Karl Wiesinger (1923–1991): Eine Skizze zu Leben und Werk
Kindheit und Jugend
Karl Wiesinger wird am 13.3.1923 als Sohn eines Dentisten und einer Hausfrau in Linz geboren. Sein Aufwachsen beschreibt er als behütet, wiewohl die Beziehung zwischen seinen Eltern konfliktreich gewesen sein dürfte.
Die wachsenden politischen Spannungen der Zwischenkriegszeit erlebt Wiesinger im Zuge der Februarkämpfe, die am Morgen des 12. Februar 1934 in Linz ihren Ausgang nehmen und an deren Ende mehrere hundert Tote zu beklagen sind. Wiesinger beschreibt in einem Interview zum Erscheinen des Romans Der rosarote Straßenterror im Jahr 1974, wie er die Ereignisse als Kind wahrnahm: „Die Schüsse damals und die Belagerung des Zentralkinos durch das Bundesheer und die Pferdekadaver nachher auf den Straßen und die Munitionshülsen, die herumgelegen sind, einige Tote, die ich gesehen hab als Kind, das hat mich stark beeindruckt (…)“.1
Wenige Monate später tritt Wiesinger in die Mittelschule Stephaneum der Schulbrüder in Bad Goisern ein, die er bis 1938 besuchen wird. Er verabscheut die katholische Indoktrination durch die geistlichen Pädagogen, andererseits bildet der von den Schulbrüdern vermittelte Patriotismus eine Grundlage für seine Ablehnung des Nationalsozialismus. Einer seiner Schlukollegen ist der spätere Autor und KPÖ-Funktionär Franz Kain (1922–1997), mit dem Wiesinger eine lebenslange politisch-literarische Freundschaft verbinden wird.
Zweiter Weltkrieg
Nach Beendigung der Schule zieht Wiesinger zunächst zurück nach Linz, wo er den Einmarsch der Nazi-Truppen in Österreich miterlebt. In den darauffolgenden Monaten führt er ein unstetes Wanderleben und schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter in Fabriken, in der Landwirtschaft und bei einem Wanderzirkus durch. In einer autobiographischen Notiz schreibt er von Ausflügen in die Kleinkriminalität: „ich habe gestohlen, eingebrochen, aufgebrochen, unterschlagen und war bis zum einrücken bereits mehrmals inhaftiert.“2 Seinem Vater gelingt es schließlich, den Sohn zur Rückkehr nach Linz und zu einer Lehre als Zahntechniker zu überreden. Diese muss Wiesinger unterbrechen, als er 1941 zum Militärdienst einberufen wird. Nach der Grundausbildung in Berlin wird er der Transportbrigade Speer in Finnland zugewiesen, für die er sich freiwillig gemeldet hatte.
In einem Gefecht erleidet er einen Lungensteckschuss, dessen Folgen ihn lebenslang schwer beeinträchtigen werden. Er lernt einen Kameraden namens Otto Fürst kennen, mit dem er ausländische Sender hört und die darin empfangenen Nachrichten in der Kompagnie weitergibt. Die beiden werden festgenommen, nach Berlin überstellt und kommen dort vor ein Militärgericht. Überraschenderweise werden sie von der Anklage der „Wehrkraftzersetzung“ freigesprochen.
In der Folge wird Wiesinger als Flaksoldat in Linz, Wien, München und Bad Ischl eingesetzt. Er macht weiterhin kein Hehl aus seiner Ablehnung des Regimes, was zu einer erneuten Verhaftung wegen „antifaschistischer Umtriebe“ führt. Im Gefängnis in Wels erleidet er eine schwere Lungenblutung, die er nur knapp überlebt. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands wird er entlassen und erholt sich nur langsam. In den letzten Kriegsmonaten hält er sich überwiegend im Salzkammergut und in Krems auf, wo er eigenen Angaben zufolge Zwangsarbeiter mit Kleidung und Lebensmitteln versorgt und Zeuge der sogenannten Todesmärsche von Häftlingen aus den Nebenlagern des KZ Mauthausen wird.
Rückkehr nach Linz
Nach Kriegsende kehrt Wiesinger nach Linz zurück, wo er in die KPÖ eintritt und den Aufbau der Parteijugendorganisation übernimmt. Als Mitarbeiter der Kulturredaktion der kommunistischen Tageszeitung „Die Neue Zeit“ beginnt er journalistisch zu arbeiten. Zugleich setzt seine literarische Produktion ein, zunächst mit Kurzgeschichten, die er unter dem Pseudonym „Claus Ritsch“ veröffentlicht. Unter einem weiteren Pseudonym, „Frank Israel Noel“, verfasst er sogenannte „Atomromane“, die im Spionagemilieu des Kalten Krieges spielen.
Um 1950 ist Wiesinger auch am kulturellen Wiederaufbau in Linz beteiligt: Mit dem Schriftsteller Paul Blaha sowie den Schauspielern Romuald Pekny und Walter Schmidinger gründet er den „Club der Todnahen“, der im privaten Kreis existenzialistisch-makabre Feste und Kunstaktionen betreibt und gewisse Parallelen zu dem in Wien 1947 gegründeten „art club“ aufweist. 1951 inszeniert Alfred Stögmüller, der spätere Intendant des Linzer Landestheaters, Wiesingers Theaterstück Der Poet am Nil an der Laienbühne „Der Scheinwerfer“. 1953 gründet Wiesinger mit dem Regisseur Ernst Ernsthoff und Paul Blaha das Linzer Kellertheater, das im Jänner 1954 mit Wiesingers Stück Der große Wugram sowie Jean Cocteaus Schule der Witwen eröffnet wird. Die 1950er-Jahre sind Wiesingers produktivste Zeit als Theaterautor. In seinen Stücken profiliert er sich als gesellschaftskritischer, links orientierter Schriftsteller, wiewohl er sich gerade in dieser Zeit aus der unmittelbaren Parteiarbeit zurückzieht. Zwischenzeitlich scheint Wiesinger sogar aus der KPÖ ausgetreten zu sein, da der im Nachlass erhaltene Parteiausweis als Datumseintrag den 1. November 1960 verzeichnet. Seine Praxis als Zahntechniker verkauft er 1960, weil er aufgrund einer weiteren Lungenblutung die dafür nötige körperliche Arbeit nicht mehr zu leisten imstande ist. Von dieser Zeit an lebt er von einer Invalidenrente bzw. seinen Einkünften aus journalistischer und literarischer Arbeit. Ab 1966 verbringt er die Sommermonate regelmäßig auf der jugoslawischen (heute: kroatischen) Insel Korčula, wo er sich in dem kleinen Ort Vela Luka ein Haus bauen lässt. Die Meeresluft bringt seiner Lunge eine temporäre Entlastung, zudem etabliert sich das Haus als Ferientreffpunkt für den Freundeskreis und wird von Wiesinger bis ins Jahr 1988 gehalten.
Erfolge und Zweifel
Zu Beginn der 1960er-Jahre festigt sich sein Bekenntnis zum Kommunismus wieder. Er nimmt regelmäßig an den politischen Schulungen der KPÖ im nahe Wien gelegenen Mauerbach teil. Literarisch intensiviert er die Arbeit an größeren Romanprojekten, in denen er sich mit zeitgeschichtlichen Themen auseinandersetzt. In diesen Jahren entsteht auch der Roman Achtunddreißig. Jänner Februar März, in dem er ein figurenreiches Panorama der Zeit unmittelbar vor dem Einmarsch der NS-Truppen in Österreich entwirft. Das Werk erscheint schließlich 1967 beim Aufbau Verlag in der damaligen DDR. Der Kontakt dürfte auf Vermittlung seines Kollegen Franz Kain zustande gekommen sein, der in den 1950ern als Korrespondent der Tageszeitung „Volksstimme“ in Ostberlin tätig war. Das Buch verkauft sich allein im ersten Quartal 8000-mal und erscheint in einer Lizenzausgabe für den westlichen Buchmarkt im KPÖ-Verlag Globus.
Die unerwartet schroffe Ablehnung eines weiteren Roman-Manuskripts durch den Aufbau-Verlag im Jahr 1969 stürzt Wiesinger in eine tiefe Schaffens- und Lebenskrise, aus der er sich 1970 mit einem spektakulären Literaturbetriebsstreich befreit. Er erfindet einen 26-jährigen „schreibenden Jungbauern“ mit dem Namen Max Maetz und verschickt unter diesem Pseudonym Kurzprosatexte, die sich stilistisch vollkommen von seinen bisherigen Schreibpraktiken entfernen: In radikaler, satzzeichenloser Kleinschreibung lässt er den Jungbauern derbe Schwänke aus dem gar nicht idyllischen Leben des Dorfes Weilling bei St. Florian erzählen, die den literarischen Zeitgeschmack offenbar genau treffen. Rasch werden Texte in den Literaturzeitschriften „protokolle“ und „Facetten“ publiziert, Wiesinger organisiert erste Lesungen, bei denen der Jungbauer von einem Schauspieler vertreten wird. 1972 erscheint schließlich ein Kompendium der Maetz-Geschichten unter dem Titel Bauernroman. Weilling Land und Leute beim Düsseldorfer Verlag Eremitenpresse. Noch vor der endgültigen Auflösung der Maskerade verfasst Wiesinger eine Todesanzeige für Max Maetz, die in der Korrespondenz des Landes Oberösterreich veröffentlicht wird. Wiesinger erhält in der Folge die Aufmerksamkeit von bekannteren Autorenkollegen wie Gerhard Rühm und Vertretern der jüngeren Schriftstellergeneration wie Peter Turrini und Michael Scharang.
1974 und 1976 erscheinen Wiesingers zeitgeschichtliche Romane Der rosarote Straßenterror über die gewaltsame Niederschlagung des Streiks gegen das 4. Lohn- und Preisabkommen im Oktober 1950 sowie Standrecht über die Februarkämpfe 1934 in der Reihe Proletarisch-Revolutionäre Romane des maoistisch orientierten Westberliner Oberbaum-Verlags. Die Auslieferung des Romans Straßenterror wird vom ehemaligen sozialistischen Gewerkschaftsführer Franz Olah mittels einer gerichtlichen Verfügung gestoppt, weil er sich durch das Buch verunglimpft fühlt, und kommt erst 1975 nach einer von Wiesinger abgegebenen Ehrenerklärung auf den Buchmarkt.
1976 verfasst Wiesinger einen zeitgeschichtlichen Krimi mit dem Titel Der Wolf, der in Oberösterreich während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs spielt und von einer Mordserie erzählt, die sich als politische Selbstjustiz gegen Wehrmachtssoldaten erweist. Publiziert wird der Roman erst 1980 in dem österreichischen Kleinverlag Frischfleisch & Löwenmaul. Der zu dieser Zeit noch am Beginn seiner künstlerischen Laufbahn stehende Regisseur und Autor Kurt Palm verfasst ein Drehbuch auf Basis des Stoffes, scheitert aber an der Finanzierung einer Filmproduktion.
Lebensende
In den 1980ern verschlechtert sich Wiesingers Gesundheitszustand zusehends, was ihn auch dazu zwingt, seine journalistische Arbeit ganz einzustellen. In seinen letzten Lebensjahren muss er miterleben, wie der real existierende Sozialismus in den Staaten des Ostblocks politisch und ökonomisch zusammenbricht. Als Reaktion auf den Mauerfall und die Auflösung des Warschauer Pakts tritt Wiesinger 1990 aus der KPÖ aus. Sein Schreiben an den damaligen KPÖ-Vorsitzenden Franz Muhri endet mit dem ambivalenten Kampfruf: „Vorwärts, Genossen, es geht überall zurück.“
Wenige Monate später bricht Wiesinger in seiner Wohnung bewusstlos zusammen und stirbt am 10.2.1991 in einem Linzer Krankenhaus. Die Trauerrede an seinem Grab hält sein langjähriger Weggefährte und Schriftstellerkollege Franz Kain.