1 Kommunismus in Praxis und Theorie
Einflüsse marxistischer Ideen und Impulse auf Karl Wiesingers persönliche und literarische Entwicklung
Wann Karl Wiesinger konkret das erste Mal mit marxistischen Ideen in Berührung gekommen ist, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. In einem Interview aus dem Jahr 1974 beschreibt er die Auseinandersetzung mit dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) als erste bewusste Politisierung. „Auf uns hat das damals so gewirkt wie der Vietnam-Krieg in den letzten Jahren auf manche junge Leute“, erklärt Wiesinger in dem Gespräch. „Das offensichtliche Unrecht, daß da eine demokratisch gewählte Rote Republik von Faschisten niedergewalzt, niedergebombt wird, das hat schon seine Auswirkungen gehabt. Da waren auch in der Schule schon diese Kämpfe mit den faschistischen Schülern (…). Der eine ist schon ein Faschist, der andere schon ein Kommunist, der dritte ist damals schon neutral.“1
Die generelle Tendenz der Politisierung bzw. Polarisierung unter Jugendlichen in der Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges findet seinen Widerhall auch in Wiesingers Roman Achtunddreißig. Jänner Februar März, in dem ein Strang der Erzählung die Kämpfe zwischen linken und rechten Jugendlichen behandelt.2 Wiewohl Wiesinger zu dieser Zeit noch weit davon entfernt ist, kommunistische Ideen über theoretische Lektüren bzw. bewusste studierende Aneignung aufzunehmen, scheint in der Zeit der Pubertät schon der Keim für seine spätere Überzeugung angelegt worden zu sein. Wesentliche Elemente seiner frühen politischen Sozialisation korrespondieren mit der theoretisch-weltanschaulichen Ausrichtung der seit den Februarkämpfen 1934 verbotenen KPÖ. Während seiner Tätigkeit als Lektor an der Internationalen Leninschule (ILS) in Moskau entwickelt der Parteitheoretiker Alfred Klahr die „Grundlagen für eine österreichische Nation“;3 zudem verschreibt sich die Partei in der Folge der auf dem VII. Komintern-Kongress4 1935 ausgegebenen Maxime, dass nicht mehr die „linksfaschistische“ Sozialdemokratie, sondern die nunmehr an die Macht gekommenen faschistischen Regime der Hauptfeind im Klassenkampf seien, einem kämpferischen Antifaschismus, von dem (neben dem Widerstand der Kärntner Partisanen) die stärksten Aktivitäten auch im späteren Widerstand gegen das NS-Regime ausgehen.5
In Oberösterreich bilden sich gleich mehrere kommunistische Zellen (Mühlviertel, Wels, Salzkammergut), die über längere Zeit unter ständiger Lebensgefahr Widerstandsaktivitäten leisten – am bekanntesten wohl die Partisanengruppe „Willy-Fred“ um den Bad Ischler Kommunisten Sepp Plieseis.6 Auf einen direkten Kontakt Wiesingers mit dieser Gruppe im Rahmen seines Einsatzes als Flakhelfer in Bad Ischl weist nichts unmittelbar hin. Dokumentiert ist allerdings eine Verhaftung,7 die ihm eine Gefängnisstrafe in Wels einbringt, wo er eine schwere Lungenblutung nur knapp überlebt.
Wiesingers Aufbauarbeit für die KPÖ nach Kriegsende bzw. seine Tätigkeit als Journalist legen nahe, dass er seine kommunistische Überzeugung zunächst unter dem „Primat der Praxis“ lebte. Ideologisch gefestigt wurde er seit den frühen 1960ern im Rahmen der jährlich stattfindenden Schulungsseminare der KPÖ in Mauerbach. In den Tagebüchern findet sich zudem eine vergleichsweise eklektische Sammlung an Zitaten aus den Schriften Marx‘, Lenins, Maos, Trotzkis und anderer führender kommunistischer Denker und Politiker. Immer wieder referiert Wiesinger auch in längeren Passagen Vorträge zu Kommunismus und Sozialismus, etwa von dem österreichischen Volksbildner Walter Hollitscher, der zum Teil an ostdeutschen Universitäten unterrichtet hat und ab Mitte der 1960er-Jahre als Wissenschaftskonsulent dem Zentralkomitee der KPÖ angehört.
Die theoretisch-wissenschaftliche Analyse des Marxismus sieht Wiesinger als Mittel zur Überwindung von Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Faschismus. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt er internationale Wahlergebnisse und verzeichnet die Gewinne und Verluste der kommunistischen Parteien bzw. Fraktionen akribisch. Immer wieder keimt in ihm die Hoffnung auf, dass die Arbeiterschaft in Westeuropa einen Systemwechsel herbeiführen könnte.
In der Einschätzung seines Wegbegleiters Franz Kain war Wiesinger „immer ein Radikaler und Extremer, allerdings in verschiedener Hinsicht. Eine Zeit lang sprach er von ‚Stalinfaschisten‘, später davon, daß Stalin seine Gegner ‚gehätschelt‘ habe. Tito war ihm oft ‚zu weich‘. Mao war sein Vorbild, just als dieser begann, kuriose Züge zu zeigen. Die Radikalität war bei [Wiesinger] mehr eine Stilfrage als eine politische Leitlinie.“8 Das Tagebuch stützt die Einschätzung in mancherlei Hinsicht, allerdings zeigt sich über den Verlauf von 13 Jahren eine kontinuierliche Entwicklung zu einer orthodoxen Position innerhalb des kommunistischen Spektrums. Spätestens im Gefolge des Einmarschs der Truppen des Warschauer Pakts in die ČSSR im August 1968 äußert sich Wiesinger im Tagebuch wiederholt und bedingungslos moskautreu.
2 Die Partei als Heimat und Reibebaum
Karl Wiesingers Verhältnis zur KPÖ der Nachkriegsära
Laut eigener Aussage tritt Wiesinger unmittelbar nach 1945 der KPÖ bei.9 Für diese Behauptung spricht, dass er mit dem Aufbau der lokalen Freien Jugend, der Jugendorganisation der Partei, betraut wird. Außerdem publiziert er gemeinsam mit seinem Schulfreund Franz Kain in der „Neuen Zeit“, der kommunistischen Linzer Tageszeitung, und zwar im Bereich der Kulturredaktion, die zu diesem Zeitpunkt von dem bekannten Autor Arnolt Bronnen geleitet wird. Im Tagebuch kommt Wiesinger auf einen vorübergehenden Bruch mit der Partei zu sprechen, der erklären könnte, warum der in seinem im Nachlass befindliche Parteiausweis den 1. November 1960 als Eintrittsdatum verzeichnet. „wie gut, dass ich vor 12 jahren von der kpö weg bin“, schreibt er 1961. „ich hätte die parteidisziplin zu ernst genommen und mich kaum als ‚freier schriftsteller‘ so entfalten können (...).“ In einem weiteren Eintrag spricht er von „meinungsverschiedenheiten in der frage der bewertung der rolle der intelligenz in der revolution“. Die Zitate legen nahe, dass ihm als literarisch tätigem Genossen Misstrauen entgegenschlug. Was ihn nach mehr als einem Jahrzehnt zur Partei zurückbrachte, lässt sich aus dem Tagebuch nicht eindeutig erschließen. Nachvollziehbar bleibt jedoch eine sukzessive Festigung der ideologischen Haltung, ausgelöst nicht zuletzt durch die Teilnahme an den jährlich in Mauerbach10 stattfindenden Schulungen, aber auch durch die allmähliche Zuspitzung des Kalten Krieges, dessen Auswirkungen für Wiesinger bis in den Alltag hinein zu spüren sind.
Im Gegensatz zu Franz Kain, der für die KPÖ im Linzer Gemeinderat saß, war Wiesinger nie mit einem offiziellen Parteiamt betraut, berichtet aber im Tagebuch von Parteisitzungen sowie von seinen Versuchen, ihm nahestehende Personen für die Parteimitgliedschaft zu gewinnen. Wie offensiv Wiesinger in größeren Runden als Kommunist auftrat, lässt sich angesichts seiner eigenen Berichte nur erahnen. Er dürfte aber, unter anderem aus ökonomischen Gründen, vor allem gegenüber Vertretern der SPÖ Zurückhaltung geübt haben, weil er für deren Parteiorgane („Tagblatt") Beiträge verfasste oder für Vorfeldorganisationen (Kinderfreunde, Rote Falken) Pressearbeit leistete.
Gegen Ende der 1960er-Jahre vollzieht Wiesinger seine Entwicklung zum orthodoxen Vertreter innerhalb der Partei. Während er zunächst die zu Reformern mutierten Parteiintellektuellen Ernst Fischer und Franz Marek noch anerkennend zitiert, übernimmt er nach Ausbruch des parteiinternen Konflikts kritiklos die abwertende Diktion der Hardliner gegenüber den „Verrätern“. Ein besonders eindringliches Beispiel ist Wiesingers persönliches Protokoll des XX. Parteitages im Jänner 1969,11 der als Endpunkt der Reformbemühungen innerhalb der KPÖ gilt.
Die KPÖ hatte seit den späten 1950er-Jahren einen Wandel durchlaufen, der der individuellen Entwicklung Wiesingers zum orthodoxen Kommunismus entgegenläuft. Dominiert worden war die Partei nach dem Krieg von der „Generation 34“, also jenen Genossen, die nach den Februarkämpfen entweder in die Illegalität abgetaucht oder in die Sowjetunion gegangen waren. Ausgelöst durch die von Nikita Chruschtschow am 20. Parteitag der KPdSU 1956 gehaltene Geheimrede, die den Auftakt der Abrechnung mit der Stalin-Ära bildete, sowie durch die Flüchtlingswelle nach dem Aufstand in Ungarn 1956, setzte auch bei stalinistisch orientierten Kadern ein Umdenkprozess ein, der Mitte der 1960er-Jahre zum Versuch einer Neuorientierung der KPÖ am eurokommunistischen Modell führte. Dessen Grundzüge waren 1964 vom italienischen Parteidenker Palmiro Togliatti,12 einem ehemaligen Mitstreiter Antonio Gramscis, formuliert worden. Zusätzlichen Aufwind erfuhren die Reformbestrebungen durch den offenen Kurs der tschechischen Kommunisten. So verurteilte das Zentralkomitee der KPÖ im August 1968 zunächst den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in einer Stellungnahme, die allerdings durch das urlaubsbedingte Fehlen einiger konservativer ZK-Mitglieder im Wesentlichen von den Reformern um Ernst Fischer mitgetragen wurde. In den folgenden Monaten formierten sich die Kritik und der Widerstand gegen die Verurteilung immer lauter, stark protegiert von den „Bruderparteien“ SED und KPdSU, bis sich die Reformgegner in der Folge des 20. Parteitags schließlich auf allen Ebenen durchsetzten.13 Viele der Reformer traten entweder freiwillig aus der Partei aus oder wurden – wie Ernst Fischer – vom ZK ausgeschlossen.
Wiesinger hält der Partei die Treue und publiziert bis 1985 weiter in KPÖ-Publikationen wie der „Volksstimme" oder „Weg und Ziel". Die Reformbestrebungen unter dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, verfolgte er äußerst kritisch. Nach dem Fall der Berliner Mauer trat Wiesinger per Brief aus der Partei aus und beschrieb in einem Brief an den damaligen KPÖ-Vorsitzenden Franz Muhri seine fundamentale Enttäuschung über das endgültige Scheitern des real existierenden Sozialismus.14
3 Warum nicht weg von Linz?
Karl Wiesinger und die Linzer Kunst- und Kulturszene der 1960er-Jahre
Im Tagebuch finden sich zahlreiche Einträge zu Personen, Ereignissen und Konstellationen der Linzer Kunstszene. Es sind zunächst vor allem Vertreterinnen und Vertreter seiner Generation, über die Wiesinger schreibt und mit denen er sich regelmäßig im privaten und öffentlichen Rahmen trifft. Anhand des Tagebuchs lassen sich Kontinuitäten und Brüche hinsichtlich der Freundschaften zu anderen Linzer Künstlerinnen und Künstlern nachvollziehen.
Im Bereich der Literatur ist es vor allem Franz Kain, Wiesingers Freund und Kollege seit Jugendtagen, dessen Auftreten als Autor und KPÖ-Politiker er äußerst kritisch und zum Teil grob kommentiert. Trotz der jahrzehntelangen biografischen Nähe (die beiden kannten sich seit ihrem Eintritt ins Bad Goiserner Stephaneum 1934) zeichneten sich wohl früh sowohl politische als auch ästhetische Differenzen ab, die zum Teil auch persönlich oder öffentlich ausgetragen wurden. In seiner Kritik in der „Neuen Zeit“ zu Wiesingers Stück Der Poet am Nil, das 1951 an der VHS-Bühne „Scheinwerfer“ aufgeführt wurde, wirft Kain seinem Kollegen die „Wurzellosigkeit“ bzw. „weltanschauliche Heimatlosigkeit“ seiner Figuren vor.15 Der persönlichen Freundschaft scheinen die Auseinandersetzungen nicht abträglich gewesen zu sein: Neben häufigen privaten Treffen in Linz sind auch mehrere gemeinsame Urlaubsaufenthalte der beiden Familien in Wiesingers Ferienhaus in Vela Luka dokumentiert.
Neben Kain finden auch andere Literaturschaffende regelmäßige Erwähnung: Es sind dies vor allem Oskar Zemme und Franz Josef Heinrich, deren Auftritte und Publikationen Wiesinger äußerst kritisch kommentiert, der spätere SPÖ-Funktionär und Linzer Bürgermeister (1984–88) Hugo Schanowsky, die Autorin Irmgard Beidl-Perfahl und nicht zuletzt die Wiesinger aus der frühen Nachkriegszeit bekannten Autoren Kurt Klinger und Paul Blaha, deren Karriereverläufe in Wien bzw. Deutschland Wiesinger mit großem Argwohn begleitet. Erwähnt werden zudem heute weniger bekannte bzw. vergessene Autoren wie der Dramatiker Heri Heinz und der später vor allem als Hörspiel-Regisseur tätige Ernst Krendlesberger. Ab den späten 1960ern schildert Wiesinger auch einige Begegnungen mit dem Autor und bildenden Künstler Heimrad Bäcker, vor allem im Rahmen der Künstlervereinigung MAERZ.
Einen Schwerpunkt in Wiesingers Aufzeichnungen zur Linzer Kunstszene bilden seine Kontakte zu bildenden Künstlern, die er im Rahmen von Vernissagen, aber auch privat regelmäßig trifft. In den 1960ern pflegt er intensive Freundschaften v. a. zu dem Graphiker Erich Buchegger, der 1973 eine ordentliche Professur an der Linzer Kunsthochschule erhielt, sowie zu Peter Kubovsky, der als Lehrender an der Kunsthochschule tätig war und über lange Zeit eine wichtige Rolle in der Künstlervereinigung MAERZ spielte. Außerdem trifft Wiesinger häufig auf den Filmemacher Theo Geyer, der später unter dem Pseudonym Theo Linz eine eigene Filmproduktionsfirma betrieb. Erwähnt werden zudem die Künstler Fritz Aigner, Josef Fischnaller und der Metallkünstler Helmuth Gsöllpointner, der 1955 die Abteilung für Metallplastik in der Lehrwerkstätten der VÖEST gegründet hatte und über dreißig Jahre leitete.
Eine wichtige Rolle im Linzer Kunstbetrieb der 1960er-Jahre spielen zwei Galeristen: Der eine ist Otto Bejvl, der die Galerie des 1961 im Alter von 27 Jahren bei einem Verkehrsunfall tragisch verunglückten Engelbert Kliemstein übernimmt und unter seinem Namen weiterführt. Der andere ist der 1920 in Meran geborene Wilhelm Koller, der 1967 das Forum 67 gründet, das sich zu einem Ort für inter- und transdisziplinäre Kunst entwickelt.16 Koller ist jedoch bereits vor dieser Gründung als Produzent von Theaterstücken aktiv und bringt Werke aus dem Kanon des absurden Theaters von Eugène Ionesco und Samuel Beckett in Galerien zur Aufführung. Wiesinger hält Kontakt zu beiden Galeristen und verfolgt vor allem die Pläne von Wilhelm Koller mit einer Mischung aus Neugier und tiefem Misstrauen. Im Tagebuch finden sich Hinweise, dass Koller Pläne hegte, auch Stücke von Wiesinger auf die Bühne zu bringen, woraus aber offensichtlich nichts wurde. Immerhin dürfte Koller über internationale Kontakte verfügt haben, denn auf seine Einladung hin liest etwa der deutsche Autor Helmut Heissenbüttel Anfang der 1970er-Jahre im Forum 67.
Die 1960er-Jahre stellen in Bezug auf das Kunstleben der Stadt Linz eine Transformationszeit dar: Aus den vornehmlich privat und spontan organisierten und oft mit geringen Mitteln betriebenen Projekten und Orten entwickeln sich allmählich robustere Strukturen in Form von Spielstätten und Vereinen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Künstlervereinigung MAERZ, die bereits 1913 gegründet wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1952 eine Neugründung erfuhr. In diesem Verein versammelten sich Künstler aus sämtlichen Sparten, die bis 1968 an verschiedenen Orten Ausstellungen, Konzerte und Lesungen organisierten und abhielten. 1968 eröffnet der Verein eine eigene Galerie am Linzer Taubenmarkt, die bis 2003 als Heimstätte der künstlerischen Aktivitäten fungiert. Karl Wiesinger wird 1964 in die Vereinigung aufgenommen, tritt jedoch 1966 wieder aus (vgl. Tagebuch). Die MAERZ-Aktivitäten verfolgt er aber weiter und besuchte die Veranstaltungen von anderen Mitgliedern.
Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis unterhält Wiesinger auch zu den Linzer Theater-Institutionen. Wesentliche Protagonisten der „freien“ Szene der Nachkriegszeit waren mittlerweile in etablierten Positionen gelandet, etwa der Regisseur Alfred Stögmüller, der 1951 an der Volkshochschulbühne „Der Scheinwerfer“ Wiesingers Stück Der Poet am Nil zur Uraufführung gebracht hatte. Ab 1964 gehörte Stögmüller dem dreiköpfigen Leitungsteam des Linzer Landestheaters an, von 1969 bis 1986 hält er die Intendanz alleine inne. Wiesinger begleitet die Entwicklung zunächst mit Wohlwollen, zumal auch zwei seiner Theaterstücke (X tritt 3 = 0, 1959; Lazar Kromlech, 1966) an der Landesbühne zur Aufführung gelangten. Die Berichte von den saisonalen Pressekonferenzen des Theaters enthalten jedoch auch viele Spitzen vor allem gegen die hauseigenen Dramaturgen, die für die programmatische Ausrichtung des Hauses verantwortlich zeichnen. Aber auch der Entwicklung des Linzer Kellertheaters, jener unabhängigen Spielstätte, die Wiesinger 1953 mitbegründet hatte, begegnet er mit wachsender Distanz. Mit dem Leiter Helmut Ortner ist er immer wieder über eine mögliche Zusammenarbeit im Gespräch, allerdings kommt es dazu nicht mehr. Ab 1968 erfährt die Bühne mit dem Umstieg ins leichte Fach der Boulevardkomödie eine für Wiesinger irrelevante Neuausrichtung.
Abseits der Galerien und Theater kristallisierten sich auch diverse Wirtshäuser und Cafés als Treffpunkte der Kulturszene heraus. In den Tagebüchern berichtet Wiesinger von regelmäßigen Zusammenkünften (u. a. im Anschluss an Veranstaltungen), und zwar vor allem im Gasthaus „Zur Stadt Budweis“ (bis Mitte der 1960er Jahre), das sich im nördlich der Donau gelegenen Stadtteil Urfahr befand, sowie von dem umgangssprachlich als „Berger Mami“ bezeichneten Café Altstadt-Diele, das von der Wirtin Maria Jedlitschka geführt und in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zum Hotspot der Kunstszene sowie der poltisch engagierten Jugendbewegung wurde.
Vergleichsweise intensiv setzt sich Wiesinger in der Tagebüchern auch mit den Vertretern des Lokaljournalismus auseinander. Die politische Zuordnung der Zeitungen spielt in seinen Kommentaren eine wesentliche Rolle: Der ÖVP bzw. dem bürgerlichen Lager zuzurechnen sind die „Oberösterreichischen Nachrichten" bzw. das „Volksblatt", das „Tagblatt" steht wiederum der SPÖ nahe. Wiesinger berichtet nicht nur von den Begegnungen mit Jorunalisten wie Walter Kunz („Tagblatt"), Josef Lassl, Rudolf Lehr (beide „OÖN") sowie in späteren Jahren von Vertretern der nächsten Generation wie Peter Kraft, Josef Schwabeneder oder Reinhold Tauber. Getragen sind Wiesingers Anmerkungen oft von Beschwerden über die Parteilichkeit bzw. ideologische Ausrichtung ihrer Berichte.
Wiesingers Tagebuch enthält auch einige Berichte zu Gastauftritten nationaler und internationaler Künstler. Er beschreibt Lesungen von prominenten Autoren wie dem gebürtigen Linzer Herbert Eisenreich, Gerhard Fritsch oder Hans Weigel, aber auch Auftritte von darstellenden Künstlern wie der DDR-Chansonsängerin Vera Oelschlegel, die Wiesinger später auch in Ostberlin wieder trifft. Hinweise liefert das Tagebuch auch auf den privaten Musikkonsum Wiesingers: Er zeigt sich interessiert an Neuer Musik und Jazz, vor allem aber an politischen Liedermachern und Aufnahmen von Brecht-Weill-Produktionen wie der Dreigroschenoper und Mahagonny.
4 Kalter Krieg der Welten
Karl Wiesingers Anmerkungen zum Ost-West-Konflikt
Das weltpolitische Klima der 1960er ist geprägt vom Kampf um die politische, ökonomische und technologische Vorherrschaft zwischen Ost und West. Im Oktober 1962 spitzt sich die Konfrontation zwischen USA und UdSSR infolge der Stationierung von Mittelstreckenraketen im NATO-Land Türkei so dramatisch zu, dass eine kriegerische Auseinandersetzung nur mit Mühe diplomatisch verhindert werden kann.17 Ausgetragen wird dieser Konflikt auf allen Ebenen, bis hin zum Vordringen in den Kosmos. Karl Wiesinger registriert mit großer Begeisterung den Vorsprung der Sowjets auf diesem Gebiet zu Beginn der 1960er-Jahre und mit unverhohlener Häme die zunächst eher holprigen Aufholversuche der Amerikaner.
Der Wettlauf um die kosmische Hegemonie erfährt seine terrestrische Entsprechung im militärischen Wettrüsten bzw. in den blutigen Stellvertreterkriegen und mannigfaltigen Einflussnahmen in den sogenannten Entwicklungsländern. Wiesinger kommentiert die Entwicklungen des Vietnam-Krieges ebenso wie die militärischen Konflikte in Korea, Angola oder im Nahen Osten. Oft geht er dabei von Medienberichten über konkrete Ereignisse aus und setzt sich mit den richtungsweisenden Aussagen der politischen Verantwortlichen auseinander. Die USA charakterisiert er als neue faschistische Großmacht, die ihre Herrschaft über kapitalistische Ausbeutung und militärische Unterdrückung zu etablieren versucht. Seine Argumentation unterstützt er mit dem Verweis auf die rassistische Gesellschaftsordnung, die soziale Verwahrlosung weiter Teile der Bevölkerung sowie die hohe Rate an Gewaltverbrechen in den Vereinigten Staaten.
Wiesingers Perspektive auf den Osten verhält sich komplementär zu seinen Abrechnungen mit dem westlichen System. Als wertvolle Quelle diesbezüglich erweisen sich die Berichte von seinen Reisen in die Ostblockstaaten UdSSR, DDR und ČSSR. Meist handelt es sich dabei um Gruppenreisen, die dem Zweck der Indoktrinierung bzw. Gegenpropaganda dienen und von politischen Organisationen wie etwa der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft (ÖSG) ausgerichtet werden. Wiesinger verknüpft hier ein atmosphärisches mit einem objektivierenden Narrativ: Einerseits hebt er häufig die Qualitäten des „neuen“ Menschentyps im Osten hervor, indem er die besondere Freundlichkeit und Disziplin jener Menschen beschreibt, die er auf den Reisen kennen lernt. Andererseits untermauert er die aus seiner Sicht positiven Entwicklungen mit entsprechendem Zahlenmaterial zum ökonomischen und sozialen Fortschritt, die ihm und seinen Mitreisenden im Zuge der Besichtigungen und Begegnungen von den Vertretern der offiziellen Stellen übermittelt werden.
Aus Wiesingers Aufzeichnungen lassen sich immer wieder Überlappungen der unterschiedlichen Protest- und Oppositionsmilieus rekonstruieren: Er partizipiert etwa im Zuge der seit Mitte der 1960er-Jahre zunehmenden zivilgesellschaftlichen Aktivitäten sowohl an den Treffen des sogenannten Friedensrates als auch an der Ostermarschbewegung. Der KPÖ-Friedensrat bezog seinen Namen vom Friedensrat der DDR, einer staatlich kontrollierten Anti-NATO-Organisation, während sich die Ostermarschbewegung aus den Protesten englischer und westdeutscher Kriegsgegner gegen das atomare Aufrüsten auf beiden Seiten des Kalten Krieges seit den 1950ern entwickelte. Wiesinger sah wohl in beiden Organisationsformen eine Möglichkeit, den imperialistischen Bestrebungen der USA und ihrer Bündnispartner entgegenzutreten.
Was Wiesingers literarisches Werk betrifft, so lässt sich durchaus ein Sprechen mit gespaltener Zunge feststellen. In jenen insgesamt drei Spionage-Heftromanen, die Wiesinger 1951 als kleine Serie unter dem Pseudonym Frank I. Noel im Grazer Bergheimat-Verlag publizierte, steht ein heroischer, klar der amerikanischen Sache verpflichteter FBI-Agent namens Grasill. Er und seine Kollegen werden durchwegs positiv charakterisiert, ihre Mission folgt einer tiefen weltanschaulichen Überzeugung, für die „richtige“ Seite zu kämpfen.18 Der Hurra-Amerikanismus erstaunt umso mehr, als Wiesinger zum Zeitpunkt des Schreibens bereits mehrere Jahre als Kulturredakteur der kommunistischen Tageszeitung „Die Neue Zeit“ tätig war. Im Tagebuch kommt Wiesinger auf die Noel-Episode v. a. im Zusammenhang mit seinem Faible für Pseudonyme zu sprechen. Inhaltlich äußert er sich zu diesen Kolportage-Werken nicht.
Wie weit Wiesinger in seiner weltanschaulichen Selbstverleugnung gehen konnte, zeigt ein Brief an Hans Weigel, den deklarierten Antikommunisten und Brecht-Boykott-Betreiber,19 mit dem Wiesinger seit den 1950er-Jahren in Kontakt stand. Weigel unterstützte und begleitete Wiesinger im Schreibprozess des verschollenen Romanprojekts Die goldene Sphinx, dessen Handlung ebenfalls im Spionage-Milieu des Kalten Krieges angesiedelt war. Zudem fungierte Weigel als Trauzeuge bei Wiesingers Hochzeit im Jahr 1953. Im Nachlass Hans Weigels finden sich mehrere Briefe und Postkarten Wiesingers. In einem Brief vom 23.5.1962 thematisiert Wiesinger Weigels Rolle als Schutzpatron des Antikommunismus: „(…) sie waren eigentlich der einzige, der wirklich entschieden dafür eingetreten ist, dass man diese zersetzenden Verbindungen mit dem osten unterbindet. (…) ich bin ganz mit ihnen der meinung, dass man die sogenannte breite Masse nicht genügend vor infektionen schützen kann.“20
Entweder trieb Wiesinger an dieser Stelle ein höchst ironisches Spiel mit dem Mentor, oder aber er meinte sich mit heuchlerischen Worten die Gunst des Fürsprechers ein weiteres Mal erschmeicheln zu müssen. In den Aufzeichnungen, die sich im Tagebuch zu Weigel finden, lässt er jedenfalls kein gutes Haar an dem vermeintlichen Freund, nicht zuletzt hinsichtlich dessen Rolle im Brecht-Boykott an österreichischen Theatern in den 1950er-Jahren.
Literarisch widmet sich Wiesinger in seinem 1974 erschienenen Roman Der rosarote Straßenterror einer Schlüsselepisode aus der Frühphase des Kalten Krieges in Österreich. Der dokumentarisch angelegte Roman über den Streik gegen das 4. Lohn-Preis-Abkommen, das zu einer massiven Teuerungswelle führte, stellt in gewisser Weise das Gegenstück zu den Atom-Spion-Heftromanen dar. Wiesinger erzählt hier von den Ereignissen aus der Perspektive kommunistischer Arbeiter und Gewerkschafter, deren Aufstand schließlich von sozialdemokratisch organisierten Prügelkommandos niedergeschlagen wurde. Dass die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt kein Interesse am Entstehen einer österreichischen „Volksrepublik“ hatte und sich entsprechend passiv verhielt, wird im Text nicht thematisiert. Im Tagebuch findet sich eine Eintragung aus dem Jahr 1969, die als Keimzelle des Schreibprojekts gelten kann: „olah hat mithilfe der usa 1950 wieder eine antikommunistische schlägertruppe aufgestellt. mithilfe der usa. klar. diese tatsachen aber lässt man bei der verhandlung gegen ihn unter den tisch fallen.“ Gemeint ist der sozialdemokratische Gewerkschaftsfunktionär und spätere Innenminister Franz Olah, der bei der Niederschlagung des Streiks tatsächlich eine unrühmliche Rolle spielte. Mit stiller Unterstützung der CIA verstärkte Olah in der Folge die bereits 1947 gegründete paramilitärische Organisation „Österreichischer Sport-, Wander- und Geselligkeitsverein“, die erst in den 1960ern wieder aufgelöst wurde. Im Februar 1969 stand er wegen Veruntreuung von Gewerkschaftsgeldern vor Gericht und wurde zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Da er sich von der Darstellung in Wiesingers Roman verunglimpft fühlte, erwirkte er kurz nach dem ersten Erscheinen des Buches einen Auslieferungsstopp, der erst ein Jahr später nach einer gerichtlich erwirkten Ehrenerklärung Wiesingers aufgehoben wurde.21
5 Selbstbeschreibungen
Fundstücke zu Karl Wiesingers Biografie in den Tagebüchern
Das Tagebuch bietet hinsichtlich der Biografie Wiesingers ergänzendes Material zu den vom Autor selbst verfassten Lebensläufen. Das betrifft zum Einen Wiesingers Alltags- und Arbeitsleben: Nach dem Verkauf der Dentistenpraxis im Jahr 1960 lebte er bis zu seinem Tod von einer kleinen Invalidenrente und war auf die Zuverdienste aus seiner publizistischen Tätigkeit angewiesen. Die zahlreichen Erwähnungen von (meist neu erschienenen) Filmen etwa verweisen auf seine Arbeit als Film-Rezensent für Zeitungen. Zudem finden sich immer wieder Hinweise auf Wiesingers schreiberische Lohnarbeit, etwa seine Öffentlichkeitsarbeit für die Organisation Kinderfreunde oder das Auftragswerk eines Weihespiels für die Roten Falken – in beiden Fällen Vorfeldorganisationen der SPÖ im Kinder- bzw. Jugendbereich. Diese Tätigkeiten finden sich in keinem seiner Lebensläufe verzeichnet.
Wiesingers Tagebuch enthält auch Aufzeichnungen zu Besuchen und Begegnungen bei und mit seinen Verwandten. Er berichtet von seinen Welser Verwandten väterlicherseits, deren Armut und Ungebildetheit ihn stark bedrückt. Fallweise berichtet er auch von seinen Geschwistern, seiner um 8 Jahre jüngeren Schwester Ilse und seinem 1918 geborenen Halbbruder Walter, den seine Mutter Anna als uneheliches Kind in die Ehe mitbrachte und der ihren Mädchennamen Scherb behielt. Walter fungierte seit 1945 als Geschäftsführer des unter den Nazis arisierten und heruntergewirtschafteten Unternehmens des Getränkerherstellers Viktor Spitz. Der vor den Nazis geflohene Spitz verkaufte die Firma 1952 an seinen Geschäftsführer. Scherb erwirtschaftete rasch Gewinne und entwickelte die Firma zu einem erfolgreichen Spirituosen- und Fruchtsafthersteller.22 Wiesinger reibt sich im Tagebuch wiederholt an der Unternehmer-Mentalität seines Halbbruders und bezeichnet ihn abschätzig als „Millionär“. Zur Schwester hält Wiesinger nur sporadisch Kontakt, was u. a. auch Wiesingers politischer Weltanschauung geschuldet war. Bei einem Besuch der Ausstellung über Wiesinger im Stifterhaus im Jänner 2020 deutete die noch in Linz lebende Schwester Ilse an, dass sie Angst hatte, Wiesinger würde ihre drei Kinder mit kommunistischen Ideen aus ihrer Sicht negativ beeinflussen. Wenig Freundliches steht auch über die Schwester seiner Frau Eva und deren Mann (Lore und Robert) zu lesen. Vor allem die Schilderung der gemeinsamen Reise in die Provence 1964 gerät zur Abrechnung mit den aus Wiesingers Sicht kleinbürgerlich-zwänglerischen Verwandten.
Wiederholt flicht Wiesinger ins Tagebuch eine komprimierte Form der autobiografischen Bilanz ein, die meist von Stich- oder runden Geburtstagen ausgeht und oft in Zehnerschritten das eigene Leben Revue passieren lässt. Dabei schlägt er einen ähnlich stilisierenden Ton an wie in den zur Veröffentlichung bestimmten Lebensläufen. Immer wieder rückt er dabei sein hochproblematisches Verhältnis zum eigenen Vater in den Mittelpunkt, den er u. a. für sein Abdriften in kleinkriminelle Handlungsweisen im Jugendalter sowie für seinen geringen Bildungsgrad verantwortlich macht. Ansatzweise entsteht in solchen Passagen eine Art von Selbstreflexion bzw. psychosozialer Selbstdeutung, die einen Aufschluss darüber gibt, in welcher Weise Wiesinger seine eigene Entwicklung aus dem Herkunftsmilieu ableitet.
Ein wiederkehrendes Motiv seiner Selbsterzählung ist seine Jugend- und Kriegszeit. Dazu findet sich im Tagebuch manch überraschende Ergänzung zum bislang Bekannten – etwa seine Hinweise zu jener Verhaftung, die zur folgenschweren Inhaftierung im Welser Gefängnis 1944 führte. Diesbezüglich schreibt er in einem Eintrag von 1970 von einem „angeblichen mordversuch“ an einem Mädchen, das aus seiner Sicht allerdings nur der vorgeschobene Anlass für eine politische Denunziation war. Insgesamt scheinen die Einträge zu seinen Konflikten mit dem Nazi-Regime als eine Art stellvertretende Rechtfertigung bzw. Beweissammlung für die ihm lange vorenthaltene Anerkennung als politisches Opfer des NS-Regimes zu dienen.23
Resümeehaft kommt er auf sein Verhältnis zu seiner Heimatstadt Linz zu sprechen, das man ohne Zweifel als äußerst ambivalent bezeichnen muss. Wiederholt wendet sich Wiesinger gegen die Engstirnigkeit, Kleinkariertheit und den Unwillen der Stadt, sich mit der jüngeren Zeitgeschichte auseinanderzusetzen. Explizit formuliert er jedoch auch seine Treue bzw. gewohnheitsmäßige Verbundenheit zur Stadt an der Donau. Diese Bekenntnisse folgen einem ähnlichen Duktus der Rechtfertigung, wie er seinen politischen Bekenntnissen und der Konstruktion einer Vergangenheit als Widerstandsaktivist eigen ist. Die Lebensläufe jener Kollegen seiner Generation, die den Schritt aus der Stadt hinaus gewagt haben, begleitet er mit Eifersucht, Misstrauen und Neid. Beispielhaft sind hier die Theaterkarrieren von Kurt Klinger und Paul Blaha zu nennen.
6 Schreiben als Arbeit an der „Neuen Welt“
Karl Wiesingers ästhetisch-politische Aphorismen
Angesichts der vielfältigen und zum Teil einander widersprechenden Schreibweisen lässt sich Wiesingers ästhetisches Programm kaum auf einen Nenner bringen. In seinen Anfängen liegen die unterschiedlichen Ausdrucksformen eng nebeneinander: Um 1950 schreibt er beinahe zeitgleich journalistische Beiträge für die kommunistische Tageszeitung „Die Neue Zeit“, drei amerikafreundliche Atomspion-Heftromane sowie erste Theaterstücke im moralisch-humanistischen Duktus (vgl. Der Poet am Nil, uraufgeführt 1951). Angesichts dieser Bandbreite lässt sich Wiesinger als literarischer Aktionist charakterisieren, dem es eher ums Publizieren und weniger um eine konsistente ästhetische Position zu tun war.
Das Tagebuch zeigt einen Autor, der auch in den 1960ern noch die Strategie des „Projektelns“ weiterverfolgt, andererseits aber aphoristische Versatzstücke eines Programms formuliert, das nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit anderen Autoren bzw. literarischen Strömungen an Profil gewinnt. Dezidiert linke bzw. kommunistische Autoren wie Bert Brecht, Vladimir Majakowskij oder Maxim Gorki sind im Tagebuch durch Werk-Zitate präsent, die für Wiesinger die Funktion von Lehrsätzen oder zumindest Richtwerten fürs eigene Schreiben erfüllen. Auffällig ist seine Abgrenzung vom Theater des Absurden und seinen Vertretern vor allem zu Beginn der 1960er-Jahre, als erste Inszenierungen der Stücke von Samuel Beckett, Eugène Ionesco oder Wolfgang Hildesheimer auch in Linz zu sehen sind. Die Verweigerung einer klaren moralischen oder politischen Aussage, die kennzeichnend für diese Stücke ist, interpretiert Wiesinger als Zeichen von Dekadenz und generell als Verfallssymptom bürgerlicher Kunst und Kultur. Dieser Ästhetik des Negativen hält er eine fortschrittliche politische Kunst entgegen, die sich an den Idealen der Aufklärung und einer möglichst genauen Darstellung der Wirklichkeit orientiert.
Parallel zur Utopie einer klassenlosen Gesellschaft imaginiert er an einer Stelle gar das Ideal einer Kunst als „Spiel mit der Schönheit“, die sich nach Erledigung ihres politischen Auftrags vollkommen auf sich selbst konzentrieren darf. Mehrmals beschwört Wiesinger das Bild des Künstlers als frei und nur aus innerem Drang Schaffenden. Dessen naiv-romantischer Habitus steht in Widerspruch zum Künstler als Aktivisten, den er an anderen Stellen propagiert. Die zum Teil gegensätzlichen Positionen, die sich im Tagebuch manifestieren, spiegeln auch jene Ambivalenz wider, die Wiesinger zwischen den Polen der Parteiarbeit und der Existenz als freier Autor immer wieder empfunden haben muss. „der wahre künstler arbeitet aus lust, aus drang. er kann nicht anders. und machte er stümperhafteste arbeiten, er muss schaffen“, heißt es an einer Stelle, während er in Bezug auf das Kunstprogramm im Realsozialismus eindeutig festhält: „eine neue ordnung bringt eine neue ästhetik mit sich.“ Emphatisch bekennt er im Jahr 1961: „kann es für einen schreibenden schöneres geben, als an der gestaltung einer neuen menschheit, einer neuen welt mitzuwirken?“
Gänzlich verschreiben mag er sich einer gleichsam planwirtschaftlichen Kunstproduktion allerdings nicht, wie aus einer harschen Abrechnung mit der „unsagbar kitschigen“ Ästhetik des sozialistischen Realismus hervorgeht (1964). Immer wieder bricht der Wunsch nach einer freien, gleichwohl ideologisch sattelfesten Position hervor, der er in seinen eigenen Werken gerecht zu werden versucht. Der Literatur schreibt er eine Avantgarde-Funktion in der Bewegung der engagierten Kunst zu: „literatur ist die kämpfendste kunstart. malerei kann sudeln, literatur nie, ohne sich selber zu demaskieren“, notiert er 1965. Und im selben Jahr formuliert er wiederum das glasklare gesellschaftspolitische Programm der Literatur: „wofür schreiben? da kann es doch nur eines geben: für die zukunft der arbeitenden menschheit. ist doch jeder arbeiter hundertmal taktvoller und herzensgebildeter als jeder einzelne dieser kleinbürgerlichen hammel.“
7 Von Werk zu Werk
Selbstaussagen des Vielschreibers Karl Wiesinger
Das Tagebuch enthält eine Vielzahl von Anmerkungen zu Wiesingers eigenen Schreibprojekten. Dies betrifft zunächst den Schreib- bzw. Rechercheprozess. Diesbezüglich sind die Aufzeichnungen vor allem in Hinblick auf seinen umfangreichen Roman mit dem Arbeitstitel Drachensaat erhellend, der 1967 schließlich unter dem Titel Achtunddreißig. Jänner Februar März im Ostberliner Aufbau Verlag erscheint. Wie aus einem Brief des ehemaligen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg aus dem Jahr 1953 hervorgeht, dürfte Wiesinger das Thema der Zeit unmittelbar vor dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland zunächst in Form eines Theaterstückes verarbeitet haben.24 Um 1960 wandelt er den Stoff zur Romanform um und kontaktiert viele Zeitzeugen, um sie zu den Ereignissen zu befragen. Zu diesen Treffen finden sich Berichte im Tagebuch, etwa über seinen Besuch bei Peter Revertera-Salandra, der in der Zwischenkriegszeit als oberösterreichischer Sicherheitsdirektor den militärischen Abwehrkampf gegen die Aktionen illegaler Nazis im Mühlviertler Grenzbereich koordinierte.
Über das Tagebuch lassen sich zudem die langwierige Verlagssuche sowie die intensive Lektorats- und Buchproduktionsarbeit mit dem Aufbau Verlag nachvollziehen, die sich über insgesamt zweieinhalb Jahre zog. Wiesinger beschreibt Reisen nach Ostberlin zu den Verlagstreffen und berichtet über die Rahmenbedingungen der Publikation eines Autors aus dem Westen in einem ostdeutschen Verlag. Mit großer Bitterkeit schildert er das Ende der Zusammenarbeit im Jahr 1970, nachdem ihm der Verlag das Manuskript seines nächsten Romanprojektes König Jammer (nach seinen Angaben: „sehr grob“) zurückschickte.
Wiesinger erwähnt mehrere dramatische Werke, die er zum Teil schon in den 1950er-Jahren verfasst hatte und von denen einige auf österreichischen und deutschen Bühnen zur Aufführung gelangt waren: Der große Wugram (1954), Gras für Büffel (1954), Die von der Hoffnung leben (in der Abkürzung: d.v.d.h.l., 1952), Lazar Kromlech (1965) sowie mehrmals das Hörspiel Dschingl (1960). Dieses wurde nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern in einer Übersetzung auch im französischen Rundfunk ausgestrahlt und zählt zu Wiesingers kommerziell erfolgreichsten Arbeiten.
Immer wieder notiert Wiesinger auch skizzenhafte Ideen zu neuen Stücken bzw. Prosatexten ins Tagebuch. Besonders eindringlich lässt sich die Entstehung seines Literaturstreichs Bauernroman. Weilling Land und Leute (1972) verfolgen, den er unter dem Pseudonym Max Maetz entwickelt, der im Unterschied zu seinen anderen Pseudonymen eine eigenständige Biografie erhält: ein schreibender Jungbauer aus Weilling bei St. Florian, der ebenso unbedarft wie experimentierfreudig martialische Schwänke aus dem Landleben absondert. Die Genese des Textes reicht zurück ins Jahr 1970, als Wiesinger durch die oben erwähnte Ablehnung durch den Aufbau Verlag in eine tiefe Schreib- und Existenzkrise gestürzt wird. Auf ein mehrseitiges Lamento über die eigene Erfolglosigkeit folgt ein kurzer Eintrag mit großer Wirkung: „und neu anfangen? ich sehe da texte der jungen. ich bin als alter schreiber schon zu sehr eingefahren auf die vertrauten gleise. aber neu anfangen, als junger, etwa 26 jahre alt, max maetz. das wär's. das müsste mit meiner erfahrung doch zu machen sein.“ Es ist nicht klar, ob er zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schon den ganzen Plan seiner „Großraum-Aktion“25 im Kopf hat – die Stelle verweist jedenfalls schon relativ genau auf das, was folgt. In den darauf folgenden Monaten kommentiert er die Ereignisse rund um die Kunstfigur Max Maetz mit einer Mischung aus heimlicher Häme und Ernüchterung über die Funktionsweisen jener „Gesellschaft des Spektakels“, deren Mechanismen er mit seiner Arbeit bloßlegen wollte: „der mensch von heute braucht zu allem die show. und ich brauche das theater“, schreibt er resümierend über seine Maskerade.
8 Ein Linzer Don Juan
Karl Wiesingers Sex-Protokolle und -reflexionen
Eine wichtige Funktion erfüllt das Tagebuch für Wiesinger in Bezug auf seine außerehelichen sexuellen Affären. Der Autor mutiert hier in gewisser Weise zum Zeugen seiner selbst. Die erotischen Eroberungen von meist deutlich jüngeren Linzer Damen erscheinen gemessen an seiner künstlerischen und politischen Marginalisierung als ein Akt der Kompensation. Die Beschreibungen haben in der Liebe zum Detail eine ausgeprägte pornografische Komponente, die – mit Ausnahme der wilden Sinnlichkeit, die den Bauernroman durchzieht – kaum Eingang in seine literarischen Texte findet. Generell folgen die Fragmente einer sexuellen Autobiografie dem Gestus des Bilanzierens, des regelmäßig wiederkehrenden Versuchs einer quasi-objektivierenden Selbstvergewisserung. Diese treibt zuweilen bizarre Zahlenblüten: „fünf jahre binden, auch wenn man nicht will. machten wir doch miteinander etwa 30.000 heftige, gegeneinander gerichtete bewegungen.“
Ausgehend von konkreten Erlebnissen entwickelt Wiesinger im Tagebuch eine sexual- und geschlechterpolitische Reflexion, die zwischen avancierten und unreflektiert sexistischen Positionen pendelt. Die Institution der Ehe und die damit verbundene wechselseitige Verpflichtung zur Treue bezeichnet er wiederholt als obsolet und fordert deren Überwindung im Kontext einer endgültig realisierten kommunistischen Gesellschaft. „im kommunismus, da für jedes wesen gesorgt ist und zum vererben ohnehin nichts ist als der tägliche konsum, wird die liebe zur wahren und edelsten beschäftigung werden, ohne jede zweideutigkeit und prüderie. ansätze in moskau sind schon da, sagt rusch. mädchen sprechen männer an, um von ihnen ein kind zu erbitten, ganz natürlich.“
An anderer Stelle entwickelt er die gleichsam protofeministische Vision einer offenen Beziehungsgesellschaft: „das eherecht gehörte grundsätzlich neu gestaltet. z. b. völlige gleichheit und gleichberechtigung für die frau. kein mann sollte grund zur klage haben, weil seine frau z. b. den haushalt verkümmern lässt. soll er doch selber zupacken, wenn es ihm nicht passt. auch kochen sollte sie nicht unbedingt müssen. frau und mann sollten die ehe wirklich nur noch rein zum zwecke der gegenseitigen benützung der geschlechtsorgane schliessen und sonst keinerlei verpflichtungen gegeneinander haben als die der ehelichen treue. dafür aber sollte andererseits das wechseln der partner erleichtert werden. kinder werden staatlichen krippen übergeben. so nur wären harmonische partnerschaften denkbar.“
Wie sehr er in seiner eigenen Praxis an einer Emanzipation von überkommenen Vorstellungen von Treue bzw. einem aufrichtigen Umgang mit seinen Neigungen gescheitert ist, zeigt ein Dokument aus seinem Nachlass: Wiesingers Frau Eva reicht im Jahr 1958 eine Scheidungsklage ein, u. a. weil sie, wie aus der von ihrem Rechtsanwalt formulierten Klage hervorgeht, Fotos gefunden hatte, die den Gatten nackt mit einer fremden Frau im Wiesinger'schen Ehebett posierend zeigen.26 Die Klage wird von ihr schließlich zurückgezogen, vermutlich aufgrund der Furcht vor den finanziellen Folgen eines solchen Schrittes auf beiden Seiten.
9 Fahrten ins Paradies
Karl Wiesingers Reisen in die Ostblockstaaten ČSSR, DDR und UdSSR sowie in die französische Provence und ins jugoslawische Vela Luka
Im Tagebuch dokumentiert Wiesinger ausführlich jene Reisen, die er vor allem in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre tätigt. Besonders hervorstechend ist dabei das umfassende Protokoll einer Fahrt nach Moskau im September 1961. Der Anlass für diese Reise ist ein freundschaftliches Fußballländerspiel zwischen den Nationalteams der Sowjetunion und Österreich. Organisiert wird die Fahrt von der Österreichisch-Sowjetischen Gesellschaft, einer Organisation, die im Kalten Krieg den kulturellen Austausch bzw. eine positive Positionierung der Sowjetunion in Österreich forcierte. Entsprechend umfangreich fällt das Rahmenprogramm der Reise aus, dessen Ziel es offenbar ist, die sowjetischen Insitutionen in einem möglichst guten Licht zu präsentieren. Von 6. bis 15. September besuchen insgesamt 2500 mit 19 Waggons angereiste Österreicherinnen und Österreicher nicht nur das Fußballspiel,27 sondern auch Ausstellungen, Opern- und Ballettaufführungen und natürlich auch das Lenin-Mausoleum, dessen Aura Wiesinger mit geradezu religiöser Begeisterung erfüllt.
Ähnliche „Bildungsreisen“ führen Wiesinger in den Folgejahren in die ČSSR (1962) und die DDR (1963). In den zum Teil wohl auf Mitschriften beruhenden Reiseberichten referiert Wiesinger vielfältiges Zahlenmaterial zur ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung in den Oststaaten.
1963 und 1964 unternimmt er zwei längere Autoreisen in die französische Provence, zunächst mit dem Buchhändler Konrad „Kurt“ Golob, einer prägenden Figur der Linzer Kunst- und Politszene der 1960er- und 1970er-Jahre, im Jahr darauf mit seiner Frau Eva sowie deren Schwester Lore und Schwager Robert. Abgesehen von den wenig schmeichelhaften Aufzeichnungen bezüglich der Verhaltensweisen seiner Mitreisenden stößt Wiesinger im Süden Frankreichs immer wieder auf die ihn faszinierende französische Arbeiterkultur, deren Offenheit und Gastfreunschaft ihn tief beeindrucken und ihn in ein ähnliches Hochgefühl versetzen wie die Erfahrungen mit den Menschen im Ostblock.
Im Jahr 1966 verbringen Karl und Eva Wiesinger ihren Urlaub erstmals in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien – konkret auf der heute zu Kroatien zählenden Insel Korčula. Die Insel, die Gastfreundschaft ihrer Bewohner und nicht zuletzt das mediterrane Klima, das Wiesingers Gesundheitszustand zuträglich ist, führen dazu, dass er kurzerhand den Entschluss fasst, ein kleines Ferienhaus im Ort Vela Luka errichten zu lassen. Mit Unterstützung eines Einheimischen namens Ivo nimmt das Vorhaben rasch konkrete Züge an. Schon Ende 1966 notiert Wiesinger in sein Tagebuch: „ivo schrieb: baubeginn am 15. jänner" und bereits im Sommer 1967 kann der Rohbau ein erstes Mal besichtigt werden. Noch im selben Jahr erwirbt er ein kleines Boot, das er 1973 durch ein größeres ersetzt. Mit diesem auf den Namen „Mao Tse Tung" getauften Kahn erkundet er in zahlreichen Ausfahrten die dalmatische Adriaküste, die ihm für mehr als 20 Jahre zu einer zweiten Heimat wird, in der er die Sommermonate verbringt.
Zentraler Bestandteil der Aufenthalte in Vela Luka sind ausgiebige Besuche von Freunden und Bekannten (u. a. von Franz, Margit und Eugenie Kain), die sich in einer Mischung aus Gäste-, Tage- und Reisebuch verewigen, das die Urlaube der Jahre 1967 bis 1988 dokumentiert und lebendig werden lässt.28 Neben Eintragungen von Gästen finden sich darin Postkarten und Briefe, die das Ehepaar in Dalmatien erreichten, Zeitungsartikel, die auf das Interesse der Urlauber stießen, Informationen zu den Ausflügen, die mit dem Boot von Vela Luka aus unternommen wurden und nicht zuletzt eine ganze Reihe von Fotografien.
Anmerkungen
1 „Der rosarote Straßenterror“. Aus einer Diskussion mit Karl Wiesinger. In: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft Nr. 22, Berlin 1974, S. 62.
2 Der Roman erschien erstmals 1967 im Aufbau Verlag in der damaligen DDR sowie in einer Lizenzauflage im Globus Verlag der KPÖ. 2011 wurde er im Promedia Verlag (Wien) wiederaufgelegt.
3 Die Reflexionen Alfred Klahrs erschienen im März bzw. April 1937 im theoretischen Parteiorgan „Weg und Ziel".
4 Formuliert wurde diese Maxime u. a. von Georgi Dimitrow, einem bulgarischen Mitglied des politischen Sekretariats der Kommunistischen Internationale, der in den 1920ern in Wien lebte und zeitweise de facto die KPÖ leitete. Vgl. Dimitrow: Arbeiterklasse gegen Faschismus. VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935. Die Historiker McLoughlin/Leidinger/Moritz formulieren in ihrer Untersuchung zum Kommunismus in Österreich in der Zwischenkriegszeit die These, dass Dimitrow von seinen Erfahrungen in Wien bzw. dem Kampf der Schutzbündler gegen den Austrofaschismus inspiriert gewesen sei. Vgl. Barry McLoughlin/Hannes Leidinger/Verena Moritz: Kommunismus in Österreich 1918–1938. Innsbruck/Wien/Bozen 2009.
5 Vgl. Manfred Mugrauer: Die KPÖ im Kampf gegen die austrofaschistische Diktatur. In: Florian Wenninger, Lucile Dreidemy: Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessungen eines Forschungsgebiets. Wien, Böhlau 2013, S. 41–68.
6 Die Memoiren des Widerstandskämpfers Plieseis erschienen bereits 1946 unter dem Titel Vom Ebro zum Dachstein. Lebenskampf eines österreichischen Arbeiters im Verlag der Linzer KP-Zeitung „Die Neue Zeit“. Es ist anzunehmen, dass Wiesinger dieses Werk bekannt war, zumal er zu diesem Zeitpunkt bereits für die „Neue Zeit“ arbeitete.
7 Die Umstände dieser Verhaftung lassen sich nur aus Wiesingers eigener Überlieferung rekonstruieren. Im Tagebuch kommt er an zwei Stellen auf das Ereignis zu sprechen. 1962 notiert er Folgendes: „oder in wels, wo ich dem untersuchungsrichter offen erklärte, meine verhaftung wegen angeblichen mordversuchs (weil ich ein mädchen, maria, bedrohte, eifersuchtsszene, wie sie täglich unter jungen leuten vorkommt) wäre lediglich ein racheakt der ischler nazis, die in mir einen kommunisten sähen. ich hatte auch ziemlich offen immer (gegen) den nazismus gesprochen.“ In einem Eintrag aus dem Jahr 1970 rückt die Rolle des Vaters bei der Verhaftung stärker ins Zentrum: „1944 hat mich mein vater nach linz gelockt durch einen anruf bei p., ich müsse sofort kommen. der anruf war wirklich überflüssig, die polizei hätte warten können. war es nicht ein bosheitsakt? zumindest aber überflüssige kriecherei vor der polizei, die bei ihm anrief und mich verlangte und ihm erklärte, ich müsse mich wegen einer anzeige aus ischl stellen? der nazi n. und f. hatten mich wegen mehrfacher antifaschistischer ‚umtriebe‘, damals ‚staatsfeindlicher‘, denunziert.“
8 Zit. nach: Walter Wippersberg: Ausgegrenzt, totgeschwiegen und diffamiert? Franz Kain, Karl Wiesinger und die Linzer Literaturszene in der Nachkriegszeit. In: Alfred Pittertschatscher (Hg.): Linz. Randgeschichten. Picus Verlag, Wien 2009, S. 76.
9 Vgl. das Interview in: Sozialistische Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft Nr. 22, Berlin 1974, S. 63.
10 So wie die anderen beiden Parteien SPÖ und ÖVP gründete auch die KPÖ nach Kriegsende eine eigene Parteiakademie, die 1947 unter dem Namen „Laufbergerschule“ im 2. Wiener Bezirk als Internatsbetrieb eingerichtet wurde. Erster Leiter war der ehemalige Spanien-Kämpfer Leopold Spira, der die Nazi-Zeit im englischen Exil überlebt hatte. Die theoretischen Schulungen wurden u. a. von dem aus seiner Resistance-Zeit in Frankreich zurückgekehrten Franz Marek und dem aus der Sowjetunion zurückgekehrten Ernst Fischer abgehalten. Da das Gebäude nach Abschluss des Staatsvertrages zurückgegeben werden musste, verlegte die Partei ihre Schule ins nahe Wien gelegene Mauerbach. (Vgl.: Erich Sameck: Erinnerungen an die Parteischule der KPÖ. In: Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft Nr. 1/2019, S. 25f.)
11 Dieses Protokoll findet sich als mehrseitiger Einschub im Tagebuch. Ob er es anderen Parteivertretern zugänglich gemacht hat, lässt sich nicht feststellen. Als Zusatz zum Protokoll findet sich ein Statement von ungefähr einer halben Typoskriptseite, das im Unterschied zum Tagebuch nicht in Kleinschreibung, sondern in konventioneller Rechtschreibung verfasst ist und das Wiesinger möglicherweise als Rundschreiben oder Leserbrief weitergegeben hat.
12 Franz Marek: Nachlese zum Memorandum Togliattis. In: Maximilian Graf u. Sarah Knoll: Franz Marek. Beruf und Berufung Kommunist. Lebenserinnerungen und Schlüsseltexte. Mandelbaum Verlag, Wien 2017, S. 286–291. Das ‚Memorandum‘ ist Togliattis politisches Testament, in dem er eine von der Sowjetunion abweichende polyzentristische Weltbewegung fordert.
13 Vgl. A. a. O., S. 78f.
14 Die Briefe an die Parteiführung und an den KP-Vorsitzenden Franz Muhri finden sich im NL Karl Wiesingers am Adalbert-Stifter-Institut.
15 Franz Kain: Die Wurzellosigkeit auf der Bühne. In: Neue Zeit, Linz, 22.11.1951.
16 Vgl. Georg Schöllhammer: Forum 67. In: Wer war 1968? Kunst Architektur Gesellschaft. Katalog zur Ausstellung im Nordico Stadtmuseum Linz / Lentos Kunstmuseum Linz. Hg. von Johannes Porsch, Hedwig Saxenhuber, Georg Schöllhammer. Linz 2018, S. 294f.
17 Die Ereignisse gingen als sogenannte „Kuba-Krise“ in die Annalen des Kalten Krieges ein.
18 Vgl. Spionage als Unterhaltung. In: Stefan Maurer, Doris Neumann-Rieser, Günther Stocker: Diskurse des Kalten Krieges. Eine andere österreichische Nachkriegsliteratur. Wien Köln Weimar 2017, S. 354ff.
19 Vgl. dazu Kurt Palm: Vom Boykott zur Anerkennung. Brecht und Österreich. Löcker, Wien München 1983.
20 Zit. nach: Maurer, Neumann-Rieser, Stocker: Diskurse des Kalten Krieges, S. 397 (Orthographie nach dem Original).
21 Vgl. das Kapitel zum Oktoberstreik 1950 in: Maurer, Neumann-Rieser, Stocker: Diskurse des Kalten Krieges, S. 575ff.
22 Die Grundzüge der Firmengeschichte sind im Wikipedia-Eintrag nachzulesen: https://de.wikipedia.org/wiki/S._Spitz. Auf der aktuellen Homepage des Unternehmens fehlt in der Firmengeschichte der Hinweis auf die Arisierung.
23 Wiesinger erhält das Silberne Ehrenzeichen für die Verdienste um die Befreiung Österreichs (1977).
24 Dieser Brief befindet sich im NL Wiesingers im Adalbert-Stifter-Institut.
25 So bezeichnete Wiesinger die Inszenierung des Auftauchens und das Versteckspiel hinsichtlich der wahren Identität von Max Maetz.
26 Das entsprechende Dokument befindet sich im NL Karl Wiesingers im Adalbert-Stifter-Institut.
27 Das Spiel endete mit einem 1:0-Auswärtserfolg der Österreicher über die zu dieser Zeit amtierenden Europameister. Bekannteste teilnehmende Spieler waren die späteren Teamchefs Erich Hof und Karl Stotz sowie auf sowjetischer Seite der Stürmer Valentin Ivanow.
28 Dieses Gästebuch befindet sich im NL Wiesingers im Adalbert-Stifter-Institut.