Vulpes
vulpes,-is
f.: Fuchs.
et
Corvus
corvus,-i m.: Rabe.
Promythion
Qui
qui: ergänze: is, qui.
se
laudari gaudet verbis subdolis,
subdolus 3: hinterlistig, trügerisch.
fere
fere (Adv.): ungefähr, fast; hier:
meistens.
dat poenas
poenas dare 1: bestraft werden, büßen.
turpi
turpis,-e:
hässlich; hier: schändlich.
paenitentia.
paenitentia,-ae f.: Reue.
Exposition 1
cum de fenestra
fenestra,-ae f.: Maueröffnung,
Fenster.
corvus raptum caseum
caseus,-i m.: Käse.
comesse
comedere 3,-edi,-esum: verzehren.
vellet, celsa residens
residere 2,-sedi,-sessum: sitzen.
arbore,
vulpes hunc vidit, deinde sic coepit
loqui:
Actio
„o qui tuarum, corve, pennarum
penna,-ae
f.: Feder.
est nitor!
nitor,-oris m.: Schönheit; Glanz.
quantum decoris
decor,-oris m.: Zierde,
Anmut.
corpore
corpore: Ablativus limitationis.
Übersetze: in corpore et vultu.
et vultu
geris!
si vocem haberes, nulla prior ales
ales,-itis
m./f.: Vogel.
foret“.
foret =
esset
Reactio
at ille stultus,
stultus 3: dumm,
töricht.
dum vult vocem ostendere,
emisit
emittere 3,-misi,-missum: fallen lassen.
ore caseum, quem
celeriter
dolosa
dolosus 3: listig.
vulpes
avidis
avidus 3:
gierig.
rapuit dentibus.
Schlussbemerkung/Epimythion
tum demum
demum (Adv.): erst, endlich.
ingemuit
ingemiscere 3, ingemui: seufzen.
corvi deceptus
decipere M,-cepi,-ceptum:
täuschen.
stupor.
stupor,-oris m.: Dummheit.
Epimythion
[hac re probatur
probare 1,-avi,-atum: beweisen.
quantum ingenium
ingenium,-i n.:
Begabung.
valet;
valere
2,-ui,-iturus: vermögen.
virtute semper praevalet
praevalere 2,-valui: überlegen sein.
sapientia.]
sapientia,-ae f.: Weisheit.
Der Fuchs und der Rabe
Derjenige, der sich darüber freut, dass er mit
hinterlistigen Worten gelobt wird, büßt meist mit schmachvoller Reue. Als der Rabe das
aus einem Fenster geraubte Stück Käse essen wollte, während er auf einem hohen Baum
saß, [5] sah der Fuchs diesen und begann dann folgendermaßen zu sprechen:
„Oh Rabe, welch Glanz besitzen deine Federn! Wie viel
Anmut trägst du in Gestalt und Antlitz! Wenn du eine Stimme hättest, wäre kein Vogel
vor dir.“
Aber jener ließ töricht [10] den Käse aus dem
Schnabel fallen, während er seine Stimme zeigen wollte, den der hinterlistige Fuchs
schnell mit seinen gierigen Zähnen raubte. Da erst seufzte die getäuschte Dummheit des
Raben.
[Durch diese Sache wird bewiesen, wie viel Begabung
vermag; Weisheit ist der Tüchtigkeit immer überlegen.]
Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!
Wer sich über Heucheleien freut,
muss es später bereuen. Der Rabe raubt einen Käse von einem Fenster. Als er sich
damit auf einen Baum setzt, um ihn zu essen, kommt der Fuchs, der ihm den Käse
wegnehmen will. Er sagt, jener hätte ein schönes Gefieder, eine schöne Gestalt und
wenn er dazu auch noch eine (schöne) Stimme hätte, wäre er der beste Vogel. Der Rabe
will dem Fuchs seine Stimme präsentieren. Durch das Öffnen des Schnabels fällt das
Käsestück heraus und der Fuchs schnappt es sich. Der Rabe ärgert sich daraufhin
bitterlich über seine eigene Dummheit.
Gliedern Sie den Ausgangstext nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Nennen
Sie auffällige Unterschiede und Gemeinsamkeiten!
Promythion: 1–2
Exposition: 3–5
Actio: 6–8
Reactio: 9–11
Schlussbemerkung/Epimythion: 12
[Epimythion: 13–14]
Die Fabel folgt dem typischen
Aufbauschema. Allein die Verse 13–14 stellen ein Problem dar, da in weiterer Folge
sowohl ein Pro- als auch ein Epimythion vorhanden wären (s. Frage 11).
Erläutern Sie, welche Deutung durch das Promythion nahegelegt wird!
Das Promythion bietet eine
thematische Einleitung für die kommende Handlung. Es legt nahe, dass derjenige, der
gerne schmeichelnde Worte hört, eine Strafe erfahren wird. Der Diebstahl des Fuchses
wird in keinem Wort erwähnt und in weiterer Folge nicht als böse oder moralisch
schlecht kategorisiert. Die Eitelkeit des Raben, der sich hat täuschen lassen,
scheint eine gerechte Strafe zu erhalten.
Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel in der Fabel: Hyperbaton,
Exclamatio (Ausruf)(2x), Hendiadyoin, Enallage (2x)! Welche Bedeutung haben sie für
die Interpretation der Fabel?
Hyperbaton: v.4, celsa arbore: celsa steht vor arbore, wodurch die Höhe des Baumes noch mehr unterstrichen und in den
Vordergrund gestellt wird.
Exclamatio: vv.6–7, o, corve: Dieser Ausruf bzw. Anruf des Raben lässt die
Schmeichelei affektierter wirken und verstärkt sie dadurch.
Exclamatio: v.7, quantum: Auch bei diesem Stilmittel liegt die Betonung auf der Verstärkung
der Schmeichelei; es hat eine hervorhebende Wirkung.
Hendiadyoin: v.7, corpore et vultu: Durch die Verwendung von zwei semantisch
ähnlichen Wörtern kommt es zu einem Ausdruck der Verstärkung der Schmeichelei.
Enallage: v.11, avidis dentibus: Hierbei handelt es sich um eine Enallage: Man kann
feststellen, dass nicht die Zähne gierig sind, sondern der Fuchs. Dieser ist sehr
gierig nach dem Käse und somit nach der Beute, was ihm durch das Austricksen des
Raben auch gelingt.
Enallage: v.12, ingemuit corvi deceptus stupor: Besonders auffällig ist die Enallage.
Natürlich wurde in diesem Fall nicht die Dummheit des Raben, sondern der Rabe selbst
getäuscht. Das Stilmittel, also die Verbindung der beiden Wörter deceptus und stupor, gibt dem Vers allerdings eine
gewisse Gewichtigkeit mit und unterstützt das Promythion bzw. die Aussage der
Fabel.
Nehmen Sie Stellung zu dem textkritischen Problem in v.2: Die wichtige
Handschrift P bietet
fere paenitentia, die Handschrift D
serae paenitentiae! Inwiefern ist die Entscheidung hier
bedeutungstragend?
fere […]
paenitentia scheint serae […]
paenitentiae vorzuziehen zu sein. Einerseits beinhaltet
fere sowohl den Aspekt der Allgemeingültigkeit, was sich
in das Promythion einfügt, als auch den Hinweis, dass es Ausnahmen von dieser
allgemeinen Regel gibt, was sinnvoll erscheint. Mit serae
paenitentiae von zu später Reue zu sprechen, wäre zwar auch sehr passend,
allerdings wird dadurch die Zuordnung von turpi sowie die
gesamte Konstruktion durch den Dativ problematisch. Vermutlich hat ein Abschreiber
statt fere fälschlich sere (=serae) geschrieben und paenitentiae
dem vermeintlichen Dativ angepasst.
Welche Eigenschaften werden dem Fuchs und dem Raben jeweils zugeschrieben?
Ordnen Sie den beiden Akteuren je zwei entsprechende lateinische Adjektive aus dem
Text zu!
Fuchs: dolosa (v.11), avidis (v.11). Der Fuchs wird in
der Fabel des Phaedrus als ein hinterlistiger, trügerischer und manipulativer, aber
auch kluger Charakter dargestellt. Er täuscht sein Gegenüber, sodass er ohne großen
Aufwand zur Nahrung gelangt.
Rabe: stultus (v.9), deceptus (v.12). Rabe: Dem Raben
können in dieser Fabel die Eigenschaften Dummheit, Naivität (vv. 9–10; 12) und
Eitelkeit (vv.9–10) zugeschrieben werden. Er lässt sich durch die schmeichelnden
Worte des Fuchses täuschen und verliert deshalb das wieder, was er zuvor
unrechtmäßig erbeutet hat.
Die Fabel ist auch in zwei griechischen Versionen überliefert, bei Aesop und
Babrios. Ziehen Sie außerdem eine andere Fabel des Phaedrus als Vergleichstext
hinzu. Vergleichen Sie den Ausgangstext mit den Vergleichstexten (Aisop. 124 P.
[=126 Hsr.], Babr. 77, Phaedr. 1,4) und nennen Sie hierbei jeweils formale und
inhaltliche Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede! Was lässt sich durch diesen
Vergleich für die Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen?
Gemeinsamkeiten |
ähnliche Aussage |
gleich Akteure |
Unterschiede |
Aisop. 124 P.: Prosafabel, Phaedrus:
Versfabel |
Aisop. 124 P.: Epimythion, Phaedrus:
Promythion |
Aisop. 124 P.: Stück Fleisch, Phaedrus: Stück
Käse |
Aisop. 124 P.: Rüge des Fuchses am Ende,
Phaedrus: keine Schlussworte des Fuchses |
Im Vergleich zum Phaedrustext hebt
der Fuchs selbst am Ende der Fabel die Dummheit des Raben hervor, indem er ihm
vorwirft, dass es nicht die Stimme ist, die ihm fehlt, sondern der Verstand. Somit
stellt er sich durch seine kluge List bewusst über den Raben, welchen er vorher als
König tituliert hatte. Somit geht der Fuchs in jeglicher Hinsicht als Sieger hervor.
Im Gegensatz zu Phaedrus bleibt die Reaktion des Raben allerdings verborgen.
Gemeinsamkeiten |
beides Versfabeln |
ähnliche Aussage |
gleich Akteure |
Unterschiede |
Babr. 77: weder Pro- noch Epimythion, Phaedrus:
Promythion |
Babr. 77: Schlussworte des Fuchses, Phaedrus:
keine Schlussworte des Fuchses |
Die Fabel des Babrios ähnelt der
Aesop-Fabel stark. Auch hier wird dem Raben geschmeichelt, bis er den Käse fallen
lässt. Am Ende erwarten ihn ebenso schmachvolle Worte vom Fuchs, doch auch in dieser
Fabel zeigt er keine Reaktion auf den Hohn.
Aspekt der Beobachtung |
Gestohlener Gegenstand |
Schmeichelei des Fuchses |
Inhalt der Schmeichelei |
Reaktion des Raben |
Inhalt der letzten Verse |
Epimythion |
Aesop |
Fleisch |
Indirekte Rede |
„Könnte König der Vögel sein“ |
R. krächzt |
Wörtl. Rede des Fuchses: „Verstand fehlt
dir.“ |
Unverständige Menschen |
Babrios |
Käse |
Wörtliche Rede |
Lob der einzelnen Körperteile |
R. krächzt |
Wörtl. Rede des Fuchses: „Verstand fehlt
dir.“ |
|
Phaedrus |
Käse |
Wörtliche Rede |
Schmeichelei von corpus et
vultus und nulla prior ales
|
Kein Laut, nur caseum ore
emisit
|
Rabe wird Akteur und gesteht sich deceptus stupor ein. |
|
Deutung Phaedr. 1,13 |
Eher unwichtig, da Gier nicht im
Vordergrund |
Direkte Rede wirkt „stärker“ --> Schmeichelei
im Mittelpunkt |
Greift beide Aspekte auf: Schmeichelei
wichtig |
Betont Erkenntnis der Täuschung (Dass nur ein
Krächzen käme, weiß der Leser/Hörer) |
Selbsterkenntnis (sic!) der eigenen Dummheit
(Widerspruch in sich); der Rabe ist aber gar nicht so dumm, er war nur über
seinen Verstand hinaus eitel. |
|
Gemeinsamkeiten |
beides Versfabeln |
Gier |
Unterschiede |
Phaedr. 1,4: Epimythion , Phaedrus 1,13:
Promythion |
Phaedr. 1,4: Hund ist selbst verantwortlich
für seinen Schaden, Phaedrus 1,13: Schaden des Raben durch den Fuchs |
Phaedr. 1,4 besitzt zwar eine
komplett unterschiedliche Handlung, allerdings sind die Hauptthemen wie Gier und
Dummheit dieselben. Der Unterschied zu Phaedr. 1,13 besteht in dem Umstand, dass der
Hund gierig war und sich selbst Schaden zugefügt hat. Somit bleibt der Hund der
einzige Akteur der Fabel und vereint Gier und Dummheit in einem. Folglich
intensiviert sich die Aussage der Fabel, da es hier nicht einmal einen Gewinner,
sondern nur einen Verlierer gibt. Es bedurfte keiner psychologischer Kenntnisse oder
eines klugen Plans, um dem gierigen Hund sein Futter zu rauben.
Nehmen Sie Stellung zur These Obergs (Oberg 2000, 65) und erläutern Sie mögliche
Folgen für die Interpretation der Fabel! Inwiefern ist das Verhalten der Akteure
entsprechend Obergs These anders zu bewerten? Verändert sich Ihrer Meinung nach
dadurch die Aussage der Fabel? „Es scheint nicht überflüssig zu sagen, dass es keine
Schmeichelei ist, wenn man etwa den ungefähr bussardgroßen Kolkraben (corvus corax)
mit seinen pechschwarzen, glänzenden Federn einen prächtigen Vogel nennt. Die List
des Fuchses gelingt gerade dadurch, dass er echtes Lob spendet (wenn auch, laut
Vorwort,
verbis subdolis) und anschließend die (notorisch
misstönende) Stimme erwähnt, versteckt in einer irrealen Aussage.“ (Oberg 2000,
65)
Obergs These erklärt, dass das Lob
des Fuchses nicht aus der Luft gegriffen, sondern zu einem gewissen Grad realistisch
ist. Das Verhalten des Raben scheint dadurch nachvollziehbarer zu werden. Zugleich
ist der Fuchs bzw. seine List als noch schlauer zu bewerten, wenn er sich dafür
eines tatsächlichen Lobes bedient. Die Aussage der Fabel scheint sich ein Stück weit
zu verschieben, sodass die (allgemeine) Vorsicht vor Schmeichelei hinter einer
Mahnung zurücktritt, auf die Worte zu achten, mit denen ein Lob ausgesprochen wird,
d.h. die Absicht des Lobenden zu prüfen.
Lesen Sie folgendes Zitat aus der Sekundärliteratur und überlegen Sie, auf
welches der beiden Tiere diese Aussage zutrifft! Formulieren Sie die Aussage danach
mit eigenen Worten! Man muss "die Schlauheit und die Fähigkeit, sein Gegenüber
psychologisch einordnen zu können, bewundern.“ (Gärtner 2015, 168)
Individuelle Antworten. Die Aussage
trifft auf den Fuchs zu. Das Zitat meint, dass es nicht bösartige Hinterlist,
sondern Klugheit ist, dass der Fuchs den Raben von Anfang an so gut einschätzen
kann. Ansonsten hätte seine List keine Früchte getragen. Vielleicht muss nicht der
Rabe verhöhnt, sondern vielmehr der Fuchs bewundert werden.
Bei anderen Fabeln des Phaedrus, in denen die Thematik Schmeichelei und eigenes
Unvermögen thematisiert werden, wird häufig der Vergleich mit andern Dichterkollegen
nahegelegt. Nehmen Sie begründet Stellung, inwiefern der Autor auch die vorliegende
Fabel als Kritik an anderen Dichtern gemeint haben könnte! Beziehen sie dabei auch
folgendes Zitat mit ein: „Eitle Menschen, die sich zu Unrecht für Dichter halten,
erkennen nicht nur falsche Schmeichelei nicht, sie erleiden dazu noch Schaden.“
(Gärtner 2015, 168)
Individuelle Antworten. Wie dem
Zitat zu entnehmen ist, lässt sich diese Fabel auch auf die Dichterkollegen des
Phaedrus übertragen. Die Grundaussage hierbei wäre, dass ein Dichter, der zurecht
ein Meister seines Fachs ist, keiner Schmeichelei bedarf. Fragliche Kollegen
allerdings hören schmeichelnde Worte nur zu gerne und werden vielleicht beeinflusst,
über bestimmte Dinge zu schreiben oder sich an zu schwierige Materialien
heranzuwagen. Gerade in der Antike konnte Dichtern infolge dessen auch großer
Schaden widerfahren.
Die Verse 13–14 sind in der Handschrift D nicht überliefert. Erörtern Sie das
textkritische Problem!
Wahrscheinlich sind diese Verse
unecht und erst später hinzugekommen. Zum einen wäre es ganz ungewöhnlich, dass eine
Fabel ein Pro- und ein Epimythion besitzt. Das Epimythion ist in seiner Aussage
ferner viel allgemeiner als das einheitlich überlieferte Promythion. Ferner findet
sich eine metrische Auffälligkeit, weil in v.13 die Silbe –um vor ingenium nicht elidiert werden darf, da
man sonst eine Silbe zu wenig hat. All dies spricht dafür, diese Verse als unecht zu
streichen.
Vergleichen Sie den Ausgangstext mit der Fabel von Lessing (Lessing 2,15)!
Welche Unterschiede beziehungsweise Gemeinsamkeiten lassen sich feststellen?
Gemeinsamkeiten |
beides Fabeln |
gleiche Akteure |
Unterschiede |
Lessing: Prosa, Phaedrus: Versfabel |
: Lessing: Schlusssatz des Autors, Phaedrus:
Promythion |
Lessing: vergiftetes Fleisch, Phaedrus:
Käse |
Lessing: freiwillige Aufgabe der Beute durch
Raben, Phaedrus: unfreiwillig |
Lessing: Fuchs hat durch List letztendlich den
Schaden, Phaedrus: Rabe hat den Schaden |
Zunächst fallen inhaltliche
Parallelen auf. In beiden Fabeln kommen dieselben Akteure, Fuchs und Rabe, vor.
Außerdem besitzt der auf dem Baum befindliche Rabe eine Beute, die er zuvor geraubt
hat und die ihm vom Fuchs durch eine List abgenommen wird. Unterschiede finden sich
einige, sowohl in den Details als auch im Hinblick auf die Aussage der Fabel. So ist
die Beute bei Phaedrus ein Stück Käse, bei Lessing ein Stück vergiftetes Fleisch.
Auch die List des Fuchses unterscheidet sich in beiden Fabeln: Dem Lob bei Phaedrus
steht die scheinbare Verwechslung bei Lessing gegenüber. Dementsprechend ist auch
das Verhalten des Raben unterschiedlich. Bei Phaedrus ist die Unbedachtheit des
Raben dafür verantwortlich, dass er den Käse fallen lässt, bei Lessing lässt er das
Fleisch absichtlich fallen, um die vermeintliche Täuschung des Fuchses aufrecht zu
erhalten. Im Gegensatz zur Phaedrusfabel, in der der Rabe das Nachsehen hat, ist es
bei Lessing der Fuchs, der für seine List mit dem Tod büßt, während die
Gutgläubigkeit des Raben diesem das Leben rettet. In Verbindung damit lässt sich der
größte Unterschied ausmachen, der sich hinsichtlich der Aussage der jeweiligen Fabel
findet. Während Phaedrus vor Schmeichlern warnt, richtet sich Lessings Fabel gerade
an diese Schmeichler und stellt ihnen einen hohen Preis für ihr schlechtes Verhalten
in Aussicht. Der ausgeprägte moralisierende Aspekt bei Lessing gipfelt in dem
abschließenden Wunsch, die Schmeichler mögen durch ihre Schmeichelei nur Schaden
erleiden. Dieser Wunsch wird vom Autor selbst geäußert und scheint den Rahmen der
Fabel zu einem gewissen Grad aufzubrechen, da er sich deutlich von einem typischen
Epimythion unterscheidet.