Phaedr. 1,13 Phaedrus Förderreihe Sparkling Science, BMBWF Ursula Gärtner Herausgeberin Lukas Spielhofer Korrektur fachwissenschaftlich Encoding Alexander Praxmarer Korrektur fachdidaktisch Peggy Klausnitzer Erarbeitung Grundlage Hannah Platzer Erarbeitung Grundlage Simone Feinig Korrektur Christopher Poms Korrektur Ulrike Kaliwoda Korrektur Nora Kohlhofer Korrektur Institut für Antike, FB Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System Creative Commons BY-NC 4.0 Zentrum für Informationsmodellierung, Karl-Franzens-Universität Graz Graz Austria 2017-2019 o:graf.5340 Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Ursula Gärtner Projektleitung Herausgeberin 1st century AD Classical Antiquity Roman Empire Mediterranean Born Digital-Aufarbeitung antiker Textquellen für den Schulunterricht, deren Endprodukt eine wissenschaftliche Schul-Ausgabe, also sozusagen ein wissenschaftlich fundiertes und produziertes, 'digitales Schulbuch' ist. Die Primärtexte sind aus den zitierten Quellen bezogen. Phaedrus Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone A. Guaglianone Torino 1969 Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone, Torino 1969 Gärtner, U. Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln München 2015 (Zetemata 149) Gärtner, U.: Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln, München 2015 (Zetemata 149) Holzberg, N. Die antike Fabel. Eine Einführung Darmstadt 2012 Holzberg, N.: Die antike Fabel. Eine Einführung, Darmstadt 2012 Oberg,E. Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen Stuttgart 2000 Oberg, E.: Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen, Stuttgart 2000 Phaedr. 1,4 Babr. 77 Aisop. 124 P. Lessing. 2,15 Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe, 5. Semester - Kompetenzmodul 5 Heiteres und Hintergründiges Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 5. Semester – Kompetenzmodul 5 Politik und Rhetorik Lateinsechsjährig 6. Klasse (10. Schulstufe), 4. Semester – Kompetenzmodul 4 Witz, Spott, Ironie Lateinsechsjährig 6. Klasse (10. Schulstufe), 4. Semester – Kompetenzmodul 4 Rhetorik, Propaganda, Manipulation Tier-Tier-Fabel Gesellschaft Dummheit Täuschung Schmeichelei Käse List Manipulation Eigennutz

Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.

longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura Fabel-Text
Graz, Austria German Latin Ancient Greek

Fuchs

Rabe

Vulpes vulpes,-is f.: Fuchs. et Corvus corvus,-i m.: Rabe.
Promythion Qui qui: ergänze: is, qui. se laudari gaudet verbis subdolis, subdolus 3: hinterlistig, trügerisch. fere fere (Adv.): ungefähr, fast; hier: meistens. dat poenas poenas dare 1: bestraft werden, büßen. turpi turpis,-e: hässlich; hier: schändlich. paenitentia. paenitentia,-ae f.: Reue.
Exposition 1 cum de fenestra fenestra,-ae f.: Maueröffnung, Fenster. corvus raptum caseum caseus,-i m.: Käse. comesse comedere 3,-edi,-esum: verzehren. vellet, celsa residens residere 2,-sedi,-sessum: sitzen. arbore, vulpes hunc vidit, deinde sic coepit loqui:
Actio „o qui tuarum, corve, pennarum penna,-ae f.: Feder. est nitor! nitor,-oris m.: Schönheit; Glanz. quantum decoris decor,-oris m.: Zierde, Anmut. corpore corpore: Ablativus limitationis. Übersetze: in corpore et vultu. et vultu geris! si vocem haberes, nulla prior ales ales,-itis m./f.: Vogel. foret“. foret = esset
Reactio at ille stultus, stultus 3: dumm, töricht. dum vult vocem ostendere, emisit emittere 3,-misi,-missum: fallen lassen. ore caseum, quem celeriter dolosa dolosus 3: listig. vulpes avidis avidus 3: gierig. rapuit dentibus.
Schlussbemerkung/Epimythion tum demum demum (Adv.): erst, endlich. ingemuit ingemiscere 3, ingemui: seufzen. corvi deceptus decipere M,-cepi,-ceptum: täuschen. stupor. stupor,-oris m.: Dummheit.
Epimythion [hac re probatur probare 1,-avi,-atum: beweisen. quantum ingenium ingenium,-i n.: Begabung. valet; valere 2,-ui,-iturus: vermögen. virtute semper praevalet praevalere 2,-valui: überlegen sein. sapientia.] sapientia,-ae f.: Weisheit.
Der Fuchs und der Rabe

Derjenige, der sich darüber freut, dass er mit hinterlistigen Worten gelobt wird, büßt meist mit schmachvoller Reue. Als der Rabe das aus einem Fenster geraubte Stück Käse essen wollte, während er auf einem hohen Baum saß, [5] sah der Fuchs diesen und begann dann folgendermaßen zu sprechen:

„Oh Rabe, welch Glanz besitzen deine Federn! Wie viel Anmut trägst du in Gestalt und Antlitz! Wenn du eine Stimme hättest, wäre kein Vogel vor dir.“

Aber jener ließ töricht [10] den Käse aus dem Schnabel fallen, während er seine Stimme zeigen wollte, den der hinterlistige Fuchs schnell mit seinen gierigen Zähnen raubte. Da erst seufzte die getäuschte Dummheit des Raben.

[Durch diese Sache wird bewiesen, wie viel Begabung vermag; Weisheit ist der Tüchtigkeit immer überlegen.]

Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!

Wer sich über Heucheleien freut, muss es später bereuen. Der Rabe raubt einen Käse von einem Fenster. Als er sich damit auf einen Baum setzt, um ihn zu essen, kommt der Fuchs, der ihm den Käse wegnehmen will. Er sagt, jener hätte ein schönes Gefieder, eine schöne Gestalt und wenn er dazu auch noch eine (schöne) Stimme hätte, wäre er der beste Vogel. Der Rabe will dem Fuchs seine Stimme präsentieren. Durch das Öffnen des Schnabels fällt das Käsestück heraus und der Fuchs schnappt es sich. Der Rabe ärgert sich daraufhin bitterlich über seine eigene Dummheit.

Gliedern Sie den Ausgangstext nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Nennen Sie auffällige Unterschiede und Gemeinsamkeiten!

Promythion: 1–2

Exposition: 3–5

Actio: 6–8

Reactio: 9–11

Schlussbemerkung/Epimythion: 12

[Epimythion: 13–14]

Die Fabel folgt dem typischen Aufbauschema. Allein die Verse 13–14 stellen ein Problem dar, da in weiterer Folge sowohl ein Pro- als auch ein Epimythion vorhanden wären (s. Frage 11).

Erläutern Sie, welche Deutung durch das Promythion nahegelegt wird!

Das Promythion bietet eine thematische Einleitung für die kommende Handlung. Es legt nahe, dass derjenige, der gerne schmeichelnde Worte hört, eine Strafe erfahren wird. Der Diebstahl des Fuchses wird in keinem Wort erwähnt und in weiterer Folge nicht als böse oder moralisch schlecht kategorisiert. Die Eitelkeit des Raben, der sich hat täuschen lassen, scheint eine gerechte Strafe zu erhalten.

Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel in der Fabel: Hyperbaton, Exclamatio (Ausruf)(2x), Hendiadyoin, Enallage (2x)! Welche Bedeutung haben sie für die Interpretation der Fabel?

Hyperbaton: v.4, celsa arbore: celsa steht vor arbore, wodurch die Höhe des Baumes noch mehr unterstrichen und in den Vordergrund gestellt wird.

Exclamatio: vv.6–7, o, corve: Dieser Ausruf bzw. Anruf des Raben lässt die Schmeichelei affektierter wirken und verstärkt sie dadurch.

Exclamatio: v.7, quantum: Auch bei diesem Stilmittel liegt die Betonung auf der Verstärkung der Schmeichelei; es hat eine hervorhebende Wirkung.

Hendiadyoin: v.7, corpore et vultu: Durch die Verwendung von zwei semantisch ähnlichen Wörtern kommt es zu einem Ausdruck der Verstärkung der Schmeichelei.

Enallage: v.11, avidis dentibus: Hierbei handelt es sich um eine Enallage: Man kann feststellen, dass nicht die Zähne gierig sind, sondern der Fuchs. Dieser ist sehr gierig nach dem Käse und somit nach der Beute, was ihm durch das Austricksen des Raben auch gelingt.

Enallage: v.12, ingemuit corvi deceptus stupor: Besonders auffällig ist die Enallage. Natürlich wurde in diesem Fall nicht die Dummheit des Raben, sondern der Rabe selbst getäuscht. Das Stilmittel, also die Verbindung der beiden Wörter deceptus und stupor, gibt dem Vers allerdings eine gewisse Gewichtigkeit mit und unterstützt das Promythion bzw. die Aussage der Fabel.

Nehmen Sie Stellung zu dem textkritischen Problem in v.2: Die wichtige Handschrift P bietet fere paenitentia, die Handschrift D serae paenitentiae! Inwiefern ist die Entscheidung hier bedeutungstragend?

fere […] paenitentia scheint serae […] paenitentiae vorzuziehen zu sein. Einerseits beinhaltet fere sowohl den Aspekt der Allgemeingültigkeit, was sich in das Promythion einfügt, als auch den Hinweis, dass es Ausnahmen von dieser allgemeinen Regel gibt, was sinnvoll erscheint. Mit serae paenitentiae von zu später Reue zu sprechen, wäre zwar auch sehr passend, allerdings wird dadurch die Zuordnung von turpi sowie die gesamte Konstruktion durch den Dativ problematisch. Vermutlich hat ein Abschreiber statt fere fälschlich sere (=serae) geschrieben und paenitentiae dem vermeintlichen Dativ angepasst.

Welche Eigenschaften werden dem Fuchs und dem Raben jeweils zugeschrieben? Ordnen Sie den beiden Akteuren je zwei entsprechende lateinische Adjektive aus dem Text zu!

Fuchs: dolosa (v.11), avidis (v.11). Der Fuchs wird in der Fabel des Phaedrus als ein hinterlistiger, trügerischer und manipulativer, aber auch kluger Charakter dargestellt. Er täuscht sein Gegenüber, sodass er ohne großen Aufwand zur Nahrung gelangt.

Rabe: stultus (v.9), deceptus (v.12). Rabe: Dem Raben können in dieser Fabel die Eigenschaften Dummheit, Naivität (vv. 9–10; 12) und Eitelkeit (vv.9–10) zugeschrieben werden. Er lässt sich durch die schmeichelnden Worte des Fuchses täuschen und verliert deshalb das wieder, was er zuvor unrechtmäßig erbeutet hat.

Die Fabel ist auch in zwei griechischen Versionen überliefert, bei Aesop und Babrios. Ziehen Sie außerdem eine andere Fabel des Phaedrus als Vergleichstext hinzu. Vergleichen Sie den Ausgangstext mit den Vergleichstexten (Aisop. 124 P. [=126 Hsr.], Babr. 77, Phaedr. 1,4) und nennen Sie hierbei jeweils formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen? Gemeinsamkeiten ähnliche Aussage gleich Akteure Unterschiede Aisop. 124 P.: Prosafabel, Phaedrus: Versfabel Aisop. 124 P.: Epimythion, Phaedrus: Promythion Aisop. 124 P.: Stück Fleisch, Phaedrus: Stück Käse Aisop. 124 P.: Rüge des Fuchses am Ende, Phaedrus: keine Schlussworte des Fuchses

Im Vergleich zum Phaedrustext hebt der Fuchs selbst am Ende der Fabel die Dummheit des Raben hervor, indem er ihm vorwirft, dass es nicht die Stimme ist, die ihm fehlt, sondern der Verstand. Somit stellt er sich durch seine kluge List bewusst über den Raben, welchen er vorher als König tituliert hatte. Somit geht der Fuchs in jeglicher Hinsicht als Sieger hervor. Im Gegensatz zu Phaedrus bleibt die Reaktion des Raben allerdings verborgen.

Gemeinsamkeiten beides Versfabeln ähnliche Aussage gleich Akteure Unterschiede Babr. 77: weder Pro- noch Epimythion, Phaedrus: Promythion Babr. 77: Schlussworte des Fuchses, Phaedrus: keine Schlussworte des Fuchses

Die Fabel des Babrios ähnelt der Aesop-Fabel stark. Auch hier wird dem Raben geschmeichelt, bis er den Käse fallen lässt. Am Ende erwarten ihn ebenso schmachvolle Worte vom Fuchs, doch auch in dieser Fabel zeigt er keine Reaktion auf den Hohn.

Aspekt der Beobachtung Gestohlener Gegenstand Schmeichelei des Fuchses Inhalt der Schmeichelei Reaktion des Raben Inhalt der letzten Verse Epimythion Aesop Fleisch Indirekte Rede „Könnte König der Vögel sein“ R. krächzt Wörtl. Rede des Fuchses: „Verstand fehlt dir.“ Unverständige Menschen Babrios Käse Wörtliche Rede Lob der einzelnen Körperteile R. krächzt Wörtl. Rede des Fuchses: „Verstand fehlt dir.“ Phaedrus Käse Wörtliche Rede Schmeichelei von corpus et vultus und nulla prior ales Kein Laut, nur caseum ore emisit Rabe wird Akteur und gesteht sich deceptus stupor ein. Deutung Phaedr. 1,13 Eher unwichtig, da Gier nicht im Vordergrund Direkte Rede wirkt „stärker“ --> Schmeichelei im Mittelpunkt Greift beide Aspekte auf: Schmeichelei wichtig Betont Erkenntnis der Täuschung (Dass nur ein Krächzen käme, weiß der Leser/Hörer) Selbsterkenntnis (sic!) der eigenen Dummheit (Widerspruch in sich); der Rabe ist aber gar nicht so dumm, er war nur über seinen Verstand hinaus eitel.
Gemeinsamkeiten beides Versfabeln Gier Unterschiede Phaedr. 1,4: Epimythion , Phaedrus 1,13: Promythion Phaedr. 1,4: Hund ist selbst verantwortlich für seinen Schaden, Phaedrus 1,13: Schaden des Raben durch den Fuchs

Phaedr. 1,4 besitzt zwar eine komplett unterschiedliche Handlung, allerdings sind die Hauptthemen wie Gier und Dummheit dieselben. Der Unterschied zu Phaedr. 1,13 besteht in dem Umstand, dass der Hund gierig war und sich selbst Schaden zugefügt hat. Somit bleibt der Hund der einzige Akteur der Fabel und vereint Gier und Dummheit in einem. Folglich intensiviert sich die Aussage der Fabel, da es hier nicht einmal einen Gewinner, sondern nur einen Verlierer gibt. Es bedurfte keiner psychologischer Kenntnisse oder eines klugen Plans, um dem gierigen Hund sein Futter zu rauben.

Nehmen Sie Stellung zur These Obergs (Oberg 2000, 65) und erläutern Sie mögliche Folgen für die Interpretation der Fabel! Inwiefern ist das Verhalten der Akteure entsprechend Obergs These anders zu bewerten? Verändert sich Ihrer Meinung nach dadurch die Aussage der Fabel? „Es scheint nicht überflüssig zu sagen, dass es keine Schmeichelei ist, wenn man etwa den ungefähr bussardgroßen Kolkraben (corvus corax) mit seinen pechschwarzen, glänzenden Federn einen prächtigen Vogel nennt. Die List des Fuchses gelingt gerade dadurch, dass er echtes Lob spendet (wenn auch, laut Vorwort, verbis subdolis) und anschließend die (notorisch misstönende) Stimme erwähnt, versteckt in einer irrealen Aussage.“ (Oberg 2000, 65)

Obergs These erklärt, dass das Lob des Fuchses nicht aus der Luft gegriffen, sondern zu einem gewissen Grad realistisch ist. Das Verhalten des Raben scheint dadurch nachvollziehbarer zu werden. Zugleich ist der Fuchs bzw. seine List als noch schlauer zu bewerten, wenn er sich dafür eines tatsächlichen Lobes bedient. Die Aussage der Fabel scheint sich ein Stück weit zu verschieben, sodass die (allgemeine) Vorsicht vor Schmeichelei hinter einer Mahnung zurücktritt, auf die Worte zu achten, mit denen ein Lob ausgesprochen wird, d.h. die Absicht des Lobenden zu prüfen.

Lesen Sie folgendes Zitat aus der Sekundärliteratur und überlegen Sie, auf welches der beiden Tiere diese Aussage zutrifft! Formulieren Sie die Aussage danach mit eigenen Worten! Man muss "die Schlauheit und die Fähigkeit, sein Gegenüber psychologisch einordnen zu können, bewundern.“ (Gärtner 2015, 168)

Individuelle Antworten. Die Aussage trifft auf den Fuchs zu. Das Zitat meint, dass es nicht bösartige Hinterlist, sondern Klugheit ist, dass der Fuchs den Raben von Anfang an so gut einschätzen kann. Ansonsten hätte seine List keine Früchte getragen. Vielleicht muss nicht der Rabe verhöhnt, sondern vielmehr der Fuchs bewundert werden.

Bei anderen Fabeln des Phaedrus, in denen die Thematik Schmeichelei und eigenes Unvermögen thematisiert werden, wird häufig der Vergleich mit andern Dichterkollegen nahegelegt. Nehmen Sie begründet Stellung, inwiefern der Autor auch die vorliegende Fabel als Kritik an anderen Dichtern gemeint haben könnte! Beziehen sie dabei auch folgendes Zitat mit ein: „Eitle Menschen, die sich zu Unrecht für Dichter halten, erkennen nicht nur falsche Schmeichelei nicht, sie erleiden dazu noch Schaden.“ (Gärtner 2015, 168)

Individuelle Antworten. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, lässt sich diese Fabel auch auf die Dichterkollegen des Phaedrus übertragen. Die Grundaussage hierbei wäre, dass ein Dichter, der zurecht ein Meister seines Fachs ist, keiner Schmeichelei bedarf. Fragliche Kollegen allerdings hören schmeichelnde Worte nur zu gerne und werden vielleicht beeinflusst, über bestimmte Dinge zu schreiben oder sich an zu schwierige Materialien heranzuwagen. Gerade in der Antike konnte Dichtern infolge dessen auch großer Schaden widerfahren.

Die Verse 13–14 sind in der Handschrift D nicht überliefert. Erörtern Sie das textkritische Problem!

Wahrscheinlich sind diese Verse unecht und erst später hinzugekommen. Zum einen wäre es ganz ungewöhnlich, dass eine Fabel ein Pro- und ein Epimythion besitzt. Das Epimythion ist in seiner Aussage ferner viel allgemeiner als das einheitlich überlieferte Promythion. Ferner findet sich eine metrische Auffälligkeit, weil in v.13 die Silbe –um vor ingenium nicht elidiert werden darf, da man sonst eine Silbe zu wenig hat. All dies spricht dafür, diese Verse als unecht zu streichen.

Vergleichen Sie den Ausgangstext mit der Fabel von Lessing (Lessing 2,15)! Welche Unterschiede beziehungsweise Gemeinsamkeiten lassen sich feststellen? Gemeinsamkeiten beides Fabeln gleiche Akteure Unterschiede Lessing: Prosa, Phaedrus: Versfabel : Lessing: Schlusssatz des Autors, Phaedrus: Promythion Lessing: vergiftetes Fleisch, Phaedrus: Käse Lessing: freiwillige Aufgabe der Beute durch Raben, Phaedrus: unfreiwillig Lessing: Fuchs hat durch List letztendlich den Schaden, Phaedrus: Rabe hat den Schaden

Zunächst fallen inhaltliche Parallelen auf. In beiden Fabeln kommen dieselben Akteure, Fuchs und Rabe, vor. Außerdem besitzt der auf dem Baum befindliche Rabe eine Beute, die er zuvor geraubt hat und die ihm vom Fuchs durch eine List abgenommen wird. Unterschiede finden sich einige, sowohl in den Details als auch im Hinblick auf die Aussage der Fabel. So ist die Beute bei Phaedrus ein Stück Käse, bei Lessing ein Stück vergiftetes Fleisch. Auch die List des Fuchses unterscheidet sich in beiden Fabeln: Dem Lob bei Phaedrus steht die scheinbare Verwechslung bei Lessing gegenüber. Dementsprechend ist auch das Verhalten des Raben unterschiedlich. Bei Phaedrus ist die Unbedachtheit des Raben dafür verantwortlich, dass er den Käse fallen lässt, bei Lessing lässt er das Fleisch absichtlich fallen, um die vermeintliche Täuschung des Fuchses aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz zur Phaedrusfabel, in der der Rabe das Nachsehen hat, ist es bei Lessing der Fuchs, der für seine List mit dem Tod büßt, während die Gutgläubigkeit des Raben diesem das Leben rettet. In Verbindung damit lässt sich der größte Unterschied ausmachen, der sich hinsichtlich der Aussage der jeweiligen Fabel findet. Während Phaedrus vor Schmeichlern warnt, richtet sich Lessings Fabel gerade an diese Schmeichler und stellt ihnen einen hohen Preis für ihr schlechtes Verhalten in Aussicht. Der ausgeprägte moralisierende Aspekt bei Lessing gipfelt in dem abschließenden Wunsch, die Schmeichler mögen durch ihre Schmeichelei nur Schaden erleiden. Dieser Wunsch wird vom Autor selbst geäußert und scheint den Rahmen der Fabel zu einem gewissen Grad aufzubrechen, da er sich deutlich von einem typischen Epimythion unterscheidet.