<quote>Die Welt durch die Kamera gesehen</quote> <date>1971</date> Cavell, Stanley o:reko.cave.1971 Stanley Cavell: "Die Welt durch die Kamera gesehen", in: Nach der Philosophie. Essays von Stanley Cavell. Mit einem Interview des Autors und einem Rezensionsanhang, hrsg. von Kurt R. Fischer und Ludwig Nagl. Wien: Verlag des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1987, S. 95-136. ISBN: 3-85369-692-9. The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. New York: Viking Press 1971. ISBN 0-670-79002-8. Genre Buchkapitel Media Film

Wie immer man das Wesen eines künstlichen Mediums zu fassen versucht – seine eigentliche Bedeutung offenbart sich erst durch das von der jeweiligen Kunst Geleistete. Oft ist zu hören, das Wesen des Films bestehe ganz einfach aus ‚Licht und Bewegung‘; damit scheint die immer wieder hartnäckig auftauchende Frage nach dem ‚Wesen des Mediums Film‘ eine Antwort gefunden zu haben, die allerdings so wenig besagt, daß man wohl anders fragen muß. So weiß ich beispielsweise von keinen Objekten, die im wesentlichen aus Licht und Bewegung (und d.h. aus nichts anderem) bestünden und mich zugleich als Kunst überzeugt hätten, während andererseits bestimmte Filme, deren Gegenständen ich Kunstcharakter zusprechen würde, zweifelsohne mit einer Bilderfolge lebender Personen und realer Dinge in wirklichen Räumen arbeiten. Ich begann also meine Untersuchung über den Film mit der Frage nach der ‚Rolle‘ der Realität in dieser Kunstform.

Es gibt zumindest zwei Gründe dafür, sich heutzutage dem Einfluß der Realität auf die Kunst einfach zu verschließen: zunächst die vage und weitverbreitete intellektuelle Mode, die sich auf die Entwicklung der Erkenntnistheorie und die Herausbildung der modernen Wissenschaften beruft und derzufolge wir Realität als solche niemals wirklich sehen bzw. sehen können; sodann eine bestimmte Interpretation der Geschichte der darstellenden Künste – vor allem der Malerei und des Romans in zeitlicher Parallele zur Erfindung der Photographie und der Entstehung des Films –, derzufolge die Kunst sich aus der Darstellung von Realität als aus einer hoffnungslosen, wenngleich schon immer als unnötig erachteten Aufgabe zurückgezogen hat.

Ich wagte zu hoffen, daß man meine Einwendungen gegen diesen Begründungszusammenhang ebenfalls ohne weiteres hinnehmen würde. Schließlich beruht ja jeder Zweifel an der Realität auf bestimmten Theorien (des Wissens, der Wissenschaft, der Kunst, der Realität, des Realismus), denenwohl kaum eine größere Überzeugungskraft eignet als der Realität selbst. Es war mir zudem klar, daß meine Überlegungen Spuren meiner Beschäftigung mit Wittgenstein und Heidegger zeigten, deren Schriften m. E. aus einer Bedrohung durch Skepsis und damit aus einer philosophischen Notwendigkeit heraus entstanden waren, die weniger den damit verbundenen Folgerungen (was modern sein mag oder auch nicht) als vielmehr dem Ursprung dieser Skepsis galt, gleichsam als ob die Bedrohung durch sie die Natur menschlichen Denkens ebenso offenbar mache, wie dies sonst nur die Wissenschaft zu tun pflegt. Ich hoffte trotz allem, daß meine Interpretation der beiden Philosophen nicht allzu abwegig sein und meine Untersuchung über den Film nicht beeinträchtigen würde.

Das Problem der Realität im Film drängte sich mir durch die von Panofsky und André Bazin bezogenen Positionen auf. Denn bei allem Vorbehalt gegen ihre unentwegten Appelle an Natur und Realität sind m. E. ihre treffenden Bemerkungen zu einzelnen Filmen, zu Filmgattungen und Filmgestalten sowie zur spezifischen Bedeutung des Films als solchen unlösbar verbunden mit ihrer Überzeugung, daß der Film eine in den anderen Künsten niemals dagewesene Beziehung zur Realität besitzt. Deshalb war es für mich auch höchst aufschlußreich, daß beide bezeichnenderweise ohne Not und Grund vom Film als „einer Dramaturgie der Natur sprechen und im „Medium der Filme Realität als solche“ zu erkennen glaubten. Damit betonen sie zu Recht, daß Realität im Film nicht einfach beschrieben oder dargestellt wird. Realität ist für uns aber auch nicht wirklich gegenwärtig (jedenfalls ist ihre Gegenwart nicht offensichtlich), wenn sie auf der Leinwand erscheint. Daraus ergibt sich für mich folgende Überlegung: Was die Materialität des Films von jeder anderen unterscheidet, liegt in der Abwesenheit dessen begründet, was die Bedingung seines Erscheinens vor uns ist; d.h.: in der Modalität unserer Abwesenheit von ihm, in seiner Bestimmung, Realität und Phantasie (nicht durch Realität als solche, sondern) durch Projektionen von Realität zu offenbaren – durch Projektionen, in denen nach meiner Formulierung Realität davon befreit ist, sich selbst darzustellen. Trotzdem hat es mich nicht eigentlich überrascht, daß manche Leser meines Buches mit dieser Auffassung von Realität nicht ganz glücklich waren.

In der Mitte des Buches (p. 72) findet sich eine vorläufige Zusammenfassung dessen, was ich unter „der stofflichen Basis von Filmmedien“ verstehe; diese Basis ist „eine Abfolge automatischer Welt-Projektionen“; die aus den einzelnen Begriffen ableitbaren Folgerungen werden dann im zweiten Teil des Buches ausführlich abgehandelt, scheinen aber von allem Anfang an einem Mißverständnis zu unterliegen. Denn es gibt in der Tat einen ganzen Filmbereich, auf den meine Auffassung von den spezifischen Möglichkeiten des Films zwar zutrifft, der aber offensichtlich mit Projektionen der realen Welt absolut nichts zu tun hat. Gemeint ist der Bereich der Zeichentrickfilme. Würde meine Behauptung, daß die Projektion von Realität für das Medium Film unabdingbar ist, für diesen Bereich nicht gelten, so wäre sie unhaltbar. Sesonske charakterisiert den Zeichentrickfilm wie folgt (er denkt dabei vor allem an Disney-Filme; denn wenn man einen Zeichentrickfilm überhaupt als Film verstehen und darin sogar Filmstars entdecken will, so gibt es keine bessere Testmöglichkeit):

„...Vor ihrer Projektion auf die Leinwand gab es weder diese quirligen Geschöpfe noch ihre Abenteuer. Die von ihnen projizierte Welt gibt es erst ‚jetzt‘, im Augenblick der Projektion; und auf die Frage, worin diese sich von der Realität unterscheidet, kann man nur antworten: „In jeder Hinsicht“. Denn weder Raum noch Zeit, noch die Naturgesetze sind dieselben. Es handelt sich um ‚eine‘ Welt, die wir hier erleben, aber nicht um ‚die‘ Welt – um eine Welt also, die ich zwar kenne und sehe, in deren Gegenwart ich aber trotzdem nicht bin, ohne daß sie damit der Vergangenheit angehörte. Denn es gibt keine Vergangenheit, in der diese Ereignisse geschahen bzw. geschehen sein könnten, noch kann man auf den Zeitraum verweisen, in dem die Zeichnungen gemacht bzw. die Einstellungen photographiert wurden; denn die Welt, die ich kenne und sehe, war damals noch gar nicht vorhanden. Sie ist erst jetzt da, wenn ich sie sehe, und doch kann ich nicht dahin gehen, wo ihre Geschöpfe sind, denn von unserem zu ihrem Raum gibt es keinen anderen Zugang als den visuellen.“

Jede einzelne der zitierten Bemerkungen kommt einer Negation bzw. Parodie der von mir beschriebenen Filmerfahrung gleich. Das ist natürlich noch kein Beweis dafür, daß meine Einsichten falsch sind – es sei denn, man geht von der Annahme aus, daß es sich bei Zeichentrickfilmen in der Tat um Filme handelt und daß demzufolge alle meine Ausführungen über den Film – sofern sie richtig sind – für Zeichentrickfilme genauso gelten müßten wie für Filme. Geht man indes von meiner Annahme aus (die ich zweifelsohne deutlicher hätte zum Ausdruck bringen sollen), daß Zeichentrickfilmeeben keine Filme sind, so enthalten Sesonskes Bemerkungen über ihre Strukturmerkmale doch eine Erklärung dafür, ‚weshalb‘ sie dies nicht sind.

Die Logik meiner Argumentation läßt die Frage offen, welche Konsequenz sich daraus für ihre praktische Verwertbarkeit ergibt. M. E. die folgende: Man kann offenbar mit denselben Begriffen, die ich in ‚The World Viewed‘ verwendet habe (bezüglich einer mir gegenwärtigen Welt, von der ich abwesend bin; bezüglich verschiedener Arten der Bewegungsabläufe; bezüglich Glaubwürdigkeit und Gedächtnis etc.) zu behaupten versuchen, daß es sich bei Zeichentrickfilmen tatsächlich um Filme handelt. Daher sollte es mich nicht eigentlich überraschen, wenn jemand wie Sesonske sie dafür hält. Hinzu kommt die Verschiedenheit unserer Positionen: Er braucht Zeichentrickfilme nicht als Filme auszuweisen, weil seinem Geschmacksurteil keine Theorie im Wege steht. Er kann einfach sagen, „die beiden sind nicht allzusehr verschieden“, während ich offenbar zeigen muß, daß Zeichentrickfilme ‚keine‘ Filme bzw. daß die Unterschiede zwischen den beiden so gravierend sind, wie dies mein Realitätsverständnis andeutet.

Natürlich ist dies genausowenig zu beweisen wie die Behauptung, daß ein Roboter kein Geschöpf bzw. daß ein Mensch keine Maus oder kein Hund oder keine Ente ist. Denn wenn jemand davon überzeugt ist, daß Menschen sich von Mäusen, Hunden oder Enten nicht allzusehr unterscheiden, so kann er dafür sehr viel Beweismaterial beibringen. Wahrscheinlich gibt es sogar mehr aufweisbare Ähnlichkeiten als Unterschiede. Um jemanden in seiner Überzeugung zu erschüttern, daß es sich bei Zeichentrickfilmen um Filme handelt, könnte ich höchstens Überlegungen wie die folgenden anstellen:

Die Hauptbewohner der Welt der Zeichentrickfilme (wie ich sie mir vorstelle, und wie sie sich auch aus Sesonskes Bemerkungen deduzieren ließen) sind sprechende Tiere – man könnte sie unter Ausklammerung ihrer Erscheinung als anthropomorph bezeichnen. Im Vergleich zu diesen Tiergestalten erweisen sich die menschlichen Gestalten in Zeichentrickfilmen als unpassend oder störend. Den Grund dafür sehe ich darin, daß sie uns sozusagen weniger Möglichkeiten bieten, ihre Beseeltheit, d.h. ihre Anthropomorphisierung, nachzuvollziehen. Sollten sie sich demzufolge generell als proble matisch erweisen, dann dürfte es aufschlußreich sein zu erfahren, wie die in Zeichentrickfilmen vorkommenden menschlichen Gestalten angelegt, d.h., wie sie beschaffen sein müßten, um nach den Gesetzen der ‚Animation‘ zu leben.

Die von beseelten Geschöpfen bewohnte Welt ist charakteristischerweise ebenfalls beseelt; sie muß keinen festen Handlungshintergrund für die belebten Gestalten abgeben, sondern kann auch selbst Handlungsträger werden. Sie ist animistisch. Eine solche Welt bedarf natürlich keiner besonderen Überzeugungskraft; in bezug auf unsere Welt rührt sie vielleicht an unsere primitivsten Glaubensformen. Wenn ich sage, daß es sich dabei im wesentlichen um eine Kinderwelt handelt, so wird man mir hoffentlich nicht unterstellen, ich würde sie herabsetzen oder gar bestreiten, daß sie ein unerläßliches Substrat unserer eigentlichen Welt bleibt und daß sie – gewollt oder ungewollt – jederzeit reaktiviert werden kann. Der Unterschied zwischen dieser und der von uns bewohnten Welt liegt nicht darin, daß die Welt der beseelten Geschöpfe von physikalischen Gesetzen bestimmt wird oder metaphysischen Begrenzungen unterliegt, die einfach anders sind als jene, von denen sie abhängen; ihre Gesetze sind vielmehr den unseren oft ganz ähnlich. Der Unterschied liegt darin, daß wir nicht wissen, wann oder bis zu welchem Grade unsere Gesetze und Begrenzungen gelten bzw. nicht gelten (was vermuten läßt, daß es überhaupt keine wirklichen ‚Gesetze‘ gibt).

Die Aufhebung unserer Begrenzungen und Gesetze ist dort am augenscheinlichsten, wo es um die körperliche Unversehrtheit oder Zerstörung geht. Die Möglichkeit der unausgesetzten Verwandlung – vielleicht auch nur einer Tendenz dazu – ist zur Genüge bekannt. Die Aufhebung der Schwerkraft manifestiert sich überall: von den eindrucksvollen Bewegungen der Geschöpfe, wenn sie ihre Arabesken in die Luft zeichnen oder ein freundliches Blütenblatt erklettern, bis zum kurzen Zögern vor einem tiefen Fall und dem Knall beim Aufprallen, der die Erde erschüttert, ohne tödliche Folgen zu haben. (Der Topos des Zögerns deutet darauf hin, daß die Wirkung der Schwerkraft im Bewußtsein von ihr besteht.) Mit anderen Worten: Was aufgehoben wird, ist nicht die Schwerkraft (Dinge und Geschöpfe fallen ja ‚in der Tat‘, und Blütenblätter erweisen sich manchmal als rührend schwierigfür einen Kletterversuch), sondern die Körperlichkeit. Diesen Geschöpfen steht ihr Körper niemals im Wege. Er ist unzerstörbar, ja, man könnte fast sagen, unsterblich; er ist gänzlich vom Willen abhängig, und seine Ausdrucksfähigkeit ist vollkommen. (In Umkehrung der Ökonomie menschlicher Ausdrucksfähigkeit hat ihr Körper allein die Last der Bedeutungshaftigkeit zu tragen. Ihre Gesichter sind mehr oder weniger unveränderlich und auf zwei oder drei Haltungen beschränkt, in denen all das eingefangen wird, was wirkliche Tiere bedingt und auszeichnet. Sie sind Beseeltheit, Körperlosigkeit, reiner Geist.)

Offenbar bieten sich ‚kleinere‘ Tiere für die ‚Animation‘ ganz natürlich an – wahrscheinlich, weil sie Beseelung und Schnelligkeit am direktesten vermitteln oder weil man ihnen eine aufrechte Haltung geben kann, ohne sie als grotesk bzw. als eine Parodie des Menschen erscheinen zu lassen (wie beispielsweise niedlich gekleidete Schimpansen). Pferde und große Hunde (die üblichen Hauptdarsteller in Tierfilmen) hingegen müssen ernstgenommen werden, wenn sie nicht bloß komisch wirken sollen. (Augenscheinliche Ausnahmen davon sind Bambi – den ich mir nicht angesehen habe – und Dumbo. Doch beide sind Kinder; Bambi ist ein Tier, das sich durch seine ausdrucksvollen Augen und die unerklärliche Schönheit seiner Bewegung auszeichnet; Dumbo hingegen verdankt seine Wirkung der für ihn selbst beinahe unfaßbaren Entdeckung, daß er ‚fliegen‘ kann.) Wenn Tiere ausschließlich Geist sind, entgehen bzw. widersprechen sie dem für alle Menschen geltenden metaphysischen Faktum, zu Körper ‚und‘ Seele verdammt zu sein. Eine Welt, deren Geschöpfe körperlos sind, ist eine Welt ohne Sex und Tod – eine Welt, die deshalb entweder sehr traurig oder sehr glücklich ist. In beiden Fällen erwecken ihre Geschöpfe in uns schmerzliche Zärtlichkeit.

Gedanken dieser Art weiter zu verfolgen, könnte zu Spekulationen verleiten. Mir jedenfalls geht es um spezifische Stimmungen, Gefühle und Gegenstände, die der (narrativen) ‚Animation‘ angemessen sind. Diese Angemessenheit kann sich mit dem wechselnden historischen und kulturellen Kontext ändern. Das bedeutet aber nicht, daß eine andere Kunstgattung die Stimmungen und Gefühle von Zeichentrickfilmen nicht vermitteln bzw. ihreGegenstände nicht verwenden ‚könnte‘; es bedeutet auch nicht, daß Zeichentrickfilme in Konkurrenz zu Filmen sich nicht ändern können. Es bedeutet vielmehr, daß jede Kunstgattung und jede Änderung eben diese Gefühle und Gegenstände auf ihre jeweils eigene Weise vermittelt und verwendet. So kann Gewalt im Zeichentrickfilm komisch wirken, weil sie selbst in ihrer brutalsten Form niemals Blut fordert. (Das ist übrigens auch im Stummfilm-Slapstick möglich; aber dort wird die Gewalt oft unterlaufen, so daß der Eindruck von Halbherzigkeit entsteht; sie wird zudem häufiger angedroht als ausgeführt, und wenn sie zum Ausbruch kommt, so eher zwischen Menschen und Gegenständen als zwischen Menschen selbst; sind aber Menschen davon betroffen, dann meist versehentlich und unvermittelt.) Zärtlichkeit und Verlust im Zeichentrickfilm heißt Zärtlichkeit und Verlust in maximierter oder geläuterter Form. Terror im Zeichentrickfilm heißt absoluter Terror, denn da der Körper nicht zerstörbar ist, gilt die Bedrohung der Seele selbst. (Im Horrorfilm ist dies anders. Dort erwächst die Isolierung nicht aus dem drohenden Ausgestoßen- oder Ausgelöschtwerden, sondern aus einer unannehmbaren Entstellung. Dort spielt man die Gefahr aus, die im Zeichentrickfilm lächerlich erscheint: die Gefahr einer irreversiblen unausgesetzten Verwandlung.) – Hat Popeye eine Seele? Hat er überhaupt einen menschlichen Körper? Ein Matrose eignet sich gut für übertrieben große Unterarme, und im übrigen übersteht bzw. mißachtet Popeye alle nur menschenmöglichen brutalen Anschläge auf seinen Körper – doch nur, wenn er zu einer bestimmten Zeit seine magische Infusion aus einem Nährstoffkanister erhält. Sein Körper wird eher aufgeheizt als ernährt, und zwar mit einer Substanz für Pflanzenfresser, d.h. für gewaltlose Geschöpfe, für mythische Kinder – von gehacktem Fleisch –, von dem er kaum etwas braucht. Welche anderen menschlichen Geschöpfe ließen sich mit weniger Aufwand beim Essen zeigen?) [sic] Sobald Popeyes Körper aufgeheizt ist, tritt er ganz von selbst in Aktion, ohne andere Ausdrucksmöglichkeiten auch nur vorzutäuschen: selbst unter Gewalteinwirkung bleibt sein Gesicht übernatürlich starr; seine Stimme hört nicht auf, in endloser Monotonie unverständliche Kommentare zu liefern; und schließlich signalisiert seine Pfeife mit einem oder zwei schrillen Tönen, daß er zufrieden ist.

Der Zeichentrickfilm neigt dazu, Sexualität in geschlechtsneutraler oder karikierter Form darzustellen. Das liegt wahrscheinlich darin begründet, daß Zeichentrickfilme wegen ihrer Substanzlosigkeit nicht ins Pornographische umschlagen, obwohl sie – je nach Bedarf – selbstverständlich ins Obszöne abschweifen können. Natürlich bleibt eine gewisse Überschneidung und Affinität zwischen den verschiedenen Medien nicht aus. So wird ein Zeichentrickfilm über die Garbo, die Dietrich oder über Marilyn Monroe gerade das nicht einfangen [sic], was deren Anziehungskraft ausmacht: gemeint ist nicht einfach ihre spezifische körperliche Präsenz, sondern eine Beseelung dieser Präsenz durch die paradigmatische Darstellung weiblicher Unabhängigkeit, Tiefgründigkeit und Intelligenz. Ein Zeichentrickfilm über Mae West jedoch kann in der Tat deren natürliche Begabung einfangen, weil sie bereits eine Karikatur der Sexualität ist; sie ist Karikatur von Sexualität schlechthin. Ihre unerschütterliche Selbstsicherheit und Gutmütigkeit verspottet nicht nur unsere zwanghafte Beschäftigung mit dem Thema der Sexualität, sondern auch unsere sexuellen Begierden und Verdrängungen.

Sollte ich Sesonskes Auslassungen zum Zeichentrickfilm mißverstanden haben? Ging es ihm um den Nachweis, daß meine Charakterisierung des Films als Abfolge automatischer Welt-Projektionen es unmöglich macht, den Zeichentrickfilm überhaupt als eine Filmgattung zu betrachten – mit anderen Worten: daß aus meiner Sicht Zeichentrickfilme nicht existieren dürften bzw. überhaupt nicht existieren könnten? Das wäre schlimm. Ich könnte ja auch sagen, Zeichentrickfilme seien eine Abfolge beseelter Welt-Projektionen; doch das bringt uns nicht weiter, selbst wenn es sich am Ende vielleicht sogar als richtig erweisen sollte.

Es kennzeichnet mein Verfahren in ‚The World Viewed‘, Begriffe oder Vorstellungen heranzuziehen, die in der Filmdiskussion ihrer Gängigkeit wegen fast unvermeidbar sind, um sie sodann auf meine eigenen Erfahrungen hin zu überprüfen. Demzufolge muß ich oft mehr oder minder vertraute Dinge erwähnen und laufe zudem Gefahr, nichts Neues zu sagen bzw. sagen zu können. Beides finde ich nicht unerträglich.

Daß der Typus-Gedanke richtig sein könnte und daß der Film einen neuen Zugang zum alten Problem von Drama und Typus zu eröffnen schien, ließ sich durch die Tatsache erhärten, daß auf der Leinwand der Typus nicht primär im Charakter, sondern im Schauspieler selbst zu suchen ist. Die Gruppierung „bestimmter Haltungen und Attribute“, durch die der im Film beobachtbare Typus sich jeweils definiert, beruht auf der individuellen Gesamtphysiognomie (Gesicht, Figur, Gang, Temperament) der am dramatischen Geschehen beteiligten Menschen. Aus diesem Grunde muß ein Leinwand-Typus nicht notwendigerweise der Theatertradition verpflichtet sein, wo in einem Corpus von Stücken dieselbe Rolle wiederkehrt; er kann sehr wohl auf der Wiederkehr eines Schauspielers in einem Corpus von Filmen beruhen. (Deshalb habe ich auch in meiner Liste von Hollywood-Typen (p. 36) die Namen von Charakteren und Filmstars vermischt.) Damit wird erklärbar, weshalb m. E. auf der Leinwand die Unterscheidung zwischen Schauspieler und Charakter in sich zusammenfällt; aus diesem Grunde konnte ich auch von den auf der Leinwand projizierten Individuen als Individualitäten sprechen und in unserer Erfahrung von ihnen einen Unterschied zwischen Typen und ausgerundeten Charakteren bestreiten. Die Feststellung, daß europäische Filmregisseure (Sesonske erwähnt Renoir, Vigo und Pagnol) im Gegensatz zu Hollywood-Regisseuren an Charakteren und ‚nicht‘ an Typen interessiert sind, kann mich demzufolge kaum beeindrucken. Ich will weder abstreiten, daß die großen europäischen Regisseure andere Filme gemacht haben als ihre amerikanischen Kollegen, noch will ich leugnen, daß ihre Filme im ganzen besser sind als die amerikanischen. Indes: die Unterschiede werden nicht einmal berührt, geschweige denn verwischt, wenn man sagt, daß bei den Amerikanern im Gegensatz zu den Europäern das Interesse am Typus vorherrscht.

[...][…]Die Erwähnung von Renoir und Vigo ruft die Lebensnähe ihrer Darsteller – wie Michel Simon, Dita Parlo, Jean Gabin und Marcel Dalio – ins Gedächtnis zurück und lenkt den Blick erneut auf die filmische Schauspiel- und Aufführungspraxis. Ich bin mit Sesonske der Meinung, daß manche meiner Bemerkungen zu diesem Thema schwach begründet sind; er konnte mir sogar ein paar törichte Versehen nachweisen. So zitiert er mich wie folgt: „Von den Zuschauern im Theater läßt sich sagen, daß ihnen die Schauspieler zwar gegenwärtig, daß sie selber aber den Schauspielern nicht gegenwärtig sind.“ Hier fließen zwei Vorstellungen ineinander. Die erste greift auf ein Thema aus früheren Aufsätzen von mir zurück, wo ich das Theaterpublikum als Zuschauer charakterisiere, denen die ‚Charaktere‘ gegenwärtig, die jedoch selbst den Charakteren nicht gegenwärtig sind; die zweite definiert im Gegensatz dazu das Filmpublikum als Zuschauer, die weder den Charakteren noch den Schauspielern gegenwärtig sind. In meinen Ausführungen über die unterschiedlichen Auffassungsmöglichkeiten der Rolle eines Schauspielers auf Leinwand und Bühne habe ich zudem fälschlicherweise den Eindruck geweckt, als ob stets der Schauspieler und nicht der Regisseur dafür verantwortlich sei. Doch was ich eigentlich sagen sollte, hat mit einer solchen Aufteilung des Arbeitsbereichs nichts zu tun.

Bei Sesonske heißt es: „De Sica und Bresson zeigen nicht, daß der Film keine Schauspieler erfordert, sondern daß wir alle etwas von einem Schauspieler in uns haben ...“ Bei mir heißt es, daß bestimmte Menschen, die sich als erfolgreiche Leinwanddarsteller erweisen, auch talentierte Schauspieler sein können. Diese Feststellung impliziert, daß es vom Film abhängt, ob ihre Leistungen als Schauspieler dafür relevant sind; aber das läßt sich nicht ‚a priori‘ bestimmen; mit anderen Worten: man muß sie auf der Leinwanderlebt haben. Dasselbe gilt auch für die angeborene Schauspielbegabung eines Laien. Gegen Ende meines Buches, wo ich erneut auf meine anfängliche Abneigung gegen die Vorstellung von Film-Darstellern als Schauspieler zu sprechen komme, heißt es: „Doch offensichtlich sind sie Schauspieler in dem Sinne, in dem dies jedermann ist.“ (p. 153)

Heißt das in der Tat weniger, als daß „wir alle etwas von einem Schauspieler in uns haben?“ Es besagt, daß wir alle unausweichlich Schauspieler sind, doch es läßt offen – ebenso wie der Begriff und unser jeweiliger Lebensverlauf es offen läßt – ob wir uns in unserem schicksalsbestimmten Bewegungs- und Handlungsimpuls rollenhaft oder natürlich geben; und es deutet darauf hin, daß das Schauspielerische in uns keineswegs von de Sica und Bresson, sondern vom Film selbst demonstriert wird. De Sica und Bresson (und andere) haben nur gezeigt, daß uns allen etwas Typisches, Singuläres und Mythisches eignet. Nicht nur, daß wir in der Gesellschaft bestimmte Funktionen ausüben, bestimmte Rollen spielen oder bestimmte Ämter haben; wir sind vielmehr – aus manchmal begreiflichen Gründen – für Belohnungen auserlesen oder zu Bestrafungen bestimmt, die in keinerlei Verhältnis stehen zu dem, was wir zu tun oder zu sein glauben, so als ob unser Leben die Aufführung einer Erzählung sei, deren Worte uns ständig entgehen. Im Theater gehörte das Mißverhältnis von Intention, und Konsequenz ganz selbstverständlich zum Bereich der Tragödie. Im Film gehört es ebenso selbstverständlich zum Bereich der Komödie bzw. zu etwas, das weder Tragödie noch Komödie ist, wie beispielsweise ‚Bicycle Thief, Nights of Cabiria‘ oder ‚The Diary of a Country Priest‘; hier erscheint dieses Mißverhältnis als Distanz zwischen der tiefen Innerlichkeit, der ein gewöhnliches menschliches Leben Ausdruck geben möchte, und der schalen Äußerlichkeit gewöhnlicher Mittel, durch welche dieses Leben sich – wenn überhaupt – Ausdruck verschaffen muß. Solche Formen könnte man als säkulare Mysterien bezeichnen.

Der Unterschied zwischen Bühnen- und Leinwand-Spiel ist ohne eine Bestimmung der Unterschiede zwischen Bühne und Leinwand, zwischen der Art und der Beteiligung ihres Publikums und der Rolle ihrer Regisseure nicht zu bestimmen; entscheidend jedoch scheint mir vor allem die Tatsache zu sein,die ich in meinem Buch zu diesem Problem an vorrangiger Stelle erwähne: daß bei der Bühnenaufführung die Schauspieler gegenwärtig, daß sie lebendig sind, bei der Filmaufführung hingegen nicht. Ist das bedeutsam oder trivial? Zunächst ist es obskur.

‚Was‘ ist der Filmschauspieler nicht, wenn er nicht lebendig ist? Ist er tot? Nicht notwendigerweise, aber ‚vielleicht‘. Vielleicht sitzt er auch neben mir, was er nicht könnte, wenn er auf der Bühne wäre (ich dagegen nicht). – Das scheint eine törichte Mystifikation zu sein. Natürlich ist nicht ‚er‘ auf der Leinwand. Nichts ist ‚auf‘ der Leinwand, höchstens der Wechsel von Licht und Schatten. Die ‚Aufführung‘ ist es, die lebt. – Wovon läßt sie sich abheben? Seit der Verwendung von Tonübertragungen und Videoaufzeichnungen gibt es eine Differenzierung zwischen ‚direkten‘ und ‚aufgezeichneten‘ Aufführungen. Dieselbe Differenzierung müßte dann wohl auch möglich sein zwischen einer Darbietung auf der Bühne und einer solchen auf der Leinwand. Von hier aus könnte jemand fragen: Wovon ist der Film dann eine Aufzeichnung? Die Antwort hieße wahrscheinlich: Von nichts. Daraus wiederum ließe sich wohl folgern, daß das Realitätsproblem gelöst sei, daß Filme ‚etwas aus sich heraus‘ sind; das einzige, wovon sie Aufzeichnungen sein ‚könnten‘ – wirkliches Geschehen, das sich so ereignete, wie es auf die Leinwand übertragen wird – hat einfach niemals ‚stattgefunden‘. Der Film ‚kann‘ zwar – wie in der Wochenschau – aufnahmetechnisch geschickt verwendet werden; beim Filmgeschehen jedoch handelt es sich um etwas, dem wir niemals gegenwärtig sein können bzw. gewesen sein konnten, außer im Film selbst. Demzufolge ist das Problem der Präsenz von Welt und Schauspieler, wie es von Panofsky und Bazin gestellt und von mir in modifizierter Form weitergedacht wurde, kein echtes Problem. Filme und ihre Darsteller sind, was sie sind. – Dieser letzten Behauptung kann ich schwerlich widersprechen. Doch was sind sie?

Zunächst sind Filme keine Aufzeichnungen. Es lohnt sich, die Gründe dafür anzugeben. Um etwas als Aufzeichnung (eines Musikstückes beispielsweise) zu bestimmen, bedarf es zweier Kriterien. 1. Es gibt ein originäres Ereignis als solches, das der Aufzeichnung zugrunde liegt und dem man sozusagen direkt gegenwärtig sein kann; gegenwärtig jedenfalls ohne Berücksichtigungder Aufzeichnung. 2. Es gibt im Prinzip keinen akustischen Unterschied zwischen dem originären Ereignis und der Aufzeichnung, wobei ‚im Prinzip‘ bedeutet, daß die entscheidende Qualität einer Aufzeichnung ihre Werktreue ist. Wenn nun jemand sagt, daß wir einem auf die Leinwand projizierten Ereignis – den Projektionsvorgang ausgenommen – nicht gegenwärtig gewesen sein konnten, so folgt daraus nichts hinsichtlich dessen, was ist, mit Ausnahme wiederum des Projektionsvorgangs. Vor allem folgt daraus nicht, daß die Realität bei der Entstehung dieser Projektion keine entscheidende Rolle gespielt hat. Es folgt nur, daß der Realität auf keinen Fall die Rolle zugefallen sein kann, aufgezeichnet zu werden. Die Realität ist nicht einmal ein Anwärter auf diese Rolle, denn die Projektionen, die wir auf der Leinwand sehen, lassen sich im Prinzip sowohl optisch als auch akustisch von dem Ereignis abheben, dessen Projektionen sie sind – wo anders wären die Unterschiede deutlicher? Die Feststellung, daß wir dem Ereignis – außer seiner Projektion – nicht gegenwärtig gewesen sein konnten, ist keine Antwort auf die Realitätsfrage; – ja, diese wird damit nicht einmal angeschnitten. (Manche mögen sagen, daß wir „nicht gegenwärtig gewesen sein konnten“, weil sie meinen, dieses Problem hätte nicht einmal angeschnitten werden ‚sollen‘; vielleicht aber wollen sie mir damit die Behauptung unterstellen, daß man in der Tat gegenwärtig gewesen sein ‚kann‘. Mit beiden Unterstellungen werden wir uns noch näher befassen müssen.)

Die Frage stellt sich also nun wie folgt: Wenn die Realität in der Tat für das Verständnis des Mediums Film eine entscheidende Rolle spielt, und wenn ihre Rolle nicht darin besteht, aufgezeichnet zu werden – was ‚ist‘ dann ihre Rolle? Mein Buch gibt auf diese Frage eine Reihe von Antworten. Ich sehe die Rolle der Realität darin, photographiert, projiziert, verfilmt, dargestellt und angeschaut zu werden. (Diese Antworten führen zu meinen Abweichungen von Panofskys und Bazins Akzentuierung der „Wirklichkeit selbst“. Die Bedeutung, die ich den Begriffen beimesse, läßt sich m. E. nur an meinem Buch als Ganzem abschätzen.)

Der Film stellt ein erkenntnistheoretisches Prinzip auf den Kopf: die Realität ist bekannt, bevor ihre Erscheinungsformen bekannt sind. Das erkenntnistheoretische Geheimnis besteht darin, ob und wie man die Exi stenz des einen aus der Kenntnis der anderen prognostizieren kann. Das photographische Geheimnis besteht darin, daß man sowohl die Erscheinungsform als auch die Realität kennen kann, daß aber dennoch die eine sich nicht aus der anderen prognostizieren läßt. Greifen wir nochmals auf das von mir erwähnte Projekt Edward Steichens zurück, der von derselben Tasse und Untertasse tausend Aufnahmen machte. Vermutlich unterscheidet sich jede einzelne Aufnahme von allen anderen, hat jede ihre eigene Physiognomie. Doch was immer Steichen auch versucht haben mag – ein Auswechseln der Linsen, eine Verwendung anderer Filme oder Filter, eine Veränderung der Beleuchtung, des Winkels, der Entfernung – es bleibt doch stets dieselbe Tasse und Untertasse. Darin liegt – wie in der Faszination von Gesichtern – die Faszination des photographischen Objekts begründet. Seinen Kunstcharakter verdankt es der Fähigkeit zu entdecken, wie eine bestimmte Wirkung erreicht und wie eine bestimmte Absicht verwirklicht werden kann.

Ich habe behauptet, daß die Kamera keine eigene Konzeption hat. Sie vermag aber trotzdem – anders als ein Aufnahmegerät – ein Eigenleben mit entsprechenden Variations- und Artikulationsmöglichkeiten zu führen. (Ein Kassettenrekorder kann auch ‚ein Eigenleben führen‘. Damit ist gemeint, daß er – abgesehen von bestimmten Manipulationen zur Verbesserung der Tonqualität – von sich aus nichts wiedergibt und auf nichts reagiert, was er zuvor nicht aufgenommen hat und daher zu reproduzieren vermag.) Diese Möglichkeiten hatte die Kamera schon immer; sie sind ihre Versuchungen, ohne ihre Sünden zu sein. Je nach Kameraführung erweisen sie sich entweder als ihre Torheit oder Großartigkeit. An diesem Punkt kommt auch die Sünde ins Spiel. (Eine Beschreibung dieser Situation findet sich bei Descartes. Gedankeninhalte mögen verzerrt sein, doch an sich sind sie nicht falsch. Ein Irrtum entsteht erst, wenn man auf ihrer Basis ein Urteil fällt.) Davon handeln besonders jene Abschnitte meines Buches, die ich mit „The Camera‘s Implication“ und „Assertions in Techniques“ überschrieben habe. Sie wollen, in meinen Worten, einer Möglichkeit des Films ‚Bedeutung verleihen‘.

Ich meine in der Tat, daß jede Schwenkung der Kamera, daß jeder Schnitt und jede Schnittfolge, jede Einstellung und jede Akzentuierung innerhalb einer Einstellung bedeutungsvoll oder bedeutungslos sein kann – daß es sichdabei um etwas handelt, das vom Film als Film und von dem spezifischen Kontext abhängt, innerhalb dessen die Schwenkung in einem bestimmten Film erfolgt. Diese Möglichkeiten des physikalischen Mediums Film möchte ich als seine Automatismen bezeichnen. Sie sind die Träger der Intentionen, die ein Film verfolgt – man könnte sie mit syntaktischen und lexikalischen Sprachelementen vergleichen. Doch anders als Redner können Filmemacher sozusagen nicht nur neue Sätze, sondern sogar neue Satzelemente konstruieren. Diese Intentionalität filmischer Automatismen diktiert die Perspektive, von der ein kritisches Filmverständnis ausgehen sollte und von der ich glaube, daß sie auf eine bestimmte Frage – die eigentliche Kernfrage – hin orientiert sein muß: ‚Warum ist dies so, wie es ist?‘

Diese Frage gilt für Kunstwerke ebenso wie für menschliches Handeln und gesellschaftliches Wirken. Nehmen wir einmal an, die Filmaufnahme eines Treppenhauses ließe sich exakt beschreiben. Eine solche Beschreibung kann sogar (über den Katalogisierungszweck hinaus) sinnvoll sein. Erscheint die Aufnahme als ‚perspektivisch‘, so ließe sich beispielsweise noch hinzufügen, sie komme dadurch zustande, daß sie vom Gesicht eines Darstellers aus erfolgt und auf dieses Gesicht zurückgeschnitten wird. Das mag sich wie eine syntaktische Beobachtung ausnehmen, so wie man vielleicht sagt, daß in der Regel im englischen Aussagesatz das Objekt eines Verbs auf das Verb folgt. Ihre Brauchbarkeit hängt davon ab, ob man noch weitere Beobachtungen gleicher Art aufweisen und diese dann in ein entsprechendes System einordnen kann. (Die Analogie zur Syntax ist höchst unbefriedigend. So besitzt der Begriff ‚Verb‘ gewisse systematische Implikationen, die der Begriff ‚untergeordnet‘ zwar auch hat, die aber Begriffen wie ‚wandernde Aufnahme‘, ‚mediale Aufnahme‘, ‚Perspektive‘ etc. nicht eignen.) Versucht man nun aber noch zu begründen, warum gerade ‚diese‘ Art einer perspektivischen Aufnahme verwendet wird, weshalb gerade ‚hier‘, wieso in bezug auf ‚diesen‘ Charakter und warum mit ‚dieser‘ inhaltlichen Füllung, dann zeigt man ein kritisches Verständnis für diesen Ausschnitt. Seine Brauchbarkeit wird sich daran erweisen, ob es der Absicht des Werks gerecht wird. Was aber soll es bedeuten, wenn man sagt, diese Aufnahme sei eine perspektivische Aufnahme, um dann auf die Relation eben dieser Aufnahme zum Film überhaupt nicht mehr einzugehen? Falls man damit keinenfalschen Eindruck korrigieren will, bleiben solche Worte besser ungesagt. Sie benennen höchstens etwas und sind – laut Wittgenstein – die Vorbereitung dafür, daß man fortfahren will, etwas zu sagen. Keine Erzähltechnik ist gebräuchlicher als die Technik des Schnitts von einer Person weg und wieder auf sie zu, während sie ein Zimmer betritt bzw. verläßt. In ‚Grand Illusion‘, einem Film, der vom Betreten und Verlassen von Zimmern, von den Beziehungen zwischen dem Innen und Außen eines Gebäudes, von der Unüberschreitbarkeit von Türschwellen und -rahmen besessen ist, wird diese so gebräuchliche Technik bis zu Beginn des letzten Aktes wirkungsvoll ausgespart. Dann erfolgt ein Schnitt von Gabin weg, während er – noch in der kalten und fremden Nacht – von uns abgewendet einen Eingang durchschreitet, auf Gabin zu, wie er durch diesen Eingang, uns zugewendet, eine hell erleuchtete Küche betritt. Die Unauffälligkeit dieser Geste spricht für sich; sie akzeptiert und bestätigt zugleich unser Verlangen nach Wärme und Nahrung.

Gute Regisseure verstehen es, allem, was sie tun, Sinn zu geben. Große Regisseure wollen noch mehr – ihr Sinnverständnis ist umfassender, subtiler, eindringlicher –, und so gelingt es ihnen, alles Sinnhafte in Handlung umzusetzen. Die Gesten schlechter Regisseure sind leer – sie reden sozusagen Unsinn. Das bedeutet implizit, daß ein Künstler für die Handlungen und Aussagen seines Werkes uneingeschränkt verantwortlich ist. Das Werk zeigt nicht nur die absolute Verantwortlichkeit des Menschen für die Ziele und Folgen seiner Handlungen, sondern es belohnt ihn auch gewissermaßen dafür. (Die Verdammung des Menschen zu dieser Selbstverantwortlichkeit ist die Folgeerscheinung, und nicht der eigentliche Sinn, der Erbsünde.) Meine Abneigung gegenüber der Vorstellung, daß Photographien und Gemälde Wirklichkeit niemals wirklich projizieren oder darstellen (während sie das ‚de facto‘ offensichtlich tun), ist Ausdruck meiner Empfindung, daß hier wie anderswo ein vorgetäuschter Skeptizismus zur Dementierung dieser menschlichen Verantwortung in Anspruch genommen wird.

Vielleicht tut uns eine Befreiung von dieser Verantwortung not; eine Dementierung ihrer Ansprüche indes führt nicht zu dieser Freiheit, es sei denn innerhalb der Grenzen von Komödie oder Religion. Der Film bietet einrührendes Bild des Skeptizismus: hier haben wir es nämlich nicht nur mit der plausiblen Möglichkeit, sondern mit der Tatsache zu tun, daß die Realität von unseren normalen Sinnen hingenommen wird, obwohl sie als solche nicht existiert – schlimmer noch: weil sie nicht existiert, weil man sie nur zu betrachten braucht. Zweifellos läßt sich unsere Phantasie auch als durch das Betrachten von Realität befriedigen. Wenn man jedoch mit dem Argument der Skepsis gerade ‚diese‘ Befriedigung leugnet, – wenn man bestreitet, daß es überhaupt Realität sein könnte, was der Film projiziert und ablichtet, dann macht man den Skeptizismus zur Farce. Wer so argumentiert, scheint zwar zu bedenken, daß der Skeptizismus sich gegen unseren Glauben an die Außenwelt wendet, aber er scheint gleichzeitig zu vergessen, daß der Skeptizismus mit dem Versuch beginnt, eben diesen Glauben zu rechtfertigen.

Das dramatische Geschehen des Films bzw. unsere latente Angst beim Betrachten dieses Geschehens gründet darin, daß uns unablässig demonstriert wird, wie wenig wir die Voraussetzungen unseres Glaubens an die Wirklichkeit kennen. Wollte man hier dem bekannten Wunsch nachgehen, vom Film als von etwas zu sprechen, das uns im allgemeinen eine ‚Illusion von Wirklichkeit‘ gewährt, so würde man damit diese latente Angst nur verschleiern, wie es der philosophische Skeptizismus letztlich auch tut. Die Idee einer ‚Illusion von Wirklichkeit‘ verwischt die unterschiedlichen Rollen der Realität in der Malerei, im Theater und im Film, und sie verkennt das Verlangen der Kunst, sich der Wirklichkeit zuzuwenden, um gegen unsere Illusion von ihr anzugehen bzw. diese aufzuheben. Der ‚Wirklichkeitssinn‘, aus dem Komödie und Religion schöpfen und den Philosophie und Tragödie auszuloten versuchen, wird vom Film weder freigesetzt noch unterdrückt; vielleicht könnte man sagen, daß der Film ihn durchspielt.

Der im Film gezeigte Skezptizismus [sic] will uns nicht glauben machen, daß die Wirklichkeit ein Traum sei oder unseren Träumen Grenzen setze. Indem der Film Wirklichkeit vorführt, schirmt er deren Gegebenheit vor uns ab; er hält uns Wirklichkeit fern und stellt uns Wirklichkeit vor, d.h., er hält Wirklichkeit vor uns zurück. Wir leiden Qualen, weil wir der Wirklichkeit ausgesetzt sind und weil diese Wirklichkeit zugleich von uns abhängig ist. Doch selbstwenn die Wirklichkeit unseren Vorstellungen entspricht, können wir ihr – wie ich in meinem Buch gezeigt habe – das Recht verweigern, unsere Meinung über sie zu bestimmen (p. 120). Denn wenn sie auch für uns zu sprechen vorgibt, so ist es uns doch möglich, sie für kurze Zeit offen und distanziert zu sehen, damit wir erfahren und erleichtert darüber sein können, irgendwo einen Führer zu haben. Wenn wir wissen, inwieweit die Wirklichkeit unseren Träumen zugänglich ist, wissen wir auch, inwieweit dieser Wirklichkeit durch unsere Träume von ihr Grenzen gezogen sind.

Mein Realitätsverständnis scheint zu verkennen – oder besser zu unterschätzen –, wie wichtig die Art und Weise ist, in der Realität nicht nur durch das Nebeneinanderstellen von Aufnahmen, sondern auch durch ihre Anordnung innerhalb des jeweiligen Einzelbildes geformt wird. Für manchen Filmtheoretiker wird diese Feststellung ein besonderes Gewicht haben, denn sie impliziert u.a., daß alles innerhalb des jeweiligen Einzelbildes komponiert ist, daß also die einzelnen Bilder, aus denen Filme bestehen, sich möglicherweise wie (bestimmte) Gemälde interpretieren lassen. Dieser Tatbestand ist keineswegs unvereinbar mit einem Gedanken meines Buches: daß der Kameramann das Einzelbild so ‚handhaben‘ müsse, als ob es sich dabei um die Aufnahme eines Gemäldes handelte. Für mich ist dies ‚eine‘ der Möglichkeiten des Films, eine weitere Demonstration des Mediums, dessen Bedeutung es zu entdecken gilt. Wir wollen auf diese Möglichkeit kurz eingehen.

Zunächst sei in groben Zügen an die Bedeutung des Einzelbildes im Film erinnert, und zwar in dem von mir in ‚The World Viewed‘ aufgezeigten Sinne eines Kontrastes zum gemalten Bild. In Anlehnung an Bazins Hinweis, daß der Film mit dem, was er ausschließt, genauso operiert wie mit dem, was er einschließt – daß seine Funktion weniger darin besteht, abzubilden als zu verhüllen, (was mich von der Photographie als von einem Segment der Welt in ihrer Ganzheit sprechen ließ) –, habe ich das Einzelbild im Film als etwas definiert, das seinen Inhalt nicht in der Art von Begrenzungen oder Umrissen, sondern in der Art von Webstühlen oder Hohlformen gestaltet.

Das unverblümteste Eingeständnis der Kamera, ausgeschlossen zu sein und daraus zugleich die ständige Implikation dessen abzuleiten, was sich jenseits des Einzelbildes abspielt, findet sich nach meiner Erinnerung in George Cukors ‚Adam‘s Rib‘. Hier ist die Kamera eine ganze Szene hindurch auf Tracys und Hepburns Schlafzimmer gerichtet, das ohne die dominierende Präsenz der beiden – die nur gelegentlich erscheinen – leer wirkt: Die Kamera beobachtet bewegungslos, wie die Eheleute über den leeren Raum hinweg, aus einem Ankleidezimmer in das andere, laut miteinander sprechen. Das Ankleidezimmer der Frau liegt direkt außerhalb des Sichtwinkels auf der linken Seite, das des Mannes auf der rechten. Die davon ausgehende Wirkung widerspricht all unseren Erfahrungen vom Sprechen über einen leeren Raum hinweg (diese Erfahrung hätte ein anderer Regisseur mit einer ähnlichen Kulisse ohne weiteres bestätigen können). Hier stellt sie sich als Intimität dar, die keine sichtbare Gegenwart erfordert, ja, sie steigert sogar noch unsere Vertrautheit mit den Eheleuten, deren unsichtbare und durchdringende Gegenwart uns eine Beziehung zu ihnen ermöglicht, die der ihren gleichkommt. Wahrscheinlich gibt es nur wenige Ehen, mit denen wir so vertraut sein wollten. Die eben geschilderte Szene wird mit einer etwas längeren eingeleitet, in der die Kamera – ebenfalls völlig bewegungslos und unaufdringlich verharrend – auf drei Charaktere gerichtet ist, die um einen Tisch sitzen und sich unterhalten; hier jedoch erweist sich nichts außerhalb des klischeehaften Gezeigten als bedeutungsvoll. Die Kamera kann also auch eine solche Wirkung erzeugen und gleichermaßen interessant sein – vorausgesetzt, man hat neben einem entsprechend guten Dialog eine Katharine Hepburn und eine Judy Holliday sowie eine entsprechend gut besetzte Nebenrolle zur Verfügung, und vorausgesetzt, man versteht es, das Blickfeld hinter diesen Charakteren durch die Postierung eines Beobachters an einer fernen Mauer noch zu erweitern (Cukors „Implikation über das Einzelbild hinaus“ in der Szene mit dem leere [sic] Schlafzimmer bezieht das mit ein, was unmittelbar jenseits der beiden Seitenbegrenzungen liegt. Damit macht er sich einen typischen Bereich narrativer Implikationen im Film zunutze, indem er sein bestimmtes sichtbares Etwas unserem Blick ausdrücklich verweigert. Aus diesem Kunstgriff sind Klischeemuster begrenzter Spannungserzeugung entstanden – so wenn die Kamera auf das Gesicht einer lauschenden Frau einschwenkt, wodurch der Blick eingeschränkt und demzu folge der Bereich erweitert wird, aus dem etwas Bedrohliches auftauchen kann; so auch, wenn die Kamera von einer Liebes- oder Gewaltszene feige bzw. taktvoll wegblendet. Auf solche Andeutungen sind wir bereits so eingespielt, daß wir jede Aussparung des visuell Expliziten bereits wie ein Ausweichen empfinden. Vermutlich ist dies auch mit der langen Rückblende von Hitchcocks Kamera in ‚Frenzy‘ beabsichtigt, die vor einer Szene angedeuteter Gewalt zurückweicht, nachdem direkt vor ihr eine Türe zugeschlagen wurde. Was hier impliziert werden soll, liegt nicht außerhalb der Seitenbegrenzung des Einzelbildes, sondern außerhalb des abgeblockten Bildhorizonts; Hitchcock unterstreicht sogar noch den schwarzen Humor dieser Rückzugsgeste, denn als er uns später zeigt, was hinter jener Türe geschah, sehen wir praktisch überhaupt nichts von den vermuteten Vorgängen, die wiederum neben bzw. hinter die Seitenbegrenzung des Einzelbildes verschoben sind.In seiner Dissertation über ‚Ästhetik und Film‘ (Harvard, 1973) argumentiert Willian Rothman m. E. überzeugend, daß eine besondere Beziehung zwischen dem Gezeigten und dem Nicht-Gezeigten für Hitchcocks narrativen Stil von zentraler Bedeutung ist, und daß diese Beziehung sich durch sein gesamtes Werk hindurch kontinuierlich entwickelt. Seine Bemerkungen zum letzten Entwurf der vorliegenden Essays bewogen mich an sechs Punkten zu einer Korrektur, Präzisierung bzw. Erweiterung des Gesagten. Für jede dieser Anregungen schulde ich ihm Dank.)

Ich behaupte also nicht, daß dem Bildaufbau keine Bedeutung zukommt, sondern daß seine Bedeutung überhaupt erst dann faßbar wird, wenn man weiß, woraus er sich zusammensetzt – für den Film heißt dies: aus einer Abfolge automatischer Weltprojektionen. Um dem Begriff des Bildaufbaus im Film ein ähnliches Gewicht zu geben wie dem in der Malerei, müßten die jeweiligen Bewegungsgrade in der Abfolge von Projektionen festgehalten werden, zumindest die Bewegungen der Kamera und ihres Gegenstandes zu einem bestimmten Zeitpunkt. Denn sobald entweder Einzelbild oder Gegenstand verändert werden, ändert sich auch der Bildaufbau. Das ist natürlich bloße Analogie, denn der Strom der Einzelbilder durch den Projektor läßt sich nicht anhalten (es sei denn zum Zweck einer Analyse), so daß die Direktheit einer auf einen bewegungslosen Gegenstand gerichteten bewegungslosen Kamera in ihrer Bedeutung grundsätzlich verschieden ist von der Bewegungslosigkeit einer statischen Aufnahme. Im Film stellt sich das ganz trivial durch die Möglichkeit dar, Einzelbilder festzuhalten. Die Direktheit selbst deutet an, daß die auf der Leinwand gezeigte Ansicht immer nur eine aus einer endlosen Anzahl gleichermaßen möglicher Ansichten ist, und daß nichts, was die Kamera tut, aus dem Sichtkreis ausbrechen kann; wir sind immer außerhalb; es gibt keine vollkommene, ausschließlich bedeutsame Ansicht. Damit ist eine der Bedeutungen der 360°-Schwenkung aufgedeckt,mit der Hitchcocks Kamera das sich umarmende Paar in ‚Vertigo‘ einfängt. Wir sehen die beiden aus jedem Winkel – zumindest aus jedem Winkel von einer bestimmten Kopfhöhe her – mit dem Erfolg, daß wir ihre Vertraulichkeit miteinander als endgültig akzeptieren.

Wiederum scheint der Hinweis angebracht zu sein, daß diese Bedeutung eine Funktion ‚dieser‘ 360°-Schwenkung in ‚diesem‘ Kontext und in ‚diesem‘ Film ist. Zweifellos steht zu erwarten, daß alle Schwenkungen um 360° einen gemeinsamen Bedeutungsradius haben; sicher ist aber auch, daß man empirisch verfahren muß, um diese Bedeutung aufzuspüren, und zwar aufgrund einer kritischen Analyse sämtlicher 360°-Schwenkungen der Kamera. (Sämtlicher? Ein stattliches Corpus beim heutigen Stand. Alle, auf die es ankommt; alle, die unverbildeten Betrachtern als bedeutsam erscheinen. Ausreichend, um das der empirischen Entdeckung vorausliegende ‚a priori‘ zu finden. Weshalb nicht? Als Teil der Kunstphilosophie muß die Kritik sich an die Philosophie halten. Sie strebt nach einer unverbildeten Ansicht, nach dem Unverfälschten.) In ‚Vertigo‘ spinnt die kreisende Kamera das Paar wie in einen Kokon in den Phantasiebildern des Mannes ein, von denen die Frau nichts wissen kann, in deren Sog sie aber langsam gerät. Die Welt dreht sich im Kreis, das Paar dreht sich im Kreis, und der Mann dreht sich allein im Kreis – eine Mischung, die zu Klima und Klimax des Schwindelgefühls paßt. Die Phantasiebilder des Mannes indes werden in ihrer Abfolge von ihm weder wirklich gesehen noch bloß vorgestellt, geschweige denn erinnert. Sie sind Projektionen und Abfolgen jener Realität, die er spielt. Sie wirken wie Filmbilder, ohne sich an deren Gesetze zu halten. Sie gehen nicht aus einer Position außerhalb der Welt hervor, deren Perspektive sie im Prinzip teilen könnten; sie implizieren die Welt nicht in ihrer Totalität, sondern wählen Fragmente aus dieser Welt, die nur für den Mann Bedeutung besitzen. Sie sind aber trotzdem nicht bedeutungslos, sondern zerstören – wie im Wahnsinn – die Unterscheidung zwischen Bedeutung und Bedeutungsverlust, zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit. Sie offenbaren demzufolge die Realität dieser einen Frau für diesen einen Mann, der ihre Gegenwart beschwört und entweiht. Faßt man den Begriff der Romanze – wie ‚The Winter‘s Tale‘ beispielsweise – als Befriedigung unmöglicher und doch unersättlicher menschlicher Wunschvorstellungen, so trifft diese Charakteri sierung auch auf einen entscheidenden Aspekt des Films im allgemeinen zu; man könnte demzufolge von ‚Vertigo‘ als einer Proklamation des Endes der Romanze sprechen. Andere Beispiele wären ‚Rules of the Game, The Children of Paradise, The Farrings of Madame de ...’ und ‚The Birds’.Mit Begriffen wie ‚Ende der Romanze‘ und ‚Säkulare Mysterien‘, vor allem aber mit der Vorstellung einer ‚Diskrepanz zwischen der tiefen Innerlichkeit, der ein gewöhnliches menschliches Leben Ausdruck geben möchte, und der schalen Äußerlichkeit gewöhnlicher Mittel, durch welche dieses Leben sich Ausdruck verschaffen muß‘, möchte ich Terrence Malicks ‚Badlands‘ charakterisieren. Was immer gegen die eigenen Reaktionen auf den Film eines Freundes einzuwenden wäre – vor allem, wenn man diesen Film erst einmal gesehen hat –, so können die Einwände kaum weniger gravierend sein, wenn man dazu schweigt. Im Augenblick möchte ich zugunsten dieses Films einfach sagen: Es handelt sich um einen Film, der die große und natürliche Möglichkeit dieses Mediums wahrnimmt, dem Ausdruckslosen Ausdruck zu verleihen. Das reicht vom erzwungenen sozialen Schweigen bzw. der Scheu eines Chaplin und Keaton bis hin zum individuellen Schweigen bzw. der Zurückhaltung eines Bogart und Cooper, und es stellt Fragen, die wir selbst hätten beantworten müssen. Wie ist ein Glaube beschaffen, der schweigsame Stärke als Dienst am Guten begreift? Welche Worte würde eine solche Stärke finden, um sich Ausdruck zu verschaffen? Denn schließlich muß sich doch für unser Leben etwas ‚sagen‘ lassen. Jetzt und immer sagen wir etwas, bzw. lassen wir zu, daß etwas gesagt wird. Zu Geburt und Tod, Hochzeit, Examens- und Geburtstagsfeiern kaufen immer noch Millionen von Menschen entsprechende Glückwunsch- bzw. Beileidskarten, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Manche stellen vermutlich höhere Ansprüche und vertrauen ihre Gefühle nur einer teureren Karte in witziger Form an. Ich will nicht leugnen, daß es bei solchen Anlässen angebrachter ist, dafür Sorge zu tragen, daß überhaupt etwas gesagt wird, als daß man sich übermäßig um den Inhalt des Gesagten kümmert. Wenn es also auf die Gesinnung ankommt – was geschieht, wenn wir diese nicht mehr verstehen? – Welche Gesinnung läßt den Mörder in ‚Badlands‘ sagen, er habe „eine Menge zu sagen“? Und aus welcher Gesinnung heraus durchkreuzt Malick diesen Anspruch, indem er die Unfähigkeit des Jungen zeigt, auch nur 60 Sekunden lang ein Tonband in einer zerstörten Zelle zu besprechen, in der man seine eigene Stimme aufnehmen kann? Aus welcher Gesinnung heraus vertraut das Mädchen seinen Lebensbericht einem aus Illustrierten bezogenen Phrasendunst an? Welche Bücher wären zu empfehlen? Um auf Erden nicht gottverlassen zu sein, muß man jede sich bietende Ausdrucksmöglichkeit nutzen. Vielleicht hören wir eine Ähnlichkeit zwischen der Stimme dieses Mädchens und zufälligen anderen Stimmen heraus, die in den letzten Jahren an Stätten gewaltsamer Entführung aufgenommen wurden. Das neueste Beispiel dafür ist m. E. Patricia Hearsts Botschaft Anfang Juni vergangenen Jahres (1973) im Hinblick auf die Schießerei in Los Angeles, die einen Monat zuvor stattgefunden hatte. (Eine ähnliche Dissoziation ließ sich in der Abschiedsrede zum Tode von Theodor Roosevelts junger Frau am Morgen des 9. August 1974 beobachten). Weiter wäre zu fragen, ob die Worte der Erzählerin in ‚Badlands‘ bzw. ihr Ton oder ihre Gesinnung anders gewesen wären bzw. von uns anders hätten gehört werden können, wenn sie Ereignisse berichtet hätte, die wir für gut befinden könnten. Sind wir bereit zuzugeben, daß – wären die Ereignisse gut gewesen – die Botschaft keiner Bandaufnahme bedurft hätte? An wen und von wo aus richtet man einen Brief an die Welt? Zu welchem Zweck möchte man eine Spur in der Welt hinterlassen?)

Das Unvollständige, das Außerhalb-Sein, die Kontingenz des Betrachtungswinkels – die Tatsache, daß wir es dabei jeweils mit nur ‚einer‘ von endlos vielen Möglichkeiten zu tun haben, kommt m. E. im Werk Carl Dreyers am deutlichsten zum Ausdruck. In ‚Passion of St. Joan‘, dessen Thematik vor allem um das menschliche Antlitz kreist, wird dem ‚Profil‘ eines Gesichtes besondere Bedeutung beigemessen. So entpuppen sich die Richter in Profilansicht als Verschwörer, die in jemandes Ohr flüstern oder ihr Mienenspiel verbergen, während Joan gerade im Profil mit aller Klarheit als sie selbst erscheint. In der Profilansicht wird sie zur Anklägerin ihrer Ankläger und wendet sich gegen diese; der letzte, kurze Blick auf sie zeigt sie wiederum im Profil als qualvoll Leidende auf dem Scheiterhaufen. Daraus läßt sich stillschweigend folgern, daß ‚eine‘ Gesichtsansicht alle anderen auslöscht und daß hier und jetzt jeweils nur ‚eine‘ möglich ist. (Sollte jemand meinen, dieser Tatsache sei durch die Verwendung von Spiegeln entgegenzuwirken, so muß gesagt werden, daß die Verdoppelung einer Ansicht durch einen Spiegel uns in erster Linie davon ablenkt, beide Ansichten gleichermaßen aufzunehmen; es mag uns dann auch dämmern, daß zwei Ansichten manchmal nicht besser – und genauso unvollständig – sind wie eine. Die besondere Bedeutung des Spiegels indes wird sich aus dem Einzelfall ergeben.) Die Art und Weise, wie Dreyer die Bedeutung des Profils in seinem Film bewußt handhabt, läßt sich also durch eine Analyse und kritische Betrachtung der Einzelelemente sowie des Films als Ganzem bestimmen, und weil es sich dabei um ein filmisches Meisterwerk handelt, sollte diese Analyse eine solche filmischer Möglichkeiten sein.

Ein anderes Element dieses Films ergibt sich aus der Möglichkeit, die Leinwand in Zonen aufzuteilen; so ist vor allem die linke Leinwandhälfte, und da wiederum der linke obere Quadrant, besonders intensiven Gemütsbewegungen vorbehalten. – Wie aber weiß man, was ein ‚Element‘ filmischer Bedeutung ist? Man weiß es nicht ohne eine kritische Analyse. Nichts – kei ne Variation oder Kombination des Winkels, der Entfernung, der Zeitdauer, der Anordnung und der Verbindungsglieder – darf von vornherein als Bedeutungsmerkmal ausgeschlossen werden. Nichts gilt als Nonsense-Silbe oder als ungrammatische Sequenz, es sei denn aufgrund einer überzeugenden semantischen Analyse. Aus linguistischer Sicht mag das als rückschrittlich oder unverständlich erscheinen. Es erweckt den Eindruck, als ob der Film kein Lexikon und keine Grammatik kenne. Warum also der Versuch, den Film als Sprache zu begreifen? Weil die Gestik der Kamera bedeutungsvoll ist oder sein soll und weil der Zweck ihrer möglichen Bedeutungshaftigkeit im dunkeln liegt. Stellt man sich unter Grammatik eine Maschine zur Erzeugung von Sätzen vor, so ließen sich die Kamera und ihr Film vielleicht als eine Maschine zur Erzeugung von Idiomen bezeichnen. Wird dann einer ihrer Vorschläge wirklich bedeutungshaft verwendet, so zeigt sich darin die Spezifizierung einer filmischen Möglichkeit. Diese Spezifizierung bezieht sich nicht auf einen grammatischen, sondern einen idiomatischen Aspekt des Films. Dieser absurd wirkende Vergleich läßt die Folgerung zu, daß hier das ‚Filmische‘ nicht als Vermittlung von Bedeutung zu begreifen ist, die in keinem anderen Medium vermittelt werden ‚kann‘, sondern als Vermittlung einer besonderen Bedeutung in ‚dieser‘ (kritisch spezifizierten) Weise.

[...][…]Ich habe mir bis zuletzt ein höchst wirkungsvolles Argument gegen die Unterstellung aufgespart, meine Berufung auf die Realität könne falsch oderirrig sein, weil sie außer acht läßt, daß die Ereignisse im Film fiktionaler Natur sind und demzufolge von allem Anfang an ‚nicht‘ real bzw. nicht wirklich geschehen sein können, es sei denn durch den reinsten und wunderbarsten aller Zufälle.

Mein Buch geht fast kaum auf die spezifischen Probleme filmischer Narration oder Dramaturgie ein. Zur Rechtfertigung dieses Mangels kann ich nur sagen, daß meiner Überzeugung nach die Problematik filmischer Dramaturgie – die Modalität also, in der Filmgeschichten erzählt werden – sich erst dann richtig erforschen läßt, wenn man zuvor das Medium Film selbst untersucht hat. Daß Filme fiktional sind, unterscheidet sie nämlich nicht von Opern, Dramen, Romanzen, bestimmten Gedichten, Gemälden oder dem Ballett. Und da die Filmdramaturgie vermutlich genauso filmspezifisch ist wie die jeweilige Dramaturgie anderer fiktionaler Künste, ist vermutlich auch eine Diskussion der Filmdramaturgie ohne Berücksichtigung von Wesen und Struktur der spezifischen Möglichkeiten des Films selbst, die man heranziehen müßte, gleichbedeutend mit einer Diskussion der Dramaturgie einer Oper ohne Berücksichtigung von Wesen und Struktur ihrer Musik. Gleichermaßen steht zu vermuten, daß es Methoden einer Musikanalyse gibt, die versagen, wenn man mit ihnen die Funktion von Musik und Drama aufzeigen will.

Fin Zentralanliegen meines Buches jedoch ist für den Fiktionsbegriff von unmittelbarer Relevanz. Die Typusvorstellung beispielsweise dient dazu, die besonderen Weisen faßbar zu machen, in denen der Mensch durch den Film fiktionalisiert – will sagen, geformt – wird. Die Erzeugung einer fiktionalen Präsenz (wie der Präsenz der Natur) ist kein Verdienst des Mediums Film (so wie dies ein Verdienst des Romanciers, Dramatikers und Bühnenschauspielers ist), sondern wird vom Medium selbst bewirkt. (Vielleicht könnte man das auch von einer Marionette bzw. dem Marionettentheater behaupten.) Des weiteren spreche ich doch von der Nicht-Existenz der verfilmten Welt offenbar nur deshalb, um damit z. T. wenigstens zu erhellen, was unter Fiktionalität zu verstehen ist. Allerdings setze ich meinen Begriff der Nicht-Existenz nicht mit der Kunsttechnik der Fiktion gleich, – zum einen, weil ich nicht weiß, worin diese besteht, zum anderen, weil ich dasunbestimmte Gefühl habe, daß Fiktionalität nicht den narrativen oder dramatischen Modus des Films beschreibt. Es gibt unübersehbare Hinweise in meinem Buch, daß ich mir diesen mehr mit dem mythologischen als mit dem fiktionalen Modus verbunden denke.

Die formale Begründung dafür ist meine Fixierung auf den ungewöhnlichen Umstand, daß die Gestalten auf der Leinwand zwar präsent, daß sie aber ihren Zuschauern nicht präsent sind. Ich spreche von „einer vergangenen Welt“, und die Vorstellung der Vergangenheit läuft – wie die Vorstellung von Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit – fadengleich durch mein ganzes Buch. Ich behaupte jedoch nicht, daß es sich dabei um ‚das‘ Vergangene, daß es sich um Geschichte handelt. Vielmehr sage ich, daß ich beim Anschauen eines Films „bei etwas ... anwesend ... bin, das geschehen ist“ (p.26). Im Kontext dieser Behauptung stelle ich das Theaterpublikum dem des Kinos gegenüber. Beide sind bei Fiktionen anwesend. Wenn ich in diesem Kontext ebenfalls sage, daß das Theaterpublikum bei etwas anwesend ist, das gerade geschieht, so ist damit weder impliziert, daß die Ereignisse auf der Bühne sozusagen im realen Leben stattfinden, noch daß sie unabdingbar in der Gegenwart spielen. Dasselbe gilt auch für meine Behauptung, daß das Kinopublikum bei etwas anwesend ist, das sich bereits ereignet hat; hier ist weder impliziert, daß das Leinwandgeschehen sozusagen im realen Leben stattgefunden hat, noch daß es unabdingbar in der Vergangenheit spielt. Zugegebenermaßen kann meine Formulierung auf den ersten Blick so etwas bedeuten, auf den zweiten Blick jedoch impliziert sie eine Unmöglichkeit: Wie kann man bei etwas ‚anwesend‘ sein, das bereits geschehen, das vorbei ist? Diese Frage behält ihre Gültigkeit unabhängig davon, ob die betreffenden Ereignisse fiktiv oder historisch sind; denn der Kontrast zwischen Fiktion und Geschichte spielt hier keine Rolle. (Man kann Träume und Halluzinationen haben. Aber es ist offenbar sinnlos zu sagen, daß man bei Träumen oder Halluzinationen anwesend sei. Damit haben wir einen Hinweis darauf, warum es falsch ist, sich Filme als Träume oder Halluzinationen vorzustellen.) Wenn man also behauptet, bei etwas anwesend zu sein, das vorbei ist, so stellt man nichts Falsches fest, sondern äußert bestenfalls ein Paradoxon. Schlimmstenfalls handelt es sich dabei um ein dummes oder unnötiges Paradoxon. Ob es aufschlußreich oder notwendig ist, hängt von verschie denen Dingen ab: zunächst muß die Erfahrung, die es ausdrücken soll, auch wirklich zum Ausdruck kommen; sodann muß diese Erfahrung die Bedeutung haben, die ich ihr beimesse; und schließlich muß sicher sein, daß die Bedeutung nur in dieser Form Ausdruck finden konnte. Die Angemessenheit oder Notwendigkeit des Paradoxons hängt zudem auch von seiner Interpretation ab, d.h. insbesondere davon, ob es genau und eindrücklich die verschiedenen Auffassungen und Beschreibungen codiert, die ich aus ihm gewonnen habe – so zum Beispiel in bezug auf unser Vertriebensein aus dieser Welt oder die Bedeutung der Ab- und Anwesenheit von Schauspielern und Publikum usw.; und natürlich hängt es auch davon ab, ob diese Auffassungen und Beschreibungen ihrerseits erhellend und notwendig sind. Wenn ich gegen Schluß meines Buches sage: „Die Schauspieler sind ‚da‘ ... (sie sind) in eurer Welt, aber ihr könnt ‚jetzt‘ nicht dorthin gehen ... In einem Filmtheater blockiert die Zeit den Weg zu den Filmstars“, so rechnete ich mit einem Leser, von dem ich erwarten zu dürfen glaubte, daß er diese Ausdrucksweise symbolisch verstehen würde, – als mythologische Beschreibung eines Zustands, der einen von einem Film gepackten Menschen charakterisiert. Vielleicht mangelt es mir an Ausdrucksmöglichkeiten, vielleicht ist es mir auch nicht gelungen, solch einer Erwartung gerecht zu werden – indes: meine Ausführungen können doch nicht allen Ernstes so verstanden werden, als ob ich glaubte, ein von einem Film gepackter Mensch könne zu einem anderen als dem gegenwärtigen Zeitpunkt sich buchstäblich zu dem in diesem Film geschilderten Geschehen auf den Weg machen. Gegen eine solche Interpretation spricht nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch meine Akzentuierung bestimmter Gedanken, wie dem der Nicht-Existenz der projizierten Welt, der Projektionen der Welt als solcher (was nicht identisch ist mit der Darstellung von Schauplätzen), meiner Abwesenheit von der Welt und deren Vollkommenheit auch ohne mich. Gedanken dieser Art sollen (natürlich in einem mythologischen Sinne) korrigieren bzw. erklären, was an der Vorstellung des Vergangenseins der projizierten Welt falsch und was daran richtig ist. Für mich verbindet sich diese Vorstellung ganz unmittelbar mit meiner Passivität gegenüber der Darstellung der Welt, mit dem Faszinierenden und Unheimlichen, das in der Chance liegt, die Manifestation der gesamten Welt in den Blick zu bekommen.

Unmittelbar vor dem zitierten Passus aus meinem Buch bezüglich der Zeit, „die den Weg zu den Filmstars blockiert“, stelle ich eine Beziehung zwischen dem Filmtheater und Platons Höhle her. An dieser Beziehung ist die Tatsache entscheidend, daß bei der Teilhabe an den Geschehnissen kein Hinausgehen und – in einem buchstäblichen Sinne – kein Anderswo-Hingehen möglich ist. Es gibt für mich keine Zeit außer jener, in der ich bin, und es gibt auch keinen anderen Ort, an den ich gehen könnte. – Warum also die Andeutung, daß dies möglich ist? – Ich nehme ja für mich in Anspruch zu ‚leugnen‘, daß dies möglich ist. – Weshalb dann die Mühe des Leugnens, wo doch kein geistig gesunder Mensch umhin kann, dies zu leugnen? Weil der gesunde Menschenverstand eigentlich von der Erfahrung des Films als solchem bedroht und in Frage gestellt werden sollte; weil die Art unserer Abwesenheit von den Ereignissen auf der Leinwand nicht identisch ist mit der Art unserer Abwesenheit von einem historischen Ereignis, von den Ereignissen in einem Zeichentrickfilm, in einem Roman oder auf der Bühne; weil die unterschiedlichen Arten der Abwesenheit im unterschiedlichen Naturell der Zuschauer von verschiedenen Kunstgattungen zu suchen sind; und weil schließlich jedes Publikum in seiner Teilnahme- und Aufnahmebereitschaft auf die Eigenart der jeweiligen Kunstgattung reagiert.

Auf den letzten Seiten meines Buches äußere ich Besorgnis über Teilnahme- und Aufnahmevermögen des Filmpublikums und bezeichne diesen Umstand als meine Erfahrung von Unvorhersehbarkeit. Dieses Gefühl der Unvorhersehbarkeit kann mythologisch als ein Gefühl zum Ausdruck kommen, daß ich nicht ‚dabei‘ bin – so als ob meine Abwesenheit der Erklärung bedürfe. Wer über den Film schreibt und von Filmen wie von Halluzinationen oder Träumen spricht, ist m. E. empfänglich für die Notwendigkeit einer solchen Erklärung. Wer das alles aber wörtlich nimmt, ist im Unrecht. Ich habe angedeutet, daß er nach meiner Überzeugung sogar in einem mythologischen Sinne irrt, wenn es auch nicht leicht ist zu sagen, warum. Er ist empfänglich für die Tatsache, daß ich Dinge sehe – Dinge, die nicht da sind – und daß ich sie als überwältigend gegenwärtig erlebe. Er kann mich auch nicht aus einer solchen Stimmung reißen, indem er mir sagt, daß es sich bei dem, was ich sehe, um die Projektion von Photographien handelt und daß ich das Wort ‚sehen‘ falsch verwende, denn ich kann ihm darauf nur antworten, daß ernicht weiß, was eine Projektion von Photographien ist. Genausogut könnte er mir sagen, daß ich im Spiegel nicht mich selbst sehe, sondern nur ein Spiegelbild meiner selbst.

Das Gefühl der Unvorhersehbarkeit kann aber auch unmythologisch als ein Gefühl zum Ausdruck kommen, daß ich ‚hier‘ bin, daß es mein Schicksal ist, hier zu sein und – solange ich hier bin – lieber an dem einen als an einem anderen Ort zu verweilen. Vielleicht sieht das ein anderer nicht gerade als Schicksal an, möglicherweise hält er nichts vom Vorhandensein eines ‚Gefühls von Unvorhersehbarkeit‘, und vermutlich hat er sogar den Eindruck gewonnen, daß ich dieses Gefühl falsch beschrieben oder in seiner Bedeutung überschätzt habe. Also muß sich einer von uns beiden irren.

Zu den formalen Argumenten für mein intuitives Gefühl, daß es sich beim dramatischen Modus des Films um einen mythologischen handelt, kommen noch andere, die sich auf den Inhalt des vom Film Projizierten beziehen. Ich interpretiere diesen Inhalt nicht so, als ob er uns Glanz, magische Lösungen und eine Ansammlung von Filmstars verspräche, auch wenn ich nicht verhehle, daß solche Wünsche oft und nicht einmal ausschließlich von Filmen geweckt und vertieft werden. Filme indes versprechen uns Glück nicht deshalb, weil wir reich und schön oder von großer Ausstrahlungskraft sind, sondern weil wir Vereinzelung, Andersheit und Ausdruckmangel erdulden können. Mehr noch: weil wir eine Verbindung zur Realität aufrechterhalten können, obwohl wir dazu verdammt sind, sie in Privatheit zu betrachten. Schließlich waren es nicht nur ein paar schwerverständliche deutsche Philosophen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die bei der Herausbildung des Industriezeitalters davon sprachen, daß der Mensch sich der Welt entfremdet habe; noch hat ein dem Irrsinn verfallener deutscher Denker am Ende des Jahrhunderts ausschließlich für sich selbst gesprochen (wenn auch primär zu sich selbst), als er den Tod Gottes verkündete – um damit die veränderte Beziehung anzuzeigen, in die wir uns zu Welt, Natur, Gesellschaft und zu uns selbst gebracht haben. Der Mythos des Films besteht darin, daß die Natur ihre Behandlung durch uns ebenso überlebt wie ihren Verlust an Verzauberung für uns, daß Gemeinschaft möglich bleibt, auch wenn uns die Autorität der Gesellschaft versagt wird.

Denn Filme sind an sich anarchisch. Ihr unersättlicher Appetit auf Liebesgeschichten gilt Geschichten, in denen eine noch zu findende Liebe ihre eigene Gemeinschaft erst entdecken muß, und zwar abgesondert von (mit einigem Glück noch innerhalb) der Gesellschaft überhaupt; einer Enklave innerhalb dieser Gesellschaft; Geschichten, in denen es der Gesellschaft und ihren Gesetzen nicht mehr möglich ist, Liebe zu gewähren bzw. zu versagen. Der Mythos des Films erzählt nichts von der Entstehung der Gesellschaft, sondern von einer Menschenansammlung ohne natürliche oder göttliche Hilfe; von einer Gesellschaft vor ihrer Konsolidierung (wie in Western-Filmen) oder nach ihrem Zusammenbruch (wie in den Musicals oder der Komödie der 30er Jahre, in denen die Hauptdarsteller der Liebesromanzen sich selbst überlassen sind, wenn es um die Rechtfertigung ihrer Liebe geht). Der Mythos des Films teilt mit jedem anderen Mythos den Wunsch nach den Ursprüngen und nach dem Erfassen dessen, was sich dem Zugriff menschlicher Geschichte und Willkür entzieht. Im Mythos wird die Vergangenheit vor uns aufgerufen und erneut dargestellt, und ihre Präsenz gibt uns eine neue Weihe. Im Film erweist sich die Vergangenheit, die gegenwärtig ist, als das Vergangensein der Gegenwärtigkeit selbst, als die Zeit selbst; sie ist visuell in endloser Wiederholung aufbewahrt, ist eine ewige Wiederkehr, wodurch sie die Fähigkeit verliert, uns zu bewahren; vor allem aber steht es nicht in ihrer Macht, uns einander nahezubringen. Der Mythos des Films verdrängt jenen Mythos, für den Gesetzesgehorsam, d.h. Gehorsam gegenüber Gesetzen, die unsere Zustimmung und damit unsere Sanktionierung gefunden haben, zugleich auch Gehorsam gegenüber dem Besten in uns selbst bedeutet und demzufolge Freiheit gewährt: gemeint ist der Mythos der Demokratie. Indem dieser Mythos durch den des Films verdrängt wird, deutet sich an, daß die Demokratie selbst, daß dieses Heiligenbild säkularer Politik keine Lebensform ist.

[…]vielleicht ist es zu früh, ein solches Problem auch nur versuchsweise anzugehen, zu früh in begrifflicher wie künstlerischer Hinsicht. Vielleicht ist die Kunst selbst, vielleicht sind insbesondere die Begriffe, in denen man ihre Prozesse erfassen will, zu unklar, um zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine solche Perspektive anzulegen – es sei denn in Form eines Manifestes, und das ist nicht meine Sache.

Zwar kann man dem Gefühl eines Umbruchs in der Filmkunst der letzten 15 oder 20 Jahre und vielleicht sogar der Ansicht zustimmen, daß dieser Wandel etwas mit dem Eindringen modernistischer Probleme zu tun hat, aber dann sollte man auch den Grund für dieses Eindringen auf mindestens zwei – von mir nicht herangezogene – Möglichkeiten hin zu erläutern versuchen: als mehr oder minder farcenhafte Wiederholung der ersten und entscheidendsten modernistischen Phase, wie sie z. B. im revolutionären Rußland stattfand, oder (nicht ausschließlich) als eine neue Entwicklung experimentellen Filmemachens.Wahrscheinlich läßt sich diese Überzeugung mit bestimmten von Annette Michelson in „Film and the Radical Aspiration“ geäußerten Ansichten vereinbaren. Dieser Punkt wird in der Einleitung zu einer von Gerald Mast und Marshall Cohen edierten Anthologie: ‚Film Theory and Criticism‘, Oxford: University Press, 1974, angeschnitten.) Mir kommt es an dieser Stelle weniger darauf an, dieses Problem zu entscheiden, als vielmehr darauf, daß eine Entscheidung darüber im wesentlichen zugleich eine Sache der Bewertung und Auffassung ist, die man dem fraglichen Sachverhalt sowie dem Begriff ‚Modernismus‘ beilegt. Ich habe den Terminus ‚modernistisch‘ nicht in einem ursprünglichen Sinne gebraucht, um das Werk eines Künstlers zu bezeichnen, dessen Entdeckungen an seinem Medium und dessen Aussagen darüber als Verkörperung seines Bemühens verstanden werden müssen, die Kontinuität seiner Kunst und deren Geschichte zu bewahren und einen Vergleich mit seinen früheren Leistungen sowohl herauszufordern als auch zu bestehen. Der Terminus soll nicht alles umgreifen, was in der Kunst als fortschrittlich oder ‚avant-garde‘ gelten mag. In mir erweckt dieser Terminus im Gegenteil den Wunsch, das Konzept der ‚avant-garde‘ (wie es z. T. praktiziert wird) in mindestens drei Punkten zu erschüttern: 1. in seiner Folgerung, daß fortschrittliche Kunst sich von der Vergangenheit weg auf die Zukunft hin orientiert; 2. in seiner Tendenz, jedem Fortschrittsanspruch unterschiedslos Beachtung zu schenken; damit verbindet sich zugleich auch die Neigung, den Kunstbegriff überhaupt, in jedem Fall aber die Vorstellung aufzugeben, daß die Künste sich radikal voneinander unterscheiden, woraus die eigentliche Bedeutung des ‚Reinen‘ in der Kunst entstanden war; 3. in dem militärisch-politischenBild, das die Bezeichnung ‚avant-garde‘ evoziert; denn dieses macht glauben, eine Kunst könne anders als durch Treue sich selbst gegenüber fortschreiten oder weiterbestehen, und es suggeriert vor allem, daß alles, was diesem Fortschritt förderlich oder diesem Weiterbestehen dienlich ist, einem synchron ablaufenden oder unmittelbar bevorstehenden sozialen Fortschritt gleichkomme. (‚Arrière-garde‘ wäre da besser! Der modernistische Kritiker beschäftigt sich nicht mit einem größeren Stoffgebiet, sondern einem größeren Zeitraum.)

Damit haben wir vielleicht eine Basis, auf der sich beispielsweise Eisensteins Werk als ein solches der ‚avant-garde‘, nicht aber als modernistisch begreifen ließe. Diese Feststellung soll keinesfalls implizieren, daß Eisensteins Werk schlechter sei als irgendein anderes. (Da es meine Absicht ist, die Beziehung zwischen Kunst und Politik für den Zeitraum einer Generation offenzuhalten, würde ich nur ungern den Eindruck erwecken, als ob ich eine Beziehung zwischen den beiden ausschlösse. Hier vor allem darf man hoffen, daß der Traum von der guten Stadt nicht verlorengeht, ohne zu vergessen, daß es sich um einen Traum und demzufolge nur um erste Anfänge der Verantwortlichkeit handelt.) Von hier aus sind auch manche neuen Filmexperimente zu verstehen, die nicht dem Modernismus anderer Kunstgattungen, sondern nur (in meiner Formulierung) deren Modernisierungsbestrebungen verpflichtet sind. Ich kenne diese Experimente in ihrer Gesamtheit nicht gut genug, um darauf ein Urteil zu gründen. Geht man aber davon aus, daß es sich um eine echte Kunstbewegung handelt, und stellt man auf dieser Basis ganz bestimmte Forderungen an die Modalität von Filmkunstwerken, dann muß man sich auch sagen lassen, daß die Funktion des Experimentierens beim Herstellen von Filmen genauso filmspezifisch ist wie alle anderen relevanten Merkmale; die Bedeutung dieser Funktion läßt sich demzufolge nur im Zusammenhang mit der Bedeutung des Films überhaupt ermessen. Zwei Merkmale scheinen sich dem kritischen Blick förmlich anzubieten: 1. Alle großen Romanciers, Komponisten und Maler, die in zeitlicher Parallele zur Etablierung des Films als Kunst in ihrer jeweiligen Kunstgattung experimentierten, haben sich im allgemeinen zugleich auch als die großen Künstler ihrer Zeit erwiesen. Mit anderen Worten: ihre ‚Experimente‘ waren keine mehr oder minder peripheren Attacken auf ihre Kunst,sondern wurden für die Entwicklung der Kunst selbst höchst bedeutsam. Natürlich ließe sich nun behaupten, daß dies eines Tages auch für die Kunst des Films zutreffen werde, womit sich die Vorrangstellung von Filmen mit berühmten Regisseuren, mit großen Filmstars und mit einem Massenpublikum letztlich als eine Verirrung der Filmkunst von Anfang an abzeichnen würde, deren Ursache und anhaltende Wirkung in historischen und ökonomischen Bedingungen liegen, die mit ihrer autonomen Entwicklung nichts zu tun haben. Gewißheit darüber können wir uns erst in ungefähr einem Jahrhundert verschaffen. 2. Seit seinen Anfängen hat der Film nie aufgehört, zu Experimenten mit seinem Medium herauszufordern, ja, er hat diese Experimente sogar noch unterstützt. Von hier aus erklärt sich die einzigartige Rolle, die der Technologie in dieser Kunst zufällt. So gewinnen die ersten Experimente mit dem Film allein schon durch die Tatsache an Bedeutung, daß sie für bestimmte Komödienformen – im Bereich des Zeichentrickfilms und der Zauberburleske beispielsweise – technische Anregungen bereitstellen.

Aus dem Gesagten ergibt sich, daß mein Modernismus-Konzept im Dienste einer Kunst steht, die nicht primär gegen Riesen streitet (das wäre nichts Neues, solche Kämpfe flammen auf und enden auch wieder), sondern gegen trügerische Zwerge. Ein solches Konzept erweist sich für bestimmte Kulturphasen als notwendig. Natürlich wird seine Anwendung den Charakter einer Weissagung haben, denn die Entscheidung darüber, ob ein Film künstlerischen Ansprüchen genügt, setzt voraus, daß man zu differenzieren versteht zwischen solchen Filmen, die mit der Freisetzung ihrer Möglichkeiten willkürlich umgehen, und anderen, die es ernst damit meinen; daß man spürt, welche Filme Dokumente und Symptome ihrer Zeit sind und welche als adäquate Diagnosen und Aussagen dieser Zeit gelten können. Was diesem Konzept zugrundeliegt, muß in Verbindung mit meinen – allerdings mehr oder minder exzentrischen – Veröffentlichungen über den Film gesehen werden, die meist unter dem Zwang entstanden, die Sache Hollywoods gegen Auslassungen zu verteidigen, die mir schlechte Einwände wider diese Sache zu sein schienen (wobei ich so manchen David in Goliathgewändern entdeckte). Das Konzept wird nur dort verstehbar sein und damit auch auf alle überflüssige Dogmatik verzichten können, wo es in eine überzeugendeKulturkritik – eine Kritik der historischen Urteilskraft – eingebracht wird. Diese muß die Entstehung und die Grundzüge einer Kulturphase systematisieren können, die nach einem solchen Modernismus-Konzept allererst verlangt, einer Phase, in der es auf alles und auf nichts anzukommen scheint, wo die einen sagen werden, alles sei wichtig, und die anderen, daß nichts Wichtiges neu sei; einer Phase, in der die Diagnose an die Stelle des Dogmas getreten ist, in der Institutionen hohl und alle kulturellen Bemühungen sich als Demaskierung zu erkennen geben; einer Phase, in welcher Kunst, Politik und Religion vergessen, was sie sind, um für sich jeweils die Hinterlassenschaft des anderen zu beanspruchen; einer Phase, in der das Gewissen als schlechtes Benehmen, der Glaube als Schwäche und der Nihilismus als Zeitvertreib erscheint.

Bis dahin bin ich bereit, meine Behauptungen zum Modernismus des Films dahingehend zu modifizieren, daß ich sage: Filme haben entweder von allem Anfang an in einer modernistischen Ausprägung existiert und mußten von allem Anfang an ihre Machtstellung durch eine bewußte Erforschung der Möglichkeiten ihres Mediums zu erringen versuchen; oder Filme haben von allem Anfang an in zwei Ausprägungen existiert, in einer modernen und einer traditionsgebundenen, wobei diese teils in Parallele, teils in unterschiedlicher Distanz zueinander verliefen und manchmal gegeneinander bzw. ineinander verwoben zu sein schienen; oder das modernistische Konzept läßt sich auf die Kunst des Films nicht eindeutig anwenden. Nach meinem Dafürhalten muß keine dieser Modifikationen meine Behauptung entkräften, daß der Film die letzte traditionsgebundene Kunst ist; im Gegenteil: jede einzelne könnte erklären helfen, weshalb ich daran festhalte. Ich stehe zu der kritischen Hypothese, die mein ganzes Buch bestimmt und die auch für diese weiterführenden Überlegungen gilt: daß die stolzeste Position im Kanon ernster Filme von jenen Werken eingenommen wird, welche das Potential des Mediums selbst am eindringlichsten und augenscheinlichsten entfalten; von jenen Werken also, die den Möglichkeiten und Notwendigkeiten seines Mediums die größte Bedeutung zubilligen. Diese Bedeutung in Einzelfällen zu bestimmen, ist ein Akt der Kritik. – Vielleicht läßt sich meine Hypothese besser verstehen, wenn man sie als Definition bzw. als Hinweis auf eine mögliche Definition des ‚Potentials des Mediums selbst‘begreift. Der ihr zugrundeliegende Gedanke kann sicherlich seine Bedeutung erst am Einzelfall erweisen.