Editionsprinzipien
Die Wiener Ausgabe (WA) sämtlicher Werke Ödön von Horváths ist eine historisch-kritische
Edition. Sie umfasst alle abgeschlossenen und Fragment gebliebenen Werke sowie alle
verfügbaren Briefe und Lebensdokumente des Autors. Den Ausgangspunkt bilden die
umfangreichen werkgenetischen Materialien aus dem Nachlassbestand des Autors im
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (teilweise als Leihgabe der
Wienbibliothek im Rathaus).
Die einzelnen Bände der WA sind in Vorwort, Text- und
Kommentarteil gegliedert. In ihrem Zusammenspiel machen diese Teile den
Entstehungsprozess der Werke transparent und bieten die Möglichkeit eines schrittweisen
Nachvollzugs bis in die Letztfassungen der Texte. Das Vorwort skizziert die
Entstehungsgeschichte unter Miteinbeziehung der zeitgenössischen Rezeption. Der
Textteil reiht die genetischen Materialien chronologisch, wobei die Edition
in Auswahl und Textkonstitution auf Lesbarkeit zielt. Dem Lesetext ist ein
kritisch-genetischer Apparat beigegeben. Dieser macht die Änderungsprozesse des Autors
deutlich, auf denen die konstituierten Fassungen basieren, ferner verzeichnet er alle
Eingriffe der Herausgeber. Die Endfassung des Werkes wird zusätzlich in emendierter Form
dargestellt. Im Kommentarteil findet sich ein chronologisches Verzeichnis, das
alle vorhandenen Textträger formal und inhaltlich beschreibt und Argumente für die
Reihung der darauf befindlichen Entwürfe (E) und Textstufen (TS) sowie für die
Konstitution der innerhalb der Textstufen vorliegenden Fassungen liefert.
Simulationsgrafiken dienen zur Darstellung komplexer genetischer Vorgänge.
1 Textteil
1.1 Genetisches Material
Das genetische Material wird in zwei unterschiedlichen Formen zur Darstellung gebracht: Entwürfe erscheinen in diplomatischer Transkription, Fassungen innerhalb von Textstufen werden linear konstituiert.
1.1.1 Diplomatische Transkription und Faksimile (Entwürfe)
Von genetischen Materialien, deren Topografie sich nicht in eine lineare Folge auflösen lässt, wird eine diplomatische Transkription geboten. Hierbei handelt es sich um sogenannte Entwürfe (E), in denen Horváth auf meist nur einem Blatt in Form von Strukturplänen u.ä. das grobe Konzept von Werken und Werkteilen oder knappe Textskizzen entwirft. Die diplomatische Transkription versteht sich als eine Orientierungshilfe zur Entzifferung des nebenstehend faksimilierten Originals und gibt dessen Erscheinungsbild nicht in allen Details, sondern nur insofern wieder, als dies der Ermöglichung einer vergleichenden Lektüre dient. Den verwendeten Schriftgrößen kommt dabei keine distinktive Funktion zu; sie dienen dazu, die räumlichen Verhältnisse des Originals annähernd wiederzugeben. Folgende Umsetzungen finden statt:
- Überschriebene Zeichen oder Wörter werden links neben den ersetzenden wiedergegeben, wobei der ursprüngliche Ausdruck gestrichen und der neue Ausdruck mittels zweier vertikaler Linien eingeklammert wird: tä|e|xt; text|text|.
- Unlesbare Wörter erscheinen als { }, gegebenenfalls mehrfach gesetzt; unsicher entzifferte Zeichen und Wörter als: te{x}t, {text}.
- Gestrichener Text in Zeilen erscheint als: text. Vertikale oder kreuzförmige Streichungen werden als solche dargestellt.
- Mit Fragezeichen überschriebener oder mit Wellenlinie gekennzeichneter Text wird als solcher wiedergegeben.
- Unterstreichungen erscheinen als: text, text.
- Deutlich von einem Wort abgesetzte Punkte werden entsprechend dargestellt: text .
- Eingerahmte oder in eckige Klammern gestellte Ziffern, Wörter und Textpassagen erscheinen als: [text], gegebenenfalls auch über mehrere Zeilen gestellt.
- Der vom Autor zur Strukturierung verwendete Stern (manchmal eingekreist und bis hin zu dicken schwarzen Punkten intensiviert) erscheint als: ⊛.
- Das vom Autor zur Strukturierung verwendete große X erscheint als: ✕.
- Von Horváth zur Markierung verwendete An- und Durchstreichungen werden individuell angepasst wiedergegeben.
- Verweispfeile und Linien werden schematisch dargestellt, sofern sie Wörter und Textblöcke miteinander verbinden. Dienen solche Zeichen der Abgrenzung von Textteilen, werden sie nicht wiedergegeben.
- Liegen auf einem Blatt mehrere Entwürfe nebeneinander, werden diese ab dem zweiten Entwurf zur besseren Unterscheidung grau hinterlegt.
- Aktuell nicht relevanter Text (Entwürfe zu anderen Werken und Werkvorhaben) erscheint in grau 50%: text.
- Die im Zuge der Berliner Bearbeitung von Horváths Nachlass partiell vorgenommene Transkription schwer lesbarer Wörter bzw. allfällige Kommentare direkt in den Originalen erscheinen kursiv und in grau 50%: text.
1.1.2 Lineare Textkonstitutionen (Fassungen)
Textausarbeitungen des Autors, die eine lineare Lektüre zulassen, werden (ohne Faksimileabdruck) konstituiert. Hierbei handelt es sich um Fassungen oft im Rahmen umfänglicher Textstufen (TS). Folgende Prinzipien kommen zur Anwendung:
- Schichtwahl: Im Lesetext wird entweder die Grundschicht oder die in der jeweiligen Arbeitsphase gültige Korrekturschicht einer Textstufe ediert. Die Grundschicht wird im Allgemeinen dann gewählt, wenn es um die Präsentation frühester Schreibansätze geht; in eher seltenen Fällen liegen Typoskripte auch ohne handschriftliche Korrekturschichten vor. Ein genauer Ausweis der Schichtwahl (im Fall des Vorliegens komplexer Schichtungen differenziert nach unterschiedlichen Schreibwerkzeugen und Farben – z.B. schwarze Tinte, roter Buntstift) erfolgt im chronologischen Verzeichnis.
- Punktuelle Streichungen und Einfügungen, die aus einer späteren Bearbeitungsphase stammen, weil das Material im Laufe des Produktionsprozesses dorthin weitergewandert ist, werden im Lesetext nicht berücksichtigt. Besondere Auffälligkeiten werden gegebenenfalls im chronologischen Verzeichnis beschrieben.
- Textausarbeitungen, die linear in eine Fassung nicht sinnvoll integriert werden können, aber offensichtlich aus der gegenwärtigen Bearbeitungsphase stammen, erscheinen im Lesetext eingerückt und grau hinterlegt.
- Deutlich gesetzte Leerzeilen werden in entsprechender Anzahl wiedergegeben.
Folgende Normierungen finden statt: Regie- und Szenenanweisungen erscheinen kursiv, Figurennamen in Kapitälchen (innerhalb von Regie- oder Szenenanweisungen nur dann, wenn sie vom Autor grafisch hervorgehoben wurden, ansonsten bleiben sie ohne Auszeichnung). Von Horváth hs. fallweise anstelle von (runden Klammern) gesetzte [eckige Klammern] werden als runde Klammern wiedergegeben.
Autortext erscheint in Times New Roman 12 pt. Herausgebertext innerhalb des Autortextes wird unter Backslashes in Helvetica 9 pt. gesetzt; im Einzelnen umfassen diese Eintragungen den Abbruch von Textbearbeitungen ohne Anschluss an den folgenden Text bzw. am Ende von Texten durch den Eintrag: \Abbruch der Bearbeitung\ sowie den Verlust von Text (z.B. durch Abriss oder Blattverlust): \Textverlust\. Unsicher entzifferte Buchstaben bzw. unsicher entzifferte Wörter erscheinen als: te{x}t, {text}; unlesbare Wörter (gegebenenfalls mehrfach gesetzt) als: { }.
Blattwechsel wird durch ║ angezeigt, die Angabe des neuen Textträgers mit Signatur erfolgt in der Randspalte.
Die Ansatzmarke: ┌text┐ kennzeichnet im Lesetext Wörter oder Textpassagen, die aus Änderungsvorgängen des Autors oder Eingriffen der Herausgeber hervorgegangen sind; nachgewiesen wird beides im kritisch-genetischen Apparat.
1.1.3 Kritisch-genetischer Apparat
Werden Fassungen in der Grundschicht ediert, verzeichnet der kritisch-genetische Apparat die Veränderungsprozesse nur in dieser Schicht (Sofortkorrekturen). Werden Fassungen in der Korrekturschicht ediert, verzeichnet er alle Änderungsprozesse im Übergang von der Grundschicht zur Korrekturschicht; Sofortkorrekturen in der Grundschicht werden hier nicht mehr verzeichnet, sondern als Ausgangspunkt gesetzt. Ferner weist der kritisch-genetische Apparat alle Eingriffe der Herausgeber nach (diese werden von Herausgeberkommentaren eingeleitet, wie z.B. korrigiert aus:, gestrichen:, gemeint ist:). Autortext erscheint in Times New Roman 10 pt, Herausgebertext in Helvetica 9 pt.
1.2 Emendierte Endfassungen (Normierter Lesetext)
Was die Gestalt der Endfassungen betrifft, werfen die bisherigen Leseausgaben Horváths zahlreiche Fragen auf. Um den Benutzern der Wiener Ausgabe einen einheitlich normierten Lesetext zu bieten, erscheinen die Endfassungen der Texte zusätzlich in emendierter Form. Die Basis der Emendation bieten die zeitgenössischen Rechtschreibregeln (Duden 1929). Gegenüber den (nicht immer konsequent gepflogenen) Eigentümlichkeiten von Horváths Schreibung ergeben sich Abweichungen vor allem in folgenden Punkten:
- Zusammengeschriebene Wörter und Wortgruppen wie „garnicht“, „garkein“, „nichtmehr“ werden getrennt.
- Doppel-s anstelle von ß wird berichtigt (mit Ausnahme des Doppel-s im Format Figurennamen, z.B. Grossmutter).
- Die Interjektionen, bei Horváth oft: „A“ und „O“, werden auf „Ah“ und „Oh“ vereinheitlicht.
- Falschschreibung von Fremdwörtern wird korrigiert, sofern es sich nicht um stilistische Setzungen handelt. Werden bereits zu Horváths Lebzeiten gemäß zeitgenössischer Rechtschreibkonvention veraltete Fremdwortschreibungen verwendet (z.B. „Affaire“, „Couvert“), so wird die Schreibung Horváths beibehalten.
- Fehlende Accents werden nachgetragen, ebenso fehlende Punkte, auch in „usw.“ etc.
- Gedankenstriche, die in Typoskripten als -- realisiert sind, erscheinen als –.
- Die groß geschriebene Anrede „Du“, „Ihr“ etc. wird klein gesetzt, die Höflichkeitsform erscheint groß. Ebenfalls groß bleiben persönliche Anreden in Zitaten innerhalb von Figurenreden (z.B. in von Figuren vorgelesenen Briefen, Schildern etc.).
- Kleinschreibung am Beginn ganzer Sätze nach Doppelpunkten und Gedankenstrichen wird korrigiert.
- Kommasetzung, im Einzelnen:
- Überzählige Kommata in als- und wie-Vergleichen werden getilgt.
- Fehlende Kommata in vollständigen Hauptsätzen, die durch „und“ oder „oder“ verbunden sind, werden ergänzt; ebenso in Relativsätzen und erweiterten Infinitiv- und Partizipialgruppen.
- Nach Interjektionen wie „Ja“, „Nein“, „Na“, „Ah“, „Oh“, „Geh“ wird nur dann ein Komma gesetzt, wenn die Interjektionen betont sind und hervorgehoben werden sollen. Wenn sie in den Folgetext integriert sind, werden sie nicht durch Kommata getrennt, z.B. „Na und?“
- Grammatikalische Fehler werden nur so weit korrigiert, als es sich dabei nicht um stilistische Setzungen handelt; alle dialektal geprägten Formen bleiben erhalten.
- Figurennamen erscheinen in Kapitälchen (auch in Regie- und Szenenanweisungen).
- Normierungen in Regieanweisungen: Bilden Regieanweisungen ganze Sätze (auch in Verbindung mit vorangegangenen Figurennamen), so wird abschließend ein Punkt gesetzt.
2 Kommentarteil
2.1 Chronologisches Verzeichnis
Das chronologische Verzeichnis beschreibt alle zu einem Werk vorhandenen Textträger und sichert die Reihung der darauf befindlichen werkgenetischen Einheiten argumentativ ab. Textträger und Text werden getrennt sigliert: Die Materialsigle bezeichnet den Textträger und unterscheidet Handschrift (H), Typoskript (T) und Druck (D). Die Textsigle bezeichnet die auf dem Textträger befindliche werkgenetische Einheit und differenziert Entwürfe (E) und Textstufen (TS) mit teilweise mehreren Ansätzen (A).
Die Beschreibung des Textträgers umfasst folgende Elemente:
Signatur: Wiener Signatur (ÖLA bzw. IN) des Nachlassbestands und Berliner Signatur (BS), gegebenenfalls auch andere Angaben zu Bezeichnung und Herkunft des Textträgers
Materielle Beschreibung: Umfang, Papierart samt Angaben über spezielle Erscheinung, Größe in Millimeter, Angabe über Teilung, Faltung, Reißung o.ä., Wasserzeichen, Schreibmaterial, Paginierung vom Autor samt Seitenzahlen und Blattnachweisen, Eintragungen fremder Hand
Der Beschreibung des Textträgers folgt eine Auflistung und formale Beschreibung der auf
dem jeweiligen Textträger befindlichen Entwürfe, Textstufen und Ansätze. Umfasst ein
Textträger mehrere werkgenetische Einheiten und ist eine dieser Einheiten im
Entstehungsprozess später einzuordnen, wird sie erst dort verzeichnet und kommentiert.
Die Beschreibung des Textträgers wird an der späteren Stelle wiederholt. Auch das
Weiterwandern von Textträgern (durch Übernahme von Blättern in spätere Fassungen) wird
vermerkt. Sofern die Entwürfe und Fassungen veröffentlicht sind, wird deren Erstdruck in
einer abschließenden Zeile verzeichnet. Das konkrete Erscheinungsbild der Texte in den
Erstdrucken weicht jedoch von den in der Wiener Ausgabe gebotenen Neueditionen oftmals
gravierend ab.
Der nachfolgende werkgenetische Einzelkommentar beschreibt die
Entwürfe, Textstufen und Ansätze auch inhaltlich. Argumente für deren Reihung (manchmal
in Form von gesetzten Wahrscheinlichkeiten) werden genannt und Beziehungen zu anderen
Einheiten im werkgenetischen Material hergestellt; gegebenenfalls wird auch auf den
Zusammenhang mit anderen Werken des Autors verwiesen.
Folgende werkgenetische Begriffe finden Verwendung:
Konzeption
Als Konzeption (K) gilt eine
übergeordnete Gliederungseinheit des genetischen Materials innerhalb eines Werkes. Sie
bezeichnet eine meist längere Arbeitsphase, die sich durch eine prinzipielle Annahme des
Autors über die makrostrukturelle Anlage des Werkes von einer anderen Phase deutlich
unterscheidet. Einzelne Konzeptionen sind durch Unterschiede in der Struktur (drei
Teile/sieben Bilder/etc.) und/oder wichtige Strukturelemente (zentrale Motive und
Schauplätze, Figurennamen der Hauptpersonen etc.) voneinander getrennt.
Vorarbeit
Frühere Werkvorhaben, aus denen der Autor
im Zuge der Entstehungsgeschichte eines Werkes einzelne Elemente entlehnt und/oder
übernimmt, werden dem jeweiligen Werk als Vorarbeiten (VA) zugeordnet. Im Falle des
Vorliegens mehrerer Vorarbeiten werden diese nach genetischen Zusammenhängen gruppiert
und/oder in eine Folge gebracht.
Entwurf
In einem Entwurf (E) legt Horváth die
Gesamtstruktur eines Werkes oder eines einzelnen Strukturelements (Bild, Kapitel, Szene,
...) fest. Entwürfe sind fast ohne Ausnahme handschriftlich ausgeführt und zumeist auf
ein einziges Blatt beschränkt. Zur näheren Beschreibung stehen (spezifisch für den
Dramentext) folgende Begriffe zur Verfügung:
- Strukturplan: Skizzierung des Gesamtaufbaus eines Werkes bzw. einer Werkkonzeption (enthält z.B. Gliederung in Akte oder Teile, Szenen, Titeleintrag und -varianten, Schauplätze, knappe Schilderung wichtiger Handlungselemente und erste Repliken einzelner Figuren).
- Konfigurationsplan: Skizzierung einzelner Szenen (= Auftritte).
- Skizze: Punktuell bzw. schematisch ausgearbeitete Textsequenz. Der Begriff wird auch für grafische Entwürfe (z.B. zum Bühnenbild) verwendet.
- Darüber hinaus können Entwürfe auch lose Notizen zu Motiven, Figuren, Schauplätzen, Dialogpassagen oder Handlungselementen enthalten.
Textstufe
Eine Textstufe (TS) bezeichnet eine klar
abgrenzbare Arbeitseinheit im Produktionsprozess, die intentional vom Anfang bis zum
Ende einer isolierten Werkeinheit (Bilderfolge, Bild, Akt, Kapitel, Unterkapitel, ...)
reicht und (anders als der Entwurf) bereits der konkreten Ausformulierung des Textes
dient. Materiell umfasst der Begriff alle Textträger, die der Autor in dieser
Arbeitseinheit durch schriftliche Bearbeitung oder Übernahme aus einer frühen
Arbeitsphase zur Zusammenstellung aktueller Fassungen verwendet hat.
Ansatz
Ein neuer Ansatz (A) liegt dann vor, wenn
der Autor innerhalb einer Textstufe eine materielle Ersetzung von Textträgern oder
Teilen davon (Blattbeschneidungen, Austausch von Blättern) vornimmt. Innerhalb einer
Textstufe bilden die einander folgenden Ansätze eine genetische Reihe; textlich
repräsentiert sich in ihnen in der jeweils gültigen Textschicht die jeweils aktuelle
Fassung des Textes. Der letzte Ansatz einer Textstufe, d.h. der letztmalige Austausch
von Textträgern, bildet die materielle Grundlage der letzten Fassung innerhalb der
jeweiligen Textstufe. Die Abfolge der Ansätze innerhalb einer Textstufe wird in
komplizierten Fällen in Simulationsgrafiken dargestellt.
Fassung
Der Begriff der Textstufe ist ein
dynamischer; er bezeichnet die Gesamtheit des in einer Arbeitsphase vorliegenden
genetischen Materials, das in Grund- und Korrekturschicht und in verschiedene Ansätze
differenziert sein kann. Der Begriff der Fassung bezeichnet im Gegensatz dazu die
konkrete Realisation eines singulären Textzustands (z.B.
K1/TS7/A5 – Korrekturschicht). Die Fassungen, die
im Textteil konstituiert werden, stellen eine Auswahl innerhalb einer Vielzahl von
Möglichkeiten dar. Der Produktionsprozess wird von ihnen an möglichst aussagekräftig
gesetzten Punkten unterbrochen und ein jeweils aktuelles Textstadium linear fixiert.
Endfassung
Der Begriff Endfassung bezeichnet eine
Fassung, in der sich aus Autorensicht eine endgültige Textgestalt repräsentiert. Durch
spätere Wiederaufnahme der Arbeit können innerhalb einer Werkgenese mehrere Endfassungen
(meist auch als Abschluss einzelner Konzeptionen) vorliegen.
Stammbuch
Mit dem Begriff Stammbuch bezeichneten
Horváths Theaterverlage in kleiner Auflage hergestellte Drucke, die nicht für den
allgemeinen Verkauf, sondern für den Gebrauch an Theatern bestimmt waren. Oft tragen
solche Stammbücher den Aufdruck: „Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt“ sowie
den meist handschriftlich notierten Vermerk „ST“ (für „Stammbuch“). Mit diesen
Anmerkungen wurde der für die jeweilige Aufführung autorisierte Text gekennzeichnet.
Vorarbeiten und Konzeptionen, Entwürfe, Textstufen und Ansätze werden im chronologischen Verzeichnis über Siglen gereiht, die Reihung von TS und E erfolgt innerhalb der jeweiligen Kategorie, sodass sich als genetische Abfolge z.B. ergeben kann: K2/E1, K2/TS1, K2/TS2/A1, K2/TS2/A2, K2/E2, K2/E3, K2/TS3 usw.
2.2 Simulationsgrafiken
In den Simulationsgrafiken wird die Abfolge von Ansätzen innerhalb einer Textstufe
dargestellt und zwar in der Art, dass die Textträger mit syntagmatisch
zusammengehörendem Text untereinander stehen und die ersetzenden Textträger rechts von
den ersetzten positioniert werden. Ausgangspunkt der Darstellung ist der früheste Ansatz
der jeweiligen Textstufe. Die Textträger werden an allen rekonstruierbaren Positionen
abgebildet und damit die materiellen Vorgänge der Textentstehung und -ersetzung
simuliert.
Die ungefähre Form des Textträgers ist in der Grafik durch einen Rahmen
wiedergegeben. Die Paginierung Horváths – so vorhanden – und die Berliner Blattnummer
sind eingetragen. An seiner ersten Position wird der Textträger mit durchgezogenen
Rahmenlinien dargestellt, an allen späteren mit strichlierten, wobei der Textträger so
lange eingeblendet bleibt, wie er Gültigkeit hat. Die doppelt-strichpunktierten Linien
kennzeichnen Schnitte, die punktierten Linien „Klebenähte“, die nach dem Ankleben von
neuem Text auf den Originalen erkennbar sind.
Zur Illustration der Funktionsweise
dient die nachstehend abgebildete Simulationsgrafik zu einer Textstufe der
Hofrat-Konzeption aus Geschichten aus dem Wiener Wald. Diese Grafik, die ausschließlich
Material der Mappe BS 37 c darstellt, zeigt einen relativ gleichmäßig verlaufenden
Produktionsprozess: Horváth beginnt (links oben eingetragen) auf Bl. 14 mit der
Ausarbeitung des Bildes, bricht jedoch mitten auf Bl. 15a ab, setzt auf Bl. 15b mit dem
Text neu an und kommt bis Bl. 17. Er korrigiert den Text dieser Blätter handschriftlich
und macht sich am Fuß von Bl. 17 Notizen zum weiteren Textverlauf. Auf Bl. 18 und 19
schreibt er den Text von Bl. 17 ins Reine und setzt ihn dann auf Bl. 19 neu fort, bricht
jedoch wieder ab, noch bevor er das Blatt vollgeschrieben hat. Bl. 19 wird dann durch
Bl. 20 ersetzt, Bl. 20 gemeinsam mit Bl. 21 durch Bl. 22–24. In dieser Art schreibt sich
Horváth in immer neuen Ansätzen bis ans Ende des Bildes durch. Bei Bl. 32 wendet der
Autor ein Verfahren an, das ihm kürzere Rückschritte ermöglicht: Er schneidet Bl. 32a
von Bl. 32 ab und klebt ein Stück mit neuem Text an. Die anschließenden Blätter 33 bis
37 sind in einem Zug geschrieben.