Dialect Cultures

Datenbank bairisch-österreichischer Mundartkunst vor 1800

Gattung: Lyrik
Genre:
Autoren:
Komponisten:
Zeitraum Entstehung: 1783
Hauptvariante (Text):
Musikvarianten:
Textvarianten:
Kommentar:

Dass Lindemayr offenbar bis zuletzt mit großem Interesse das Geschehen seiner Zeit verfolgte und literarisch kommentierte, belegt das Lied Von dem Kay oder Nebeln . In den letzten Wochen, vielleicht sogar Tagen seines Lebens entstanden, deutet dieses von einem tiefen Pessimismus getragene Gedicht ein seltenes unheilbringendes Naturphänomen als Symbol einer allgemeinen prekären Lage. 1783 hatten hartnäckige trockene Nebel die Sommermonate hindurch das europäische Wetter beeinträchtigt und nicht nur zu gesundheitlichen Belastungen der Bevölkerung, sondern auch zu massiven (land-)wirtschaftlichen Problemen geführt. Der zunächst nicht bekannte Grund war die verheerende Laki-Spalten-Eruption auf Island, die am 8. Juni 1783 begonnen hatte und deren klimatische Auswirkungen in den folgenden Monaten und Jahren weltweit zu spüren waren. Etwa 12-15 km3 Lava ergossen sich aus über 130 aktiven Kratern im Laufe der nächsten Monate, manchmal in bis zu 1400m hohen Fontänen. Dabei wurden geschätzte 122 Millionen Tonnen Schwefeldioxid als giftige Aerosolwolke in der Stratosphäre freigesetzt. In weiten Teilen Europas lagerte sich in kurzer Zeit etwa eine Tonne Schwefelsäure pro Quadratkilometer in Form eines beißenden trockenen Nebels (Höhenrauch) in der oberen Atmosphäre ab – mit fatalen Konsequenzen für Mensch und Natur. Allein in Island soll in den folgenden Monaten ein Fünftel der Bevölkerung in direkter und weiterer Folge des Ausbruchs zu Tode gekommen sein und auch für andere europäische Länder wie England (23000 Menschen) oder Frankreich (16000) nimmt man drastisch erhöhte Sterbequoten im Sommer an. Für die Habsburgermonarchie liegen keine Schätzungen vor, doch wird hier die Mortalität mit Sicherheit gleichfalls deutlich gestiegen sein. Vergiftungserscheinungen zeigten sich vor allem bei der ländlichen Bevölkerung, die während ihrer harten körperlichen Arbeit im Freien den Dämpfen unmittelbar ausgesetzt war. Besonders auffällig waren in den ersten Sommerwochen das kupferfarbene Licht einer Sonne, in die man mit freiem Auge blicken konnte, und spektakuläre Sonnenauf- und -untergänge. Die Trübung der Sonneneinstrahlung durch den aerosolhaltigen ‚Höhenrauch’ führte letztlich zu einer merkbaren globalen Abkühlung und bedingte einen der kältesten und schneereichsten Winter seit es Temperaturaufzeichnungen gibt. Damit nicht genug: Die Schneeschmelze im folgenden Frühjahr führte in Europa zu gewaltigen Überschwemmungen, die um so zerstörerischer waren, als in den Fluten tonnenschwere Eismassen mitgerissen wurden. Die wirtschaftlichen und sozialen Missstände, die auf die Laki-Katastrophe folgten, werden zu den Ursachen für die Französische Revolution gezählt. Aber nicht nur in Europa und Nordamerika, auch in Afrika, Indien und Japan sind für die folgenden Jahre aufgrund veränderter Niederschläge und niedrigerer Temperaturen Missernten und – daraus resultierend – Hungersnöte registriert worden.
    Lindemayrs letztes Gedicht ist die einzige mir bekannte literarische Arbeit, die unmittelbar die dramatischen Ereignisse der Juni- und Juliwochen 1783 verarbeitet. Als eifriger Leser von Intelligenzblättern und politischen Zeitungen war der Autor mit den geologischen Ursachen der Katastrophe, soweit sie zu diesem Zeitpunkt bekannt waren bzw. vermutet wurden, wohl durchaus vertraut. Für das Rollen-Ich aus dem bäuerlichen Umfeld aber ist die seltsame Wettererscheinung ein unheilvolles Mysterium. So weist es zunächst auf die Abartigkeit des Nebels hin, der sich abhebt von den natürlichen Nebeln des Frühjahrs und Herbsts und sogar Sonne und Mond ein Angst einflößendes Aussehen verleiht. Die blutroten Gestirne werden als böses Omen gedeutet, wie dies in zeitgenössischen Berichten auch aus anderen Gebieten Europas erwähnt wird. Sollte es etwa Vorzeichen eines Kriegs sein? Immerhin lief in dieser Zeit Kaiser Joseph II. zusehends Gefahr, durch Russland in einen Türkenkrieg verwickelt zu werden. Dann würden die – voraussehbar – ohnehin geringen Erträge der diesjährigen Ernte auch noch in den zu erwarteten Abgaben aufgehen. Oder deutet sich ein epidemisches Unglück an, eine Seuche? Schließlich aber identifiziert der bäuerliche Sprecher – im Gegensatz zum kalmierenden Pfarrer (!) – das Naturereignis als Zeichen gegen die neueren gesellschaftspolitischen Entwicklungen, als zwingende Gottesstrafe für die Auswüchse des aufklärerischen Zeitgeists. Explizit angesprochen werden dabei Eckpunkte der josephinischen Reformpolitik wie die Duldung des protestantischen Glaubens (Toleranzpatent 1781), die Klosteraufhebungen (ab 1782), die Aufhebung und Vermögenskonfiskation des Dritten Ordens (1782), die Ehegesetzgebung (Ehepatent 1783), die Abschaffung des Ablasses, das Wallfahrts- und Prozessionsverbot oder die Beschneidung der Pfarrereinkünfte. Das sei der eigentliche Nebel, der dort auftritt, wo man ‚aufzuklären’ vorgibt und sich abwendet von Rom. Auch der katholische Geistliche dürfe bei seiner Predigt nur mehr nebulös – im Sinne dieser falsch verstandenen Aufklärung – formulieren, denn würde er klare Worte finden, käme er in Konflikt mit der Obrigkeit.
Lindemayr setzt also in seinem Lied das natürliche Phänomen eines rätselhaften bedrohlichen Nebels in Beziehung zu den aktuellen Reformen Josephs II., die in paradoxer Umkehrung ihrer ‚aufklärenden’ Intention nur das Licht der Wahrheit vernebeln würden. Und unter dem einzig gültigen lumen veritatis versteht der Lambacher Konventuale selbstredend die katholische Lehre, deren Position in Österreich er von der staatlichen Regierungspolitik und ihren Eingriffen in den Kompetenzbereich der Geistlichkeit massiv bedroht sieht. Mit einer düsteren Prognose schließt das Lied: Die politischen Nebelmacher würden allesamt noch dort enden, wo man den Ursprung des ‚höllischen’ Nebels vermutet. Dass auch dieses Lied in der ersten Werkausgabe vier Jahrzehnte später lediglich in einer zurechtgestutzten Form veröffentlicht werden konnte, bedarf angesichts dieser kritischen Töne keiner weiteren Erklärung.

Leander Kremser führt im Inhaltsverzeichnis seiner nur fragmentarisch erhaltenen Liedersammlung dieses Lied unter dem Namen seines ehemaligen Garstener Mitbruders und Vorgesetzten in Losenstein, P. Robert Plank. Da allerdings Lindemayrs Mitbruder Koloman Fellner das Lied in die Druckvorlage seiner geplanten Edition aufnimmt, kann an dessen Autorschaft kaum Zweifel sein. Auch hier wird sich der Verweis auf Plank, eine musikalische und dichterische Doppelbegabung wie sein Bruder Beda, wohl auf die Komposition beziehen (wie ja auch viele Abschriften der Lindemayr-Vertonungen Aumanns als ‚Autor’ den Florianer Chorherrn nennen, nicht aber den Textdichter). Bei einer im Vergleich zu anderen Arbeiten Lindemayrs ziemlich schmalen Überlieferungsbasis überrascht, dass sich drei unterschiedliche Vertonungen des Lieds erhalten haben. Sie sind nicht zuletzt Beleg für die Brisanz des Texts, der von verschiedenen Komponisten in Musik gesetzt wurde, um ihn unter das Volk zu bringen.

Literatur:
Permalink: http://hdl.handle.net/11471/510.15.306
Zuletzt geändert: am: 30.8.2016 um: 14:19:44 Uhr