Phaedr. 1,03 [Zurück zur Übersicht.]
Zitiervorschlag: Phaedrus, Phaedr. 1,03, in: Grazer Repositorium antiker Fabeln, hrsg. v. Ursula Gärtner, Graz 2020.
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:graf.5310.
Zitiervorschlag: Phaedrus, Phaedr. 1,03, in: Grazer Repositorium antiker Fabeln, hrsg. v. Ursula Gärtner, Graz 2020.
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:graf.5310.
Aesop schrieb diese Fabel, damit man nicht danach strebt, sich mit fremden Ehren zu schmücken, sondern sich mit seiner eigenen Stellung abfindet. Eine hochmütige Dohle schmückte sich mit den Federn, die ein Pfau verloren hatte. Dann verließ sie die anderen Dohlen und ging zu den Pfauen, um unter ihnen zu leben. Die Pfauen rissen ihr die Federn aus und jagten sie fort. Als die Dohle dann wieder zu ihrer Sippe zurückkehrte, wurde sie von dieser verstoßen. Eine der anderen Dohlen sagte zu ihr abschließend, dass sie all dieses Leid und diese Schmach vermeiden hätte können, wäre sie nur mit den ihr naturgegebenen Dingen zufrieden gewesen.
Promythion: 1–3
Exposition: 4–6a
Actio 1: 6b–7
Reactio 1: 8–9a
Actio 2: 9b–10
Reactio 2: 11
Abschließender Teil/Ergebnis 12–16
Die Fabel entspricht an sich dem üblichen Schema. Auffällig ist, dass der Actio/Reactio-Teil verdoppelt ist und, dass die Rede der zweiten Dohle am Ende in ihrer Allgemeinheit einem Epimythion ähnelt.
Wer sich nicht mit seinem natürlichen Platz in der Welt abfinden will und hochmütig nach Dingen strebt, die ihm nicht eigen sind bzw. sein können, der fällt tief. Im konkreten Fall sind zwei Punkte im Verhalten der Dohle besonders entscheidend für ihren Sturz, die beide in Verbindung mit superbia stehen: Einerseits, dass die Dohle versucht, ihren natürlichen Platz zu verlassen, andererseits, dass sie ihre natürliche Stellung (und alle, die sich in derselben Stellung befinden) verschmäht. Der Aspekt der Täuschung tritt, obwohl moralisch verwerflich, hinter die superbia zurück.
Hyperbaton (2x): v.4, tumens […] graculus; inani […] superbia: Die parallele Sperrung dieser beiden Begriffspaare hat eine zweifache Wirkung: Einerseits wird dadurch nahezu greifbar, wie tumens die Dohle ist, zumal sie völlig umgeben von der superbia regelrecht aufgeplustert wirkt. Andererseits wird auch deutlich, wie eng verwoben diese Aufgeblasenheit und der sie verursachende Hochmut sind.
Alliteration: v.5, pennas pavoni: Durch das Vorziehen des Wortes pavoni vor das Relativpronomen, direkt hinter das am Zeilenanfang betont stehende pennas, und die sich daraus ergebende Alliteration treten dem Leser gleich und eindrucksvoll die prachtvollen Pfauenfedern vor Augen, sodass die superbia am Ende des vorangehenden Verses besonders unterstrichen wird.
Anapher: vv.15–16, nec […] nec: Durch die besonders betonte Wiederholung am Versanfang wirkt das erlittene Schicksal schwerer. Gleichzeitig wird dadurch die Vermeidbarkeit dieser beiden Übel unterstrichen.
mulcatus ist multatus vorzuziehen, da es inhaltlich naheliegender ist, dass die Pfauen die Dohle mit den Schnäbeln übel zurichten. Dass die Dohle auch male multatus, schwer bestraft, ist, ist natürlich naheliegend. Allerdings folgt die gesteigerte, zweite Bestrafung durch die anderen Dohlen erst noch, weshalb es eher abwegig scheint, diese erste Strafe durch das male als besonders schlimm darzustellen. Vermutlich hat ein Abschreiber das seltenere mulcare mit multare verwechselt.
Dohle (Protagonistin): Die Dohle ist hochmütig und unbedacht. Sie will ihren natürlichen Platz verlassen, verschmäht ihre eigene Art/Sippe, bedient sich einer wenig erfolgversprechenden List und fällt aus diesem Grund tief. Dohle (Schlussrednerin): Diese zweite, weitaus besonnenere Dohle, gibt mit ihrer Rede sowohl eine Zusammenfassung der Handlung als auch eine mit einem Epimythion vergleichbare Schlussrede, die die Aussage der Fabel nochmals unterstreicht. Die unterschiedlichen Verhaltensweisen der beiden Dohlen bewirken außerdem, dass die Zuschreibung charakteristischer Eigenschaften zu einem Tier/einer Art Tier hier nicht möglich ist. Die Dohle wird also nicht als Typ dargestellt. Pfau: Der Pfau ist charakterisiert durch seine Schönheit und symbolisiert mit dieser ein erstrebenswertes Ideal. Pfau (3,18): Wiederum ist der Pfau durch seine Schönheit gekennzeichnet. Allerdings steht der Pfau in dieser Fabel der Dohle (Protagonistin) in 1,3 nahe, da er mit dem Naturgegebenen nicht zufrieden ist und versucht, mit der Klage, die auch einen gewissen Hochmut erkennen lässt, von Iuno eine Stellung zu erlangen, die ihm fremd ist. Das grundlegende Streben von Dohle (Protagonistin) (1,3) und Pfau (3,18) ist also verwandt, der Ausgang bzw. die Folgen dieses Strebens unterscheiden sich dahingehend, dass der dem Pfau (3,18) angekündigte Schaden die Dohle in 1,3 mit voller Wucht trifft. (Eigentlich sollte man, wenn die Anordnung der Fabeln korrekt ist und man von wiederkehrenden Akteuren ausgeht, meinen, der Pfau aus 1,3 habe aus dem Verhalten der Dohle gelernt und müsste es besser wissen (vgl. 3,18 sowie 1,7).)
Gemeinsamkeiten | formal: beide Fabeln | inhaltlich: je 2 Gruppen von Vögeln | inhaltlich: Dohle als Akteur, Verschmähung der Artgenossen | |
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Unterschiede | formal: Aisop. 123 P.: Prosa, Phaedrus: Versfabel | formal: Aisop. 123 P.: Epimythion, Phaedrus: Promythion | inhaltlich: Aisop. 123. P.: Verhalten der Dohle teilweise gerechtfertigt, Phaedrus: Dohle hochmütig, Täuschung | inhaltlich: Aisop. 123. P.: Auswanderung, Phaedrus: gesellschaftliche Stellung |
Gemeinsamkeiten | formal: beide Fabeln | inhaltlich: Dohle als Akteur, fremde Federn | |||
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Unterschiede | formal: Aisop. 101 P.: Prosa, Phaedrus: Versfabel | formal: Aisop. 101 P.: Epimythion, Phaedrus: Promythion | inhaltlich: Aisop. 101. P.: viele/alle Vögel, Phaedrus: 2 Gruppen/Arten | inhaltlich: Aisop. 101. P.: Wettbewerb vor Zeus, Phaedrus: Aufnahme in Gruppe | inhaltlich: Aisop. 101. P.: Geld, Phaedrus: gesellschaftliche Stellung |
Inhaltlich gibt es einige grundlegende Gemeinsamkeiten. In beiden Fabeln geht es um zwei Gruppen von Vögeln, wobei eine dieser Gruppen aus Dohlen besteht. In beiden Fabeln verschmäht eine der Dohlen ihre Artgenossen und versucht in die andere Vogelgemeinschaft aufgenommen zu werden, wobei sie jeweils zunächst aus ihrer Wahlheimat, dann, nach der Rückkehr, von ihren Artgenossen verstoßen wird. Zwei inhaltliche Unterschiede treten besonders prominent hervor: Das Verhalten der Dohle der collectio Augustana ist zum Teil gerechtfertigt bzw. nachvollziehbar, da sie größer als ihre Artgenossen ist und keinen Betrug begeht. Auch ist der Wunsch der Dohle gerade unter Raben zu leben aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Größe und der Tatsache, dass Dohlen und Raben derselben Vogelfamilie angehören, nicht abwegig. Die Dohle des Phaedrus hingegen unterscheidet sich nicht auf solche Weise von ihren Artgenossen, schmückt sich mit fremden Federn und versucht in eine Gruppe aufgenommen zu werden, wo sie nicht hingehört.
In beiden Fabeln bedient sich die Dohle derselben List, sich mit fremden Federn zu schmücken, um ein Ziel zu erreichen, das ihrer natürlichen Anlage nicht entspricht. Ein Unterschied besteht darin, dass sich die Dohle in der collectio Augustana mit den Federn mehrerer verschiedener Vögel schmückt. In der Fabel der collectio Augustana findet sich mit dem von Zeus angesetzten Wettbewerb ein neutrales Ziel, das von allen Vögeln angestrebt wird, und mit Zeus selbst eine neutrale Urteilsinstanz. Dadurch ist das Verhalten sowohl der Dohle als auch der übrigen Vögel nachvollziehbar und wohl am ehesten durch Ehrgeiz motiviert. Im deutlichen Gegensatz steht die Dohle bei Phaedrus, angetrieben allein durch ihre superbia (v.4). Im Gegensatz zu den Pfauen bei Phaedrus reagieren die Vögel beim Wettbewerb erst auf den fremden Schmuck, als die Dohle damit zur Siegerin gewählt zu werden droht.
Da eine nota den Verlust von öffentlichem Ansehen bedeutete, wird der gesellschaftliche Aspekt der Fabel unterstrichen. Da es sich bei der nota um die Aufgabe bzw. Amtsbefugnis einer typisch römischen Instanz, des censor, handelt, wird die Fabel in einen römischen Rahmen und in Bezug zum römischen Wertesystem gesetzt. Dadurch erklärt sich auch das Verhalten der Akteure: Das Verhalten der Pfauen (Nobilität) gegenüber der Dohle, dem Emporkömmling (homo novus), ist naturgemäß abweisend. Die von den Dohlen verhängte nota lässt sich mehrfach begründen: sowohl durch das standesspezifische Fehlverhalten als auch durch den Betrug der Dohle. Ferner könnte die superbia im vorliegenden Ausmaß wohl als „persönliches/privates Fehlverhalten“ verstanden werden.
Geht man von der Korrektheit der überlieferten Fabelreihenfolge aus, steht die Fabel (Phaedr. 1,3) von diesen drei Texten an dritter Stelle. Im Prolog wird Aesop der Erfinder des Stoffes genannt, den Phaedrus in seinen Fabeln bearbeitet. In der Fabel Phaedr. 1,2 tritt Aesop in der Rahmenhandlung auf und erzählt den Athenern eine Fabel. In der vorliegenden Fabel wird gesagt, dass diese Fabel von Aesop stammt. Aesop rückt also immer mehr in den Hintergrund. Hinzu kommt, dass, obwohl sich in der collectio Augustana mehrere ähnliche Fabeln finden lassen, gerade diese Fabel von der Dohle und den Pfauen nicht vorkommt und vielleicht von Phaedrus selbst erfunden ist. Phaedrus versieht diese Fabel demnach mit Aesops Namen, verwendet ihn also hier fast wie ein Pseudonym. Mit der Entwicklung des Aesop in diesen drei Texten am Anfang des ersten Buches scheint Phaedrus erklären zu wollen, dass dieser zwar der Erfinder der Fabel ist, er selbst aber Neues im Bereich dieser aesopischen Fabeln schafft bzw. schaffen wird.
Zwischen den beiden Fabeln besteht die grundlegende Gemeinsamkeit, dass sich jeweils ein Vogel (aus der Familie der Rabenvögel) mit den Federn von Pfauen schmückt und sich anschließend unter diese mischt. Dennoch gibt es zahlreiche Unterschiede. Diese betreffen sowohl die unterschiedlichen Protagonisten, Dohle und Krähe, als auch viele Punkte der Handlung. So gibt es zwar in beiden Fabeln eine Gruppe von Pfauen, jedoch fehlt bei Lessing die Gruppe der Artgenossen der Protagonistin, die bei Phaedrus entscheidend zur Motivation der Akteurin, zur Bewertung ihrer Handlung und schließlich zur Interpretation der Fabel beiträgt. Dementsprechend kann die Protagonistin auch nicht aufgrund ihrer Handlungen von der eigenen Gruppe verstoßen werden, was in der Phaedrusfabel die schwerwiegendere bzw. eigentliche Strafe des Akteurs darstellt. Dennoch lässt sich bei Lessing durch das Schmücken mit fremden Federn und dem Einschleichen in die fremde Gruppe der Aspekt der sozialen Hierarchie und damit verbunden auch der Versuch der Protagonistin erkennen, darin aufzusteigen. Allerdings sind es bei Lessing die Pfauen als sozial höhere Gruppe, die dem Emporkömmling zur Strafe und trotz dessen Flehen auch seinen eigenen Besitz entreißen. Das Ergebnis der beiden Fabeln ist also vergleichbar, da die Krähe Lessings, indem ihr auch die eigenen (glänzenden) Federn ausgerissen werden, ihrer Standesattribute beraubt wird und so ihre vormalige soziale Stellung verliert.