Dialect Cultures

Datenbank bairisch-österreichischer Mundartkunst vor 1800

Gattung: Lyrik
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Zeitraum Entstehung: 1750 +/- 5
Hauptvariante (Text):
Musikvarianten:
Textvarianten:
Kommentar:

Der Bauer im Traum ein König , eines der bekanntesten Lieder Lindemayrs, greift das traditionelle Motiv des ‚rusticus imperans’ auf, das in verschiedener Ausformung in der arabischen und europäischen Literatur seit Jahrhunderten erfolgreich verarbeitet worden war: Einem betrunkenen Vertreter der Unterschicht wird in verspottender oder belehrender Absicht vorgegaukelt, plötzlich König zu sein, nach einer kurzen Zeit aber wird er wieder in seinen alten Zustand versetzt, sodass ihm das Erlebte wie ein bizarrer Traum erscheint. Im deutschen Sprachraum besonders beliebt war das Erzählmuster, das uns etwa schon in der Erzählung Vom erwachten Schläfer in 1001 Nacht oder in Shakespeares Der Widerspenstigen Zähmung begegnet, in der Bearbeitung des Jesuiten Jakob Masen, dessen Rusticus imperans zur meistgespielten lateinischen Schulkomödie des 17. Jahrhunderts avancierte. Ludwig Hollonius ( Somnium vitae humanae ) bediente sich des Motivs ebenso wie Jakob Bidermann ( Utopia ), Christian Weise ( Der niederländische Bauer ) und Ludvig Holberg ( Jeppe vom Berge ), um nur die bedeutendsten Arbeiten zu nennen. Auch auf den Salzburger Theatern war der Stoff vom träumenden Bauern des Öfteren auf dem Spielplan, u.a. als Haupthandlung ( Rusticus princeps unius diei von Johann Nepomuk Conrad, 1738). Wichtig für Lindemayr aber war vor allem das Dialektsingspiel "Der wachend-träumende König Riepel" (1749) des Tuchhändlers und späteren Salzburger Bürgermeisters Ignaz Anton Weiser (Vertonung durch Johann Ernst Eberlin), von dem er einzelne Motive in komischer Akzentuierung übernimmt.

Für seine lyrische Bearbeitung des Stoffs verändert Lindemayr die dramatisch-narrative Struktur des Stoffs, die nur in einer balladesken Form vermittelbar wäre, vom Gegenwärtigen in einen rückblickenden Bericht und verzichtet auf die Rahmenhandlung der Inszenierung durch Außenstehende, die im Barocktheater vornehmlich für didaktische Zwecke genutzt worden war. Die Stabilisierung des mittelalterlichen Ordo-Gedankens und die Vanitas-Besinnlichkeit des Lebens als kurzer Traum treten damit etwas zurück zugunsten eines ständesatirischen Anspruchs, der sich nicht allein auf den Bauernspott reduzieren lässt. Denn belachbar wird der Bauerntölpel ja nicht nur durch sein unangemessenes Verhalten im ungewohnten Kontext (indem er Fensterglas und Nachttopf verkennt), sondern eben auch durch seine Anpassung an aristokratische Verhaltensmuster, die karikierend ins Bild gerückt werden. Beinah unmerkbar wechselt das Lied zwischen dritter und vierter Strophe vom erzählenden Bericht einer fiktional erlebten Vergangenheit zur Absichtserklärung, wie sich das Ich verhalten würde, wäre dieser Traum Wirklichkeit geworden. Der in anderen Werken dramatisch effektvolle Moment des Erwachens wird somit stillschweigend übergangen, dafür aber verschärft sich das satirische Potential: Der Bauer denkt nicht daran, aus seiner Erfahrung Lehren zu ziehen und den wunderbaren Standeswechsel zu einer Veränderung zu nutzen. Im Gegenteil, er übernimmt die verachtenswerten Gewohnheiten der Herrschenden und bringt seine eigenen Laster ein. Als König würde er die Regierungsarbeit einem Kanzler übertragen, um sich selbst dem eitlen Nichtstun und der Völlerei hinzugeben, Kritik und unbotmäßiges Verhalten würden mit Grausamkeit und Willkür verfolgt, die Bauern geknechtet und mit Steuern überladen. Legislative und Armee könnten nicht mit seiner Unterstützung rechnen und aus persönlicher Feigheit würde er im Falle des Kriegs ganze Ländereien kampflos überlassen.

Blümml hat in seiner ungedruckt gebliebenen Monographie zur Handschrift XI577B des Stiftsarchivs St. Florian die Ambitionen des Bauern in der letzten Strophe als Hinweis auf die polnische Thronvakanz 1763/64 verstanden und das Lied in diese Zeit datiert. Thematisch wie sprachlich allerdings scheint es einer früheren Schaffensperiode Lindemayrs zugehörig, die noch deutlich von den dialektalen Interludien geprägt war, die er (spätestens) während seiner Salzburger Studienzeit kennen gelernt hat. Tatsächlich scheint sich „Mein Aid i wir no dä Kini in Pohln“ weniger auf eine konkrete historische Situation zu beziehen; es rückt vielmehr eine weitere literarischen Traditionslinie in den Blick, deren Motive im Lied wirksam werden: die Wandertheateradaptionen von Calderóns berühmtem Versdrama La vida es sueño , in dem der zeitlebens eingesperrte Segismundo, Sohn des polnischen Königs Basilius, für einen Tag die Macht über das Reich erhält und, da er die Probe nicht besteht, wieder in den Kerker geworfen wird, wo ihm die Vorfälle wie ein Traum erscheinen. Aufführungen von ‚Prinz Sigismund‘-Dramen sind schon im 17. Jahrhundert zahlreich belegt; besonders beliebt war noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Christian Heinrich Postels Bearbeitung Der Königliche Printz aus Pohlen Sigismundus (1793). Will man die Polen-Anspielung trotzdem auch zeitgeschichtlich deuten, dann als Kritik an der gerade auch im Polnischen sprichwörtlich gewordenen Dekadenz unter dem ‚ausländischen’, aus Sachsen ‚geholten’ Polenkönig aus der Wettinerlinie, August III., unter dessen Regierungszeit das Land bei höchster Prunkentfaltung in den Abgrund geführt wurde. ‚Za króla Sasa jedz, pij i popuszczaj pasa’ (unter dem Sachsenkönig iss, trink und löse den Gürtel) hieß es damals. Zu leben wie ein König in Polen war also Ausdruck einer hemmungslosen Diesseitigkeit, eines Lebens feudaler Ausschweifung bei völliger Vernachlässigung der eigentlichen Aufgabe, der Regierungsgeschäfte. Wenn der Bauer des Lieds also hofft, auch auf den polnischen Thron geholt zu werden, dann wohl vor allem aufgrund dieser Vorstellungen. Er würde sich ebenso verhalten wie der polnische König. Unter diesem Aspekt gewinnt das Lied eine zusätzliche zeitkritische Tendenz: Auch August III. hatte ja die Staatsgeschäfte seinem Premierminister Heinrich von Brühl überlassen, der Sachsen de facto in den Bankrott trieb, das Heer wurde aus Spargründen 1748 auf die Hälfte reduziert (vgl. 6. Strophe), die Opposition 1749 mit Gewalt mundtot gemacht (vgl. 4. Strophe) und 1750 wurden die Steuern und Abgaben massiv erhöht (vgl. 7. Strophe). Bedenkt man diese auffälligen thematischen Parallelen, könnte die Entstehungszeit des Lieds, das Zeitgeschehen geschickt in ein populäres motivisches Gewand kleidet, also deutlich früher, noch in den ersten 1750er Jahren, angesetzt werden, wo es vermutlich zur Faschingsunterhaltung vorgetragen wurde.

Im Volksgesang hat das launige Werk durchaus Verbreitung gefunden und konnte sich offenbar recht lange halten. Das belegen nicht nur zwei Einsendungen aus Niederösterreich im Zuge der Sonnleithner-Sammlung und ein anonymer Flugblattdruck um 1800. Noch 1886 findet es sich in einem obersteirischen handschriftlichen Liederbuch.

Literatur:
Permalink: http://hdl.handle.net/11471/510.15.298
Zuletzt geändert: am: 2.9.2016 um: 12:24:18 Uhr