<quote>Über das Verhältnis der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit; über Styl und Manier</quote> <date>1808</date> Schlegel, August Wilhelm o:reko.schl.1808 August Wilhelm Schlegel: "Über das Verhältnis der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit; über Styl und Manier", in: Walter Jaeschke (Hrsg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805). Mit Texten von Humboldt, Jacobi, Novalis, Schelling, Schlegel u.a. und Kommentar. Philosophisch-literarische Streitsachen. Bd. 1. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1999, S. 329-340. ISBN: 3-7873-1390-7. "Über das Verhältnis der schönen Kunst zur Natur; über Täuschung und Wahrscheinlichkeit; über Styl und Manier" (aus Vorlesungen, gehalten in Berlin im Jahre 1802), in: Prometheus 5/6 (1808), S. 1-28. [1. Buchausgabe] Kritische Schriften. 2. Theil. Berlin: Reimer 1828, S. 310ff. Genre Vorlesung Media Literatur, Kunst

Aristoteles hatte als Thatsache den Satz aufgestellt, die schönen Künste seyen nachahmend. Dieß war richtig, in so fern damit nur gesagt seyn sollte, es komme etwas Nachahmendes in ihnen vor: unrichtig aber, wenn es bedeutete, wie Aristoteles es wirklich nahm: die Nachahmung mache ihr ganzes Wesen aus. Überdieß wurde Architektur und Redekunst schon dadurch ausgeschlossen, die auch Aristoteles nicht in den Kreis jener Künste zu ziehen scheint, wie viele nach ihm aus demselben Grunde.

Neuere Theoristen haben diesen Satz nun in folgenden verwandelt: die schöne Kunst soll die Natur nachahmen.

Die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit der Begriffe Natur und nachahmen hat hierbey die größten Mißverständnisse verursacht, und in mannigfaltige Widersprüche verwickelt, [sic]

Bey Natur denken sich viele nichts weiter, als das ohne Zuthun menschlicher Kunst Vorhandene. Wenn man nun zu diesem verneinenden Begriff der Natur einen eben so leidenden vom Nachahmen hinzufügt, so daß es ein bloses Nachmachen, Kopiren, Wiederholen bedeutet, so wäre die ganze Kunst in der That ein brodloses Unternehmen. Man sieht nicht ein, da die Natur einmal vorhanden ist, warum man sich quälen sollte, ein zweytes, jenem ganz ähnliches, Exemplar von ihr in der Kunst zu Stande zu bringen, das für die Befriedigung unsers Geistes nichts voraus hätte, als etwa die Bequemlichkeit des Genusses. So bestände z.B. der Vorzug eines gemahlten Baumes vor einem wirklichen darin, daß sich keine Raupen und anderes Ungeziefer daran setzen, wie die Bewohner der nordholländischen Dörfer in der That die kleinen Höfe an ihren Häusern der Reinlichkeit wegen nicht mit wahren Bäumen bepflanzen, sondern sich begnügen, auf die Wände umher Bäume, Hecken und Lauben zu mahlen, die sich überdieß auch im Winter grün erhalten. Die Landschaftmahlerei würde demnach blos dazu dienen, im Zimmer gleichsam eine Natur im Auszuge um sich zu haben, wobey man froh wäre, die gebirgigen Gegenden anzusehen, ohne der rauhen Witterung ausgesetzt zu seyn, und klettern zu müssen. Mir fällt dabey die Reisenatur des Prinzen in Göthes Triumph der Empfindsamkeit ein.

Aber man stelle sich, wie man will, so kann man höchstens die unglücklichen bildenden Künste in diesem Sinne zur blosen Nachahmung der Natur machen; die Erscheinungen der übrigen bringt man auf keine Weise heraus. Denn man halte die Musik für Nachahmung des Naturausdrucks der Empfindungen durch Laute, oder lasse sie dem Gesange der Vögel abgelernt seyn, wie die Chinesen erzählen, einer ihrer Kaiser habe einstmals ein Konzert von Singvögeln vernommen, und nach dem Muster desselben das erste menschliche Konzert veranstaltet: so wird man darausnimmer das Erforderniß des Taktes, des regelmässigen Rhythmus ableiten, noch seine Entstehung begreiflich machen können. So kommt man dahin, diese Dinge für ausserwesentliche Zierrathen zu halten, und erklärt, einer willkührlichen Meinung zu lieb, dasjenige, worin seit undenklichen Zeiten die Menschen unter allen Himmelsstrichen übereingekommen sind, für zufällig und ungültig, woraus denn die verkehrtesten Regeln herfließen.

Einige haben doch gemerkt, obiger Grundsatz sey gar zu unbestimmt; sie haben befürchtet, die Kunst möchte sich, wenn man ihr diese Breite gäbe, in das Gleichgültige und Widerwärtige verlieren; sie sagen deßwegen: die Kunst soll die schöne Natur, oder sie soll die Natur ins Schöne nachahmen. Dieß heißt recht, einen von Pontius an Pilatus weisen. Denn entweder ahmt man die Natur nach, wie man sie vorfindet, so wird es vielleicht nicht schön ausfallen; oder man bildet sie schön, so ist es keine Nachahmung mehr. Warum sagen sie nicht gleich: Die Kunst soll das Schöne darstellen; und lassen die Natur ganz aus dem Spiele? So wäre man der Quälerei los, daß die Kunsterscheinungen zur Natur in diesem Sinne umgedeutet werden müssen; was nicht ohne die äusserste Gewaltthätigkeit möglich ist.

Da es der beste Beweis ist, etwas sey gut nachgemacht, wenn man die vorgestellte Sache für die wirkliche halten kann, so fließt aus dem grob verstandnen Grundsatze der Nachahmung natürlich her, daß man sich in der Kunst die Täuschung zum Ziel setzen müsse, und daß alles, was die Täuschung stört, fehlerhaft sey. Man hat den spielenden Schein, welchen die ächte Kunst sucht, und welchem sich das bezauberte Gemüth freywillig hingiebt, wiewohl es sich der Erdichtung sehr gut bewußt ist, worüber es auch auf Augenblicke, so wie über blos innere Vorstellungen die nähere Gegenwart ganz vergessen kann, mit dem eigentlichen Irrthum verwechselt, mit der gänzlich leidenden Berückung, die dem Geiste alle Freyheit der Betrachtung rauben würde, indem die geglaubte Wirklichkeit des Dargestellten nun ernsthaft auf ihn eindränge. Dieser Grundsatz der Täuschung ist dem Wesen ächter Kunst so fremd, daß er fast nur auf die Mahlerei, und auf die Poesie, mit Schauspielkunst verbunden, hat angewandt werden können. Gesang und Tanz bedürfen einer festgesetzten Kunstform, der Rhythmus erinnert jeden Augenblick daran, daß sie nur freye umbildende Darstellungen vom natürlichen Ausdruck der Gemüthsbewegungen sind; man kann ihnen nicht ohne die größte Verwirrung der Begriffe eigentliche Täuschung zuschreiben. Die Skulptur thut anerkannter Maßen auf Täuschung Verzicht. Wenn Täuschung den Werh [sic] eines Kunstwerkes bestimmte, so müßte es erlaubt seyn, Statuen anzustreichen, und eine Wachsfigur mit natürlichen Haaren, und vielleicht den wahren Kleidern der vorgestellten Person, wäre der besten Statue von ihr vorzuziehen. Wenn man auch nicht so weit ging, hat man gleichwohl der Skulptur zuweilen angerathen, der Täuschung zu lieb, wenigstens nicht kolossal zu bilden. Wenn man die Kunst einmal so ansieht, so darf man wenigstens nicht über den Menschen lachen, der ein Brustbild nicht ähnlich fand, weil die Person ja Hände und Füße habe.

Bey der Mahlerei hat es eher einigen Schein, doch kann sie auch keine eigentliche Täuschung bezwecken wollen, da sie kein wahres Licht hat, sondern nur durch einen geschickten Gebrauch der weißen und durch die Abstufungen der übrigen Farben, die Beleuchtung zu bezeichnen vermag. Zum Behuf der Täuschung müßte dem also durch anderweitige Vorkehrungen abgeholfen werden, wie z.B. ineinem Panorama geschieht, oder wenn man eine Mondschein-Landschaft durchsichtig erleuchtet. Die Frage jener Chinesen beym Anblick englischer Bildnisse: ob die Personen denn wirklich so fleckig wären, als sie durch Licht und Schatten erschienen? kann uns aufmerksam darauf machen, daß Gemählde nicht eigentlich täuschen, daß Einsicht und Gewöhnung dazu gehört, um die Wahrheit des Scheins in ihnen zu finden.

Am meisten Unheil hat dieser Grundsatz in der dramatischen Poesie, und in der von ihr abhängigen Schauspielkunst angerichtet.

Man sieht an obigen Beyspielen, wie es immer ins Tändelnde oder Widerwärtige ausartet, wenn man mit der Täuschung Ernst macht. Wir erinnern uns hiebey der lustigen Geschichte von einem Künstler im alten Rom, der natürlich wie ein Schwein grunzen konnte, (in den Fabeln des Phädrus), ein Bauer wollte ihn vermittelst eines unter dem Mantel versteckten wahren Schweines übertreffen, ward aber ausgepfiffen, und beschämte nun, indem er es hervorzog, die getäuschten Kenner. Wer weiß, diese hatten doch so Unrecht nicht, jenen vorzuziehen, nur leiteten sie ihr Vergnügen aus der falschen Quelle der Täuschung her, da es vielmehr daher rühren mochte, daß eine menschliche Stimme die eines Thieres charakteristisch jedoch immer noch kennbar nachahmte.

Mit der Täuschung ist die Forderung der Wahrscheinlichkeit nahe verwandt, welche hauptsächlich an die Poesie, vor allem an die dramatische gemacht worden, und dahin geführt hat, alles Kühne, Große, Wunderbare und Ausserordentliche daraus zu verbannen, und das Gemeine, Alltägliche für den wahren Gegenstand derselben auszugeben. Ganz verkehrter Weise. Die eigentliche Wahrscheinlichkeit beruht auf Berechnungen des Verstandes, die auf ein schönes Kunstwerk nicht anzuwenden sind; in der Poesie kann von keiner andern die Rede seyn, als daß etwas mehr scheine, und wahr scheinen kann sehr wohl auch, was nimmer wahr werden mag. Es kommt nur darauf an, daß ein Dichter uns durch den Zauber seiner Darstellung in eine fremde Welt zu versetzen wisse, so kann er alsdann in ihr nach seinen eignen Gesetzen schalten.

In einem andern Sinne nennt man auch das Natur, was im Menschen von selbst und ohne Anstrenung [sic] zum Vorschein kommt, im Gegensatz mit dem künstlich angebildeten. Diese Natur hat man der Kunst auf eine doppelte Art empfohlen: in Betreff der dargestellten Menschen, und in Betreff der Person des Künstlers. Bey den übrigen Künsten leuchtet es zu sehr ein, daß deren Ausübung, wegen ihrer durchaus künstlichen Mittel, ein gründliches methodisches Studium erfordert; so hat denn dieser schlimme Rath, sich blindlings seinen Anlagen, und einer wilden Begeisterung zu nicht blos scheinbar, sondern wirklich kunstlosen Ergießungen zu überlassen, am meisten in der Poesie auf Irrwege geführt. Diesem Grundsatze der Natürlichkeit, welcher eigentlich die Kunst ganz aufhebt, steht als das entgegengesetzte Äusserste gegenüber der Grundsatz der Künstlichkeit, welcher eine Hervorbringung der Kunst blos nach dem Maße der darin auf der Oberfläche erscheinenden Geschicklichkeit und Mühe schätzt. Er lautet demnach: die überwundne Schwierigkeit sey die Hauptquelle des Vergnügens an schönen Geisteswerken; deswegen sey z.B. ein Trauerspiel in gereimten Versen, und worin es möglich gemacht worden, eine Handlung in einem einzigen Zimmer innerhalb eines Zeitraumes von wenigen Stunden vorgehen zu lassen, eine gar bewundernswürdige Sache.Dergleichen Aussprüche zeigen aufs klarste die herrschende Beschränktheit und Stümperhaftigkeit in der Ausübung der Kunst; denn einem Meister, der das Große und Wesentliche unter sich gebracht hat, muß die Erfüllung der mechanischen Bedingungen nur eine Kleinigkeit seyn. Entweder die Schwierigkeit wird dem Werke noch angemerkt, so ist sie nicht recht überwunden; oder sie ist vollkommen überwunden, so ergibt sie sich nicht mehr aus dessen Betrachtung, sondern es kann nur von Kennern aus eigner Erfahrung auf sie geschlossen werden, welches gar nicht mit zum Kunstgenusse gehört. Boileau hat sich nicht geschämt, die Poesie mit der Kunst zu vergleichen, Hirsekörner durch ein enges Loch zu werfen, und er hat der seinigen allerdings damit Gerechtigkeit widerfahren lassen. Wenn sie aber überhaupt nichts weiter wäre, so verdienten die Poeten nur auf eben die Weise belohnt zu werden, wie vom Alexander jener Mann belohnt ward, der sich ihm durch die überwundne Schwierigkeit der Hirsekörner empfehlen wollte.

Was die Natürlichkeit in Ansehung der dargestellten Personen betrifft, so hat es seine Richtigkeit, daß die Darstellung Wahrheit und Tiefe haben muß, welches durch die Steifheit konventioneller Formen ganz unmöglich gemacht wird. Von diesen müssen sie also entkleidet werden. Jedoch hat die Forderung der Natürlichkeit bey Ausstattung der Personen mit ausgezeichneten Eigenschaften viel zu sehr beschränkt; im besten Falle hat man das Naive und Einfache, meistens das Gemeine und Platte ergriffen.

Das Natürliche wird gewöhnlich nicht nach der Menschheit im Allgemeinen, wie sie sich unter verschiedenen Himmelsstrichen in verschiedenen Zeitaltern gestaltet hat, beurtheilt, sondern nach einer einseitigen Nazionalität. in einem verwöhnten Zeitalter, wo oft das unnatürlichste natürlich geworden seyn kann. Der Geitzige findet die Freygebigkeit, der Feige die Tapferkeit unnatürlich, und so muß einer völlig unpoetischen Nation schon alles wahrhaft Poetische unnatürlich vorkommen, wie man es denn auch bey den Franzosen erlebt. Sie führen, trotz dem, daß sie einen so großen Nachruckt auf den Grundsatz der Künstlichkeit legen, auch den der Natürlichkeit beständig im Munde. Was ihnen natürlich scheinen soll, muß Klarheit und Bestimmtheit haben, dabey aber nüchtern seyn. Sie können sogar die kalte vernünftelnde Rhetorik der Leidenschaften in ihren Trauerspielen natürlich finden, wenn sie nur bild- und fantasielos ist; im entgegen gesetzten Falle würde sie ihnen bey der größten Wahrheit als übertriebner Bombast vorkommen.

Durch die gröbste Verwirrung aller Begriffe hat man das, was Form, Mittel der Darstellung ist, mit zu ihrem Inhalte gerechnet, und es z.B. für unnatürlich erklärt, wenn die Personen im Drama in Versen reden, als ob der Dichter im Sinne hätte, lauter improvisirende Poeten aufzuführen, und der poetische Styl nicht auf die Bedeutung des Werkes im Ganzen ginge. So Diderot und Andere nach seinem Beyspiel. Was man gegen die Oper als eine unschickliche und verwerfliche Gattung eingewandt, läßt sich meistens auf diesen unstatthaften Grund zurück führen.

Wenn man aus dieser subjektivsten Verengung das Wort Natur wieder bis zum Inbegriff aller Dinge erweitert, so leuchtet freylich, daß die Kunst ihre Gegenstände aus dem Gebiete der Natur hernehmen muß; denn es gibt alsdann eben nichts andres. Die Fantasie kann in ihren kühnen Flügen zwar übernatürlich, aber niemals aussernatürlich werden. Die Bestandteile ihrer Schöpfungen, wie sie auchdurch ihre wunderbare Thätigkeit verwandelt seyn mögen, müssen immer aus einer vorhandenen Wirklichkeit entlehnt seyn. In diesem Sinne braucht man aber gar nicht der Kunst vorzuschreiben, daß sie die Natur nachahmen soll, sondern sie muß es; es hat gar keine Gefahr, daß sie etwas anders können wird. Der Satz würde daher richtiger lauten: die Kunst muß Natur bilden; wo er alsdann blose Thatsache und berichtigter Ausdruck von dem des Aristoteles wäre.

Wenn man sagt, der Künstler soll die Natur studiren, er soll sie beständig vor Augen haben u.s.w., welches übrigens sehr empfehlungswürdige Vorschriften sind, so versteht man unter Natur wieder nicht die Gesammtheit der Dinge, sondern bestimmte einzelne Gegenstände der Aussenwelt. Wie kommen diese nun dazu, mit einem so würdigen Namen belegt zu werden? Unstreitig, weil sich in ihrer Erscheinung allgemeine Naturgesetze offenbaren. Man sagt von einer gemahlten Kleidertracht, die doch ein Werk menschlicher Hände ist, sie sey nach der Natur gemacht, wenn in ihrem Faltenwurf die Gesetze der Schwere, wie sie sich nach der besondern Beschaffenheit des Zeuges, und seiner Lage am Körper äussern, und in ihrer Färbung die Gesetze der Lichtvertheilung beobachtet sind. Allein das Wort Natur hat auch hier wieder sehr irre geführt, als ob das einzelne Naturding schon das absolute Vorbild, das unübertreffliche, ja das unerreichbare für den menschlichen Geist wäre. Sehr vortreffliche Künstler haben diesen Wahn durch ihr Ansehen bestätiget, gerade weil sie die bestimmteste Anschauung hatten, und die Unerschöpflichkeit jeder Erscheinung innigst fühlten, glaubten sie den vorbildlichen Gegenstand nur auf unvollkommne Weise, sonst unverwandelt in ihr Werk aufgenommen zu haben. Eben weil ihnen die Thätigkeit, wodurch er gänzlich umgebildet, erst zu einem passenden Theile ihrer Darstellung wurde, so natürlich war, wurden sie sich derselben nicht bewußt, und schrieben alles Verdienst der Natur zu. Daß dem so sey, davon kann man sich leicht überzeugen, wenn man sich nur an die entgegengesetzten Äussersten erinnert, wie z.B. ein Raphael, und wie ein mikroskopischer Insektenmahler die Natur vor Augen hat, oder ein Denner, der die Menschen um nichts besser als mikroskopische Insekten nachpinselt. Durch bloses Nachmachen, Kopiren, wird man immer gegen die Natur den Kürzeren ziehen; die Kunst muß also etwas anderes wollen, um diesen Nachtheil zu vergüten, und das ist reine Heraushebung des Bedeutsamen und der Erscheinung mit Übergehung der störenden Zufälligkeiten.

Die todte und empirische Ansicht von der Welt ist, daß die äussern Dinge sind, die philosophische, daß alles in ewigem Werden, in einer unaufhörlichen Schöpfung begriffen ist, worauf uns schon eine Menge Erscheinungen im gemeinen Leben gleichsam hinstossen. Von uralten Zeiten her hat demnach der Mensch diese in allem wirksame Kraft der Hervorbringung zur Einheit einer Idee zusammengefaßt, und das ist die Natur im eigentlichen und höchsten Sinne. In keiner einzelnen Hervorbringung kann diese allgemeine Schöpferkraft erlöschen, allein wir können sie nie mit dem äusseren Sinne gewahr werden, am bestimmtesten erkennen wir sie von dem Punkte aus, wo wir selbst unsern Antheil daran in uns tragen: als organische Wesen, und nach den Graden der Verwandtschaft andrer Organisationen mit der unsrigen. Die gesammte Natur ist ebenfalls organisirt, aber das sehen wir nicht; sie ist eine Intelligenz wie wir, das ahnden wir nur, und gelangen erst durch Spekulation zur klaren Einsicht. Wird nun Natur in dieser würdigsten Bedeutunggenommen, nicht als eine Masse von Hervorbringungen, sondern als das Hervorbringende selbst; und der Ausdruck Nachahmung in dem edleren Sinne, wo es nicht heißt, die Äusserlichkeiten eines Menschen nachäffen, sondern sich die Weise seines Handelns zu eigen machen, so ist nichts mehr gegen den Grundsatz einzuwenden, noch zu ihm hinzuzufüen [sic]: die Kunst soll die Natur nachahmen. Das heißt nämlich, sie soll wie die Natur selbständig schaffend, organisirt und organisirend, lebendige Werke bilden, die nicht erst durch einen fremden Mechanismus, wie etwa eine Pendeluhr, sondern durch inwohnende Kraft, wie das Sonnensystem, beweglich sind, und vollendet in sich selbst zurückkehren. Auf diese Weise hat Prometheus die Natur nachgeahmt, als er den Menschen aus irdischem Thon formte, und ihn durch einen von der Sonne entwandten Funken belebte.

In diesem höchsten Sinne hat, so viel ich weiß, nur ein einziger Schriststeller [sic] den Grundsatz der Nachahmung für die Künste ausdrücklich aufgestellt. Es ist Moriz in seiner vortrefflichen kleinen Schrift über die bildende Nachahmung des Schönen Seit dieses geschrieben wurde, Schelling in seiner Rede über das Verhältniß der bildenden Kunst zu der Natur.. Die Mängel derselben rühren daher, daß Moriz bey seinem wahrhaft spekulativen Geist in der damaligen Philosophie gar keinen Anhalt fand, und sich daher einsiedlerisch in mystischen Irrgängen verlor. Er beschreibt das Schöne als das in sich Vollendete, was als ein für sich bestehendes Ganze von unsrer Einbildungskraft umfaßt werden kann. Nun sey aber der große Zusammenhang der ganzen Natur, der über das Maaß unsrer Anschauung hinausgeht, das einzige wahre, für sich bestehende Ganze; jedes einzelne Ganze in ihm sey wegen der unauflöslichen Verkettung der Dinge nur eingebildet; aber es müßte sich dennoch, als Ganzes betrachtet, jenem großen Ganzen in unsrer Vorstellung ähnlich, und nach eben den ewigen festen Regeln bilden, nach welchen dieses sich von allen Seiten auf seinen Mittelpunkt stützet, und auf seinem eignen Daseyn ruht. Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers sey daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur. Vortrefflich! sowohl die im Schönen liegende Beziehung aufs Unendliche, als das Streben der Kunst nach innerer Vollendung ist hiedurch aufs glücklichste ausgedrückt.

Wo aber soll der Künstler seine erhabne Meisterin, die schaffende Natur finden, um sich mit ihr gleichsam zu berathen, da sie in keiner äusseren Erscheinung enthalten ist? In seinem eignen Innern, im Mittelpunkte seines Wesens durch geistige Anschauung kann er es nur, oder nirgends. Die Astrologen haben den Menschen Mikrokosmus, die kleine Welt genannt, was sich philosophisch sehr gut rechtfertigen läßt. Denn wegen der durchgängigen Wechselbestimmung aller Dinge, ist jeder Atom Spiegel des Weltalls. Der Mensch ist aber das erste uns bekannte Wesen, das nicht blos für eine fremde Intelligenz Spiegel des Weltalls wäre, sondern weil seine Thätigkeit in sich zurück geht, es auch für sich selbst seyn kann. Die Klarheit nun, der Nachdruck, die Fülle, die Allseitigkeit, womit sich das Weltall in einem menschlichen Geiste abspiegelt, und womit sich wiederum dieses Abspiegeln in ihm spiegelt, bestimmt den Grad seiner künstlerischen Genialität, und setzt ihn in den Stand, eine Welt in der Welt zu bilden.

Man könnte die Kunst daher auch definiren, als die durch das Medium eines vollendeten Geistes hindurchgegangene, für unsre Betrachtung verklärte und zusammengedrängte Natur. Der Grundsatz der Nachahmung, wie er gewöhnlich ganz empirisch genommen wird, läßt sich also geradezu umkehren. Die Kunst soll die Natur nachahmen, heißt mit andern Worten: die Natur (die einzelnen Naturdinge) ist in der Kunst Norm für den Menschen. Diesem Satz ist geradezu entgegengesetzt der wahre: der Mensch ist in der Kunst Norm der Natur. Die große Lehre des Plato, der Mensch sey das Maaß aller Dinge, bewährt sich demnach auch in der schönen Kunst, und wird hier gleichsam sichtbar gemacht. […]

Wenn wir uns auf einen höheren Gesichtspunkt stellen, so erkennen wir wohl, daß das Individuelle aus dem Allgemeinen durch Beschränkung und Entgegensetzung sich bildet. In der Kunst also, die als etwas Allgemeines für alle Gültiges betrachtet werden muß, wäre die Hinzufügung des Individuellen, Persönlichen, viel mehr beschränkend und negativ, und die Enthaltung davon das Positive, die Erweiterung der Kunst zu ihrem wahren Umfange.

Allein wir sind nun einmal Individuen, werden als solche geboren, und können nicht aufhören, es zu seyn. Es ist folglich ein bestimmtes Verhältniß in unsern Anlagen, vermöge dessen uns gewisse Handlungsweisen am leichtesten und angemessensten sind; durch die Wiederholung derselben müssen Gewöhnungen und besondere Neigungen entstehen, die sich in Werken, welche aus dem Innersten unsers Wesens hervorgehen sollen, wie die der schönen Kunst sind, nothwendig mehr oder weniger abdrücken werden. Wir sehen die Dinge durchaus nicht, wie sie an sich sind, sondern nach ihrem Verhältnisse zu uns, welches natürlich durch unsre ganze Persönlichkeit bestimmt wird. Wie ist es also möglich, in der Kunst nicht manierirt zu seyn, ja nur zu merken, daß wir eine Manier an uns haben?

Dadurch, daß wir nicht blos Individuen, sondern auch Menschen sind, d.h. etwas Festes, sich selbst Bestimmendes und allgemein Gültiges in uns tragen, an welches wir wie an einen Maaßstab das Veränderliche, zufällig Bestimmte, und ausschließend Eigenthümliche zu halten vermögend sind. So wie die Sittlichkeit von uns fordert, unsern selbstischen Trieb aus Gehorsam gegen ein höheres Gesetz zu bezähmen, so wird die künstlerische Tugend (virtù, wie ja auch die Italiäner eine vollendete Kunstfertigkeit nennen) darin bestehen, daß sich der Künstler, den Gesetzen des Schönen und der Darstellung zu lieb, seiner Individualität zu entäussern weiß, daß er sich seinem Werke gleichsam unterwirft; und so sieht man ein, wie, wo nicht gänzliche Reinheit von allen persönlichen Einflüssen, doch eine Annäherung an Vollendung Statt finden kann, welche den Betrachter des Kuntwerkes [sic] keine Manier mehr darin erkennen lassen wird.

Von dieser Seite wird also Erhebung über das Manierirte durch eine Maxime des Willens möglich. Allein die Wirkung einer solchen reicht nicht bis dahin, wo es aus der unübersteiglichen Beschränktheit unserer Kenntnisse herrührt. – Der Gegenstand der Kunst, wie wir gesehen haben, ist nothwendig Natur. Die Idee der Natur haben wir in uns, aber in der historischen Erkenntniß durch Erfahrung bleibt sie für uns unübersehbar und unerschöpflich. Da wir nun das, was wir in uns tragen, die Idee, den Geist, die Poesie eines Werkes nur durch bestimmte äussere Erscheinungen festhalten können, so wird auch an diesem die Mangelhaftigkeit unserer Naturerkenntniß, sowohl was ihren Umfang, als ihre Tiefe betrifft, bemerkt werden. Die Wissenschaft des Mahlers ist die Beobachtung des Sichtbaren : der eine hat es darin weiter gebracht in Ansehung der Erscheinungen von Farben, und Licht und Schatten, der andere in Ansehung der Formen, besonders organisirter Körper; jeder thut sich also in dem entsprechenden Theile der Kunst hervor, und wird den andern in selbigem für manierirt erklären, und vor dem allsehenden Auge der Natur würde wahrscheinlich keiner von beyden auch in dem, was er am besten versteht, als frey von Manier bestehen. Vollkommene Naturwahrheit ist mit Einem Worte nicht zu erreichen möglich, und die Kunst soll sie nicht einmal suchen wollen, weil sie über diesem Suchen ihren eignen höheren Zweck unfehlbar aus den Augen verliert. Die Natur als Gegenstand der Darstellung ist der Kunst nur Mittel zu ihren Offenbarungen, durch jenes Bestreben würde sie sie zum letzten Ziel derDarstellung erheben, und im besten Falle, wenn es noch so sehr damit gelänge, wieder in blose Natur übergehen, da sie doch eine durchgängige Umbildung derselben nach Gesetzen des menschlichen Geistes seyn soll.

Zwischen der Kunst und der Natur steht also nothwendig etwas mitten inne, was sie aus einander hält. Dieses heißt Manier, wenn es ein gefärbtes oder trübes Medium ist, welches auf alle dargestellten Gegenstände einen falschen Schein wirft; Styl, wenn es den Rechten von beyden, der Kunst und der Natur nicht zu nahe tritt, welches nicht anders möglich ist, als durch die dem Werke selbst gleichsam eingeprägte Erklärung, es sey nicht Natur, und wolle sich nicht dafür ausgeben. Freyheit von Manier ist also nur dadurch möglich, daß man einen Styl hat, nicht wie viele gemeint haben, durch völliges Übergehen in die Natur, bis zur ununterscheidbaren Einerleyheit. Es versteht sich von selbst, daß wir hier mit dem Worte Styl noch etwas anders meinen, als blose Abwesenheit der Manier, sonst würde der Satz identisch seyn und gar nichts sagen. Sondern Styl ist eine Verwandlung der individuellen unvermeidlichen Beschränktheit in freywillige Beschränkung nach einem Kunstprinzip. Winkelmann [sic] hat darüber einen äusserst treffenden Ausdruck, indem er sie ein System der Kunst nennt. Er redet von einem Grundsatze des hohen Styls, und sagt: „Der ältere Styl war auf ein Systema gebaut, welches aus Regeln bestand, die von der Natur genommen waren, und sich nachher von derselben entfernt hatten, und idealisch geworden waren. Man arbeitete mehr nach der Vorschrift dieser Regeln, als nach der Natur, die nachzuahmen war, denn die Kunst hatte sich ihre eigene Natur gebildet. Über dieses angenommene Systema erhoben sich die Verbesserer der Kunst, und näherten sich mehr der Wahrheit der Natur.“ Wir wollen nicht alles prüfen, was in diesen Worten liegt, besonders das von den aus der Natur hergenommenen und idealisch gewordenen Regeln, sondern nur bemerken, daß auch nach der Annäherung an die Wahrheit der Natur, die Kunst sich wieder ihre eigne Natur bildete, daß dieß immer von der ächten Kunst gilt, nur in einem mehr oder weniger auffallenden Sinne. – Styl wäre also ein System der Kunst, aus einem wahren Grundsatze abgeleitet, Manier im Gegentheil eine subjektive Meinung, ein Vorurtheil, praktisch ausgedrückt.

Es tritt jedoch von neuem der Zweifel ein, wie es mehr als Einen Styl geben kann, da das Wahre nur eins ist. Wir müssen uns zuvörderst erinnern, daß die Kunst ein unendliches Ganzes, eine Idee ist, in deren vollständigem Besitz kein einzelner Mensch seyn kann: sie läßt sich also auch von sehr verschiedenen Seiten fassen, ohne daß ihr wahres Wesen darum verfehlt werden müßte. Und diejenige Ansicht von ihr, welche jeder Künstler nach seiner Eigentümlichkeit von ihr haben kann, gleichsam die Grundanschauung seiner Kunstwelt, ist das Prinzip, welches sich mit Freyheit und Bewußtseyn entwickelt, zum praktischen Systeme, zum Style bildet. Ferner: die Kunst geht wie die Natur, vermöge ihres innern Organismus in streng gesonderte und entgegen gesetzte Sphären aus einander, mit andern Worten, es gibt verschiedene Künste, deren jede ein anderes Prinzip der Darstellung, folglich auch schon für sich, ohne Rücksicht auf die Ausübenden, einen eignen Styl hat, es gibt einen plastischen und einen pittoresken, einen musikalischen und einen poetischen Styl. Sind in einer dieser Künste durch ihr Wesen verschiedene Sphären nothwendig voraus bestimmt, d.h. giebt es darin Gattungen, so haben auch diese ihre eignen Style, wie es z.B. in der Poesie einen epischen, lyri schen und dramatischen Styl giebt, die einander entgegengesetzt sind, und doch alle aus dem Wesen der Poesie abgeleitet werden können. Endlich entwickelt sich die Kunst als etwas von Menschen zu Verwirklichendes nur allmählig in der Zeit: dieses geschieht unstreitig nach gewissen Gesetzen, wenn wir sie schon nicht immer in einem beschränkten Zeiträume nachweisen können. Wo wir aber eine Kunstmasse als geschlossenes Ganzes übersehen; und die Gesetzmäßigkeit in ihrem Fortgange wahrnehmen, da sind wir berechtigt, sie auch durch Bezeichnung der verschiedenen Epochen mit der Benennung Styl anzudeuten. Styl heißt alsdann eine nothwendige Stufe in der Entwickelung der Kunst. Daher kann es so genommen auch unvollkommne Style geben: sie sind es nur abgesondert angesehen, historisch betrachtet sehen wir in ihnen die folgende oder die vorhergehende Stufe zugleich mit; sie können somit nicht für blose Manieren, das hieße für zufällige Episoden in der Geschichte ausgegeben werden.

Auch in der Gesetzmäßigkeit der Kunstbildung geht die Natur in große Gegensätze aus einander, wie wir es an der Geschichte der antiken Kunst und der modernen sehen, die aber freylich erst angefangen, und in der wir mitbegriffen sind, so daß wir nur eine sehr unvollkommene Einsicht und Übersicht davon haben, und sie mehr errathen müssen, als wissen können. Das Verworrene und Chaotische des ersten Anblicks könnte jemanden, dessen Geist mit den einfachen großen Mustern des klassischen Alterthums angefüllt, und an ihre Vergleichung gewöhnt wäre, leicht zu der Behauptung verleiten, es gebe in der neuern Kunst keine bestimmten Bildungsstufen oder Style; so wie der ganz entgegengesetzte Charakter derselben, die nach den Grundsätzen der alten Kunst irrationalen Gattungen u.s.w., die modernen Dichter und Künstler hätten eigentlich keinen Styl, sondern blos Manieren. Diese wirklich aufgestellte Behauptung muß aber bey näherer Prüfung durchaus zurückgenommen werden, und es wird unser Augenmerk seyn, sowohl der modernen als antiken Kunst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. – Wer kann z.B. läugnen, daß Shakespeare einen Styl hat, ein System seines Kunstfachs, und zwar ein erstaunenswürdig gründliches und tiefgedachtes, das in der Anwendung nach Maaßgabe der verschiedenen Gegenstände seiner Dramen sich auf das mannigfaltigste abändert? Ja man kann auch das Gesetzmäßige in dem Gange seines Künstlerlebens, seine verschiedenen Epochen oder Style sehr gut angeben. Calderon [sic] kann uns als Beyspiel eines von dem Shakespearschen ganz verschiednen, jedoch eben so vollendeten Styles im romantischen Drama dienen.

Das Urtheil über Styl und Manier, besonders über den Punkt, wo jener in dieses, das Allgemeine in Besondres übergeht, gehört zu den schwierigsten Punkten der Kennerschaft, und eben um sich diese anzumaßen, werden diese Worte so häufig gebraucht und nicht selten verkehrt angebracht. Ich will noch auf die besondre Schicklichkeit des beyden zum Grunde liegenden Bildes aufmerksam machen. Maniera kommt offenbar von Manus her, und bedeutet ursprünglich die Führung der Hände. Diese gehören mit zu unsrer Person, und es können sich also dabey leicht körperliche Gewöhnungen einschleichen. Stylus hingegen ist der Griffel, womit die Alten in Wachstafeln schrieben: dieser gehört nicht mit zu uns, sondern er ist das Werkzeug unsrer freyen Thätigkeit. Die Beschaffenheit des Griffels bestimmt freylich die unsrer Züge, aber wir haben ihn selbst gewählt, und könnten ihn mit einem andern vertauschen.

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Wenn man die schaffende Natur als die große Weltkünstlerin, besonders in Hervorbringung der organischen Naturen, betrachtet, so kann man ihr auch einen Styl und Manieren zuschreiben, und vielleicht ließe sich von diesem Standpunkte aus die häufig aufgeworfne Streitfrage entscheiden, ob es von der menschlichen Schönheit bloß nazionale Urbilder gebe, oder ob etwas darin allgemein gültig sey? Die Bilder eines Mahlers, in welchen beständig dieselben Köpfe, Verhältnisse der Glieder, Hände und Füße u.s.w. wiederkommen, erkennen wir sogleich ohne Bedenken für manierirt, weil wir sehen, daß er aus persönlicher Dürftigkeit den Reichthum und die Mannigfaltigkeit der Natur ungebührlich geschmälert hat. Diese offenbaret in der Gesammtheit ihrer Hervorbringungen unendliche Fülle und Abwechselung, theilweise betrachtet aber beschränkt sie sich oft bis zu einer auffallenden Einförmigkeit, sowohl in dem Charakter der verschiednen Organisationen, als besonders innerhalb der menschlichen Gattung: sie bildet nicht nur sehr einseitige Nazional-Physiognomien, sondern sogar Mißgestalten, wie Kröpfe u. dergl., werden in manchen Gegenden allgemein. In solchen engeren Kreisen können wir allerdings die Natur manierirt schelten; denn so nennen wir es, wenn ein fremdartiger störender Zusatz in das Kunstprodukt mit aufgenommen ist, welches rein seyn sollte. Der Charakter organischer Naturen ist es, Ursache und Wirkung von sich selbst zu seyn: ein scharfsinniger Physiker hat sie mit Wirbeln oder Strudeln in dem allgemeinen Strome von Ursachen und Wirkungen verglichen. Sie können jedoch nicht ohne eine umgebende unorganische Welt bestehen, und sind genöthigt, beständig fremde Einflüsse in sich aufzunehmen. Soll nun die Freyheit der Selbstbestimmung, die an Menschen, als der vollkommensten Organisation, die wir kennen, im höchsten Grade erscheint, nicht gestört werden, sondern den weitesten Spielraum behalten, so müssen sich die auf ihn einwirkenden Kräfte ins Gleichgewicht setzen, und da die beyden Hauptfaktoren des organischen Lebens Sonne und Erde sind, so wird dieß in den gemäßigten Himmelsstrichen seyn, wo sich anerkannter Maßen die schönsten Menschenbildungen finden. Winkelmann hat diese Schlußfolge eingesehen, aber sie verworren ausgedrückt. – Die Gesetze, nach welchen sich die menschliche Bildung klimatisch bestimmt, sind hiemit freylich noch nicht erschöpft. Die Beschaffenheit des Erdkörpers polarisirt sich nicht blos nördlich und südlich, sondern auch östlich und westlich, und auch in dieser Rücksicht scheinen die schönsten Bildungen innerhalb einer gewissen Breite gefunden zu werden. So möchten auch in der südlichen Halbkugel, die vermöge der Polarität weit mehr Wasser als Land enhält [sic], wo dieß Statt findet, z.B. auf den Südseeinseln, die schönsten Bildungen sich weit näher am Äquator finden, als in der nördlichen Halbkugel, u.s.w.

Genug, wo die Natur die menschliche Gestalt schön bildet, hat sie in derselben einen Styl, d.h. die Beschränkung der möglichen Mannigfaltigkeit beruht auf einem der menschlichen Organisation inwohnenden, nicht ihr fremden Prinzip, der Charakter der Menschheit spricht sich da am reinsten aus. Es giebt also auch in der menschlichen Schönheit etwas allgemein Geltendes, wenn es schon von jenen manierirt gebildeten Nazionen nicht anerkannt wird; das darf uns nicht irren, machen es doch die Manieristen in der Kunst mit dem einfachen Style der großen Meistereben so. Es begreift sich, daß Nazionen, die aus einer solchen einseitigen, ihnen von der Natur aufgezwungenen Nazional-Physiognomie nicht heraus können, in der bildenden Kunst, deren höchster Gegenstand die menschliche Gestalt ist, keine sonderlichen Fortschritte machen mögen, auch gar keine Anmuthung dazu haben; wie hingegen dieselbe, unter einer von dieser Seite so begünstigten Nazion, wie die Griechen waren, ganz vorzugsweise gedeihen mußte. Man hat gewöhnlich die Gymnastik als eine Hauptursache von dem Flor der bildenden Künste bey den Griechen angesehen; mir scheinen vielmehr beyde aus derselben Quelle hergeflossene Wirkungen zu seyn. Aus eben dem Grunde, warum die Griechen die Vollkommenheit der Plastik erfanden, mußten sie auch die Gymnastik erfinden, welche allen ihren Bewegungen die höchste Freyheit und Harmonie gab; sie halfen dadurch den stark angedeuteten Absichten der Natur nur nach.

A.W. Schlegel.