Salzburg
Der Salzburger Liber ordinarius aus dem Jahre 1198.
Mit aller Wahrscheinlichkeit wurde der Salzburger Liber ordinarius im Jahre 1198 anlässlich der Weihe des zweiten Domes fertig gestellt. Dem Gotteshaus aus Stein sollte auch ein wohlgeordnetes geistiges Haus gegenüberstehen, die sichtbare Architektur sollte ein Pendant im Ordnungsgefüge des liturgischen Handelns haben. Der Erneuerung des Kirchenbaus nach einem verheeen Brand, der auch die meisten Codices zerstörte, sollte eine gründliche Neuordnung der Liturgie entsprechen, in der die spirituelle Architektur des Tages-, Wochen- und Jahreslaufes auch in entsprechenden Erklärungen dargestellt wurde. So wurde der Salzburger Liber ordinarius nicht bloß eine Sammlung von Rubriken und eine Aufzählung von zu persolvieen Gesängen und Gebeten, sondern ein Gesamtkompendium der Consuetudo Salisburgensis, eine umfassende Darstellung all dessen, was wann, wo, wie und vor allem auch warum im Gottesdienst zu geschehen hatte.
Diese liturgische ,Summe' wurde planvoll von einem Priester namens Rudigerus angelegt und ausgeführt. Diesen Rudigerus hat jüngst Robert Klugseder als jenen Salzburger Chorherren identifiziert, der als späterer Passauer Bischof am Entstehen des Liber ordinarius für die Passauer Kathedrale beteiligt war Der Schreiber hat sich an etwas versteckter Stelle inmitten eines Gedichtes für die Nachwelt verewigt:
C lausa vel archana lege tam, sed tibi plana
H inc dubios sana posita
formidine vana.
S cribam presbyterum placato deo Rudigerum.
H aec qui
collegit, et in unum lecta redegit.
Den Salzburger Chorherren war neben der Darstellung des korrekten Ablaufs der Liturgie auch deren theologische Begründung und Erklärung wichtig. Bis in kleinste Details hat Rudigerus Liturgieerklärungen aus zeitgenössischen theologischen Studienwerken in das Regelbuch der Salzburger Liturgie eingefügt. Das große Ausmaß der Kommentare ist im Vergleich zu anderen Libri ordinarii eher ungewöhnlich. Der Sinn der Kommentare war, aufzuzeigen, warum etwas Bestimmtes gebetet, gesungen oder rituell ausgeführt worden ist. Die Darstellung der Begründungen liturgischer Handlungen stellt einen wichtigen, oft nicht beachteten Teilaspekt eines Liber ordinarius dar.
Codex M II 6 der Salzburger Universitätsbibliothek (SAL) enthält die älteste Fassung des Salzburger Ordinarius. In dem Codex befinden sich zudem ein Kalendar sowie ein Computus, die etwas älter als der Hauptteil sind. Der planvoll angelegte Ordinarius trennt die Darstellung der Tagzeitenliturgie einschließlich des Totenoffiziums von der Darstellung des ordo missae und der Messproprien. In die Mitte des Buches ist der Salzburger Messritus samt den Messerklärungen gesetzt. So ergibt sich eine klare dreiteilige Anlage: Tagzeitenliturgie - ordo missae – proprium missae. Das Buch wäre gänzlich unvollständig ohne seine Notation, die ja die Darstellung dessen ist, wie die Liturgie zu erklingen hatte. Alle Incipits von Gesängen sind mit deutschen Neumen Dom-salzburgischer Prägung notiert. Daneben enthält der Codex einen vollständigen Tonar: Am Seitenrand sind zu jeder Antiphon der Psalmton in römischen Ziffern und die Differenz in Form von Neumen angegeben. Das Gleiche gilt für die Introitusgesänge. Da das Layout des Codex so angelegt worden ist, dass in den meisten Fällen für ein Incipit eine ganze Zeile vorgesehen wurde, sind einzelne Stücke in beträchtlicher Länge vorhanden, was vor allem im Gradualteil recht präzise und umfangreiche Schlüsse auf die Notationspraxis im Dom zulässt, die auch charakteristische Differenzen zur unmittelbar benachbarten Benediktinerabtei St. Peter aufweist. Der Textschreiber, Rudigerus, hat beim Schreiben erfreulicherweise auch an die Notation gedacht und genügend Platz für Mehrtonneumen und Melismen gelassen. Seltene und wenig bekannte Gesänge sind mitunter auch vollständig vorhanden.
Dieser Liber ordinarius ist ein Zeugnis für 400 Jahre lebendige Liturgie und von deren Entwicklungen. Er weist zahlreiche Ergänzungen, Streichungen und Umarbeitungen auf. Den Urzustand von 1198 kann man glücklicherweise durch die Abschriften, in denen an anderer Stelle und weitaus weniger korrigiert worden ist, mühelos rekonstruieren. Es sind dies der Ordinarius von Ranshofen Bayerische Staatsbibliothek München Clm 12635 (RA) und der Ordinarius von Suben, der später nach Vorau kam und dort für die Vorauer Liturgie umgearbeitet worden ist (Vorau Codex 99, VO). Der Ranshofener Codex ist eine vollständige Abschrift, das Vorauer Exemplar enthält nur Antiphonar- und Gradualteil ohne Messritus und Messerklärung.
von Franz Karl Praßl