Phaedr. 2,02 [Zurück zur Übersicht.]
Zitiervorschlag: Phaedrus, Phaedr. 2,02, in: Grazer Repositorium antiker Fabeln, hrsg. v. Ursula Gärtner, Graz 2020.
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:graf.2787.
Zitiervorschlag: Phaedrus, Phaedr. 2,02, in: Grazer Repositorium antiker Fabeln, hrsg. v. Ursula Gärtner, Graz 2020.
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:graf.2787.
Beispiele lehren, dass Männer von Frauen beraubt werden, ob sie lieben oder geliebt werden: Ein Mann in seinen mittleren Jahren wird von einer alten und einer jungen Frau umgarnt. Weil beide Frauen dem Mann gleich erscheinen wollen, zupfen sie ihm die Haare aus. Getäuscht in der Annahme, die beiden wollten ihn frisieren, hat der Mann am Ende gar keine Haare mehr, da die alte Frau die schwarzen, die junge die grauen Haare ausreißt.
Promythion: 1–2
Exposition: 3–5
Actio: 6–7
Reactio/Schluss: 8–10
Der Aufbau der Fabel 2,2 entspricht nicht ganz dem klassischen Fabelschema: Am Anfang steht zwar ein Promythion, auf das eine Exposition folgt, doch die restlichen Verse lassen sich nicht eindeutig gliedern. Es gibt keine Actio und Reactio im Sinne z.B. einer Rede und einer Gegenrede. Die Actio könnte demnach das Ausreißen der Haare des Mannes durch die beiden Frauen sein, die Reactio die Tatsache, dass sich der Mann am Ende bewusst wird, dass er keine Haare mehr hat. Dies würde dann auch den Schluss darstellen.
Im Promythion wird die Tatsache, dass Frauen Männer, gleich ob diese lieben oder geliebt werden, buchstäblich berauben, in allgemeiner Form ausgedrückt. Da die beiden Frauen dem Mann die Haare ausreißen, stimmt das Promythion aber mit dem Inhalt der Fabel überein. Ferner wird im Promythion die Situation der Männer als aussichtslos gekennzeichnet, da sie, gleich ob sie lieben oder geliebt werden, beraubt werden. Dass Frauen die Männer ausnehmen, die sich in ihrer Liebe um sie mit Geschenken u.Ä. bemühen, entspricht wohl den Erwartungen der Leser als typische Motiv aus der Literatur; dass aber Männer beraubt werden, auch wenn sie geliebt werden, überrascht und erzeugt Spannung. Eigentlich würde man nun für jeden Aspekt ein Beispiel erwarten: Je ein Liebender und ein Geliebter werden beraubt. Das würde die Situation der Männer als unausweichlich erscheinen lassen. Zur Überraschung ist es aber nur ein Mann, der sich als Geliebter und Liebender mit zwei Frauen zugleich eingelassen hat. So ist er am Ende an seinem Zustand selbst schuld. Denn hätte er nur mit einer Frau ein Verhältnis, wäre ihm das Unglück nicht zugestoßen. Anders als durch das Promythion angelegt erscheint der Mann nicht als Opfer, sondern als eitler Dummkopf, der sich selbst in seine missliche Lage gebracht hat..
Litotes/Euphemismus: v.3, non rudis: Durch die Litotes non rudis wird das Alter der alten Frau versteckt, da sie nicht einfach als alt charakterisiert wird, sondern als ,nicht unerfahren‘.
Antithese/Parallelismus: v.10, canos puella, nigros anus: Durch diese Antithese/diesen Parallelismus im letzten Vers wird einerseits der Gegensatz zwischen dem Alter der Frauen, andererseits die Verschiedenartigkeit der Haare des Mannes verdeutlicht; zudem wird die Gleichzeitigkeit und Gleichheit der Handlung der beiden Frauen hervorgehoben.
In Vers 4 bereitet das in den Handschriften überlieferte tegebat Probleme, da ‚bedecken‘ hier mit dem zugehörigen Akkusativobjekt quendam inhaltlich keinen Sinn ergibt. Mehrere neuzeitliche Herausgeber haben daher eine Konjektur vorgenommen. So hat beispielsweise Johann Ludwig Prasch vermutet, dass im Original tenebat gestanden habe; Johannes Scheffer schlug regebat vor. Beide Vorschläge sind inhaltlich möglich; tenebat ist überzeugender, da es das Ansichbinden zum Ausdruck bringt. Ferner lässt sich tegebat aufgrund des ähnlichen Schriftbildes und dem möglichen Bezug auf das folgende annos (die Jahre verbergen/bedecken) leicht als Abschreibfehler davon erklären.
Gemeinsamkeiten | inhaltlich: gleiche Protagonisten | inhaltlich: beide Frauen begehren Mann | inhaltlich: Mann am Ende kahl | ||
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Unterschiede | formal: collectio Augustana - Prosa, Phaedrus - Versfabel | formal: collectio Augustana - Epimythion, Phaedrus - Promythion | inhaltlich: collectio Augustana - Scham wegen Alters, Phaedrus - Geheimhalten des Alters | inhaltlich: collectio Augustana - Ausreißen der Haare nicht näher beschrieben, Phaedrus - Mann glaubt, frisiert zu werden | inhaltlich: collectio Augustana - schwache Pointe, Phaedrus - starke Pointe |
Gemein haben die beiden Fabeln, dass es sich jeweils um die gleichen Protagonisten handelt, einen Mann mittleren Alters, eine junge und eine alte Frau. Beide Frauen begehren den Mann, welcher am Ende kahl ist, da ihm die junge Frau die grauen, die alte Frau die schwarzen Haare ausgerissen hat. Jedoch sind viele Unterschiede auf inhaltlicher und formaler Ebene zu beobachten. So hält die alte Frau bei Phaedrus ihr Alter geheim, in der collectio Augustana wird jedoch betont, dass sich beide Frauen der Tatsache schämen bzw. nicht ertragen, dass das Alter des Mannes nicht ihrem eigenen Alter entspricht. Da bei Phaedrus nicht vorher schon auf die Haare hingewiesen wird, ist die Pointe stärker als in der collectio Augustana, zumal betont wird, dass der Mann glaubt, von den Frauen frisiert zu werden; hierdurch wird erklärt, wie die Frauen überhaupt ihren Plan durchführen konnten; zugleich aber erscheint der Mann auch als eitel und einfältig. Was die formale Ebene betrifft, so unterscheiden sich die beiden Texte dadurch, dass die Fabel aus der collectio Augustana über ein Epimythion verfügt, die Fabel des Phaedrus über ein Promythion; inhaltlich unterscheiden sich die Aussagen stark: In der collectio Augustana ist das Epimythion ganz allgemein, bei Phaedrus ist das Promythion speziell auf die Fabel zugeschnitten (s.o. Frage 3). Schließlich handelt es sich bei der collectio Augustana um Prosa, während die Fabel des Phaedrus eine Versfabel ist.
Gemeinsamkeiten | formal: beide Versfabeln | inhaltlich: gleiche Protagonisten | inhaltlich: Frauen begehren Mann | inhaltlich: Mann am Ende kahl | |
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Unterschiede | formal: Babrios - Epimythion, Phaedrus - Promythion | inhaltlich: Babrios - Hintergrundinformationen zum Mann, Phaedrus - keine Hintergrundinformationen zum Mann | inhaltlich: Babrios - schwache Pointe, Phaedrus - starke Pointe | inhaltlich: Babrios - Alter bekannt, Phaedrus - Geheimhalten des Alters | inhatlich: Babrios - Ausreißen der Haare nicht näher beschrieben, Phaedrus - Mann glaubt, frisiert zu werden |
Gemein haben die beiden Versfabeln, dass es sich jeweils um die gleichen Protagonisten handelt, einen Mann mittleren Alters, eine junge und eine alte Frau. Beide Frauen begehren den Mann, welcher am Ende kahl ist, da ihm die junge Frau die grauen, die alte Frau die schwarzen Haare ausgerissen hat. Jedoch sind viele Unterschiede auf inhaltlicher und formaler Ebene zu beobachten. So liefert uns Babrios mehr Hintergrundinformationen zum Leben des Mannes und zu seinem Alter. Da am Anfang ausdrücklich auf die grauen Haare hingewiesen wird, ist die Pointe bei Babrios außerdem nicht so stark wie bei Phaedrus. In der Fabel des Phaedrus hält die alte Frau ihr Alter geheim und der Mann glaubt, von seinen beiden Geliebten frisiert zu werden, obwohl diese ihn eigentlich seiner gesamten Haarpracht berauben. Was die formale Ebene betrifft, so unterscheiden sich die beiden Texte dadurch, dass die Fabel des Babrios über ein Epimythion verfügt, sofern es echt ist, die Fabel des Phaedrus über ein Promythion; die Aussagen unterscheiden sich: Das Epimythion bei Babrios spricht allgemein über das Mitleid für Männer, die in die Hände von Frauen geraten; das Promythion bei Phaedrus führt durch den Aspekt des Liebens oder Geliebtwerdens noch einen speziellen Aspekt ein (s.o. Frage 3).
Dass die alte Frau nur bei Phaedrus ihr Alter geheim hält, vermittelt dem Leser das Bild einer erfahrenen Frau, die weiß, ihre gepflegte Erscheinung in Szene zu setzen. Im Vergleich mit beiden griechischen Versionen erscheint die Phaedrusfabel sehr ausgefeilt und auf die Pointe zugespitzt.
Am Anfang des zweiten Buchs von Ovids Werk sind genau die beiden Verben in den Formen capta und tenenda zu finden wie in der Phaedrusfabel (tenebat ... ceperat, 4-5). Während es bei Ovid, dessen zweites Buch der Ars sich wie das erste an die Männer richtet, jedoch darum geht, dass eine Frau erst erobert werden muss, bevor der Mann den Versuch starten kann, sie zu halten, bezieht Phaedrus die zwei Verben auf die beiden Frauen, um deren unterschiedliches Verhalten dem Mann gegenüber zu beschreiben. Die alte Frau versucht den Mann zu halten, scheint also eine gewisse Macht über ihn auszuüben, wohingegen die junge Frau ihn erobert und somit seine Liebe gewonnen hat. Dabei fällt außerdem auf, dass sich die beiden Verben tenebat und ceperat an jeweils entgegengesetzten Stellen in den Versen befinden: tenebat steht am Anfang von v.4, in dem es um die alte Frau geht, während ceperat das Ende von v.5 bildet, in dem die junge Frau zentral ist.
Laut der Ovidstelle muss die Geliebte also erobert und festgehalten werden: Dieses Motiv wird bei Phaedrus umgekehrt, da es hier die Frauen sind, die den Mann erobern und festhalten. Vor allem für das Halten gibt Ovid im dritten Buch seiner Ars auch den Frauen genügend Hinweise; insbesondere die ältere Frau bei Phaedrus scheint die Ratschläge des Ovid berücksichtigt zu haben.
Sir Roger L’Estrange hält sich in seiner Fassung eher an die aesopische Variante. Der Aspekt des Promythions bei Phaedrus, dass Frauen einen Mann ausplündern, fehlt; im Epimythion ist vielmehr betont, dass es kühn ist, als Mann zwei Frauen gefallen zu wollen. Witzig ist dabei, dass im Englischen 'bald' (kahl) und 'bold' fast gleich lauten.