (HSK 23, 1), Berlin-New York: de Gruyter, 2003, 669 f. (Christian Schmitt).

5 Conrad Bursian (1830-1883), deutscher Altphilologe und Archäologe, seit 1874 an der Münchner Universität. Wölfflin war sein Kollege und übernahm nach seinem Tod einen Teil seiner Doktoranden, darunter Sittl.

6 Nicht nachweisbar.

7 Adolf Tobler (1835-1910), Schweizer Romanist, seit 1867 in Berlin; vgl. HSA 11706-11727.

8 Franz Bücheler (1837-1908), deutscher Klass. Philologe in Bonn.

9 Wilhelm von Hartel (1839-1907), österr. Klass. Philologe in Wien.

10 Wölfflin „Bemerkungen über das Vulgärlatein“, Philologus XXXIV, 1876, 137-165.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 12872)