Zitiervorschlag: Anonymus (Hrsg.): "I.", in: Leipziger Spectateur, Vol.2\001 (1723), S. 51-63, ediert in: Ertler, Klaus-Dieter / Doms, Misia Sophia / Hahne, Nina (Hrsg.): Die "Spectators" im internationalen Kontext. Digitale Edition, Graz 2011- . hdl.handle.net/11471/513.20.2558 [aufgerufen am: ].
Ebene 1►
Der
Leipziger
SPECTATEUR.
I.
Zitat/Motto► Tu tantum vox es prætereaque nihil. ◀Zitat/Motto
Anon.
Zitat/Motto► Du bist an schönen Worten reich,
Und diese sind den Äpffeln gleich
Von Gold in kostbarn silbern Schalen,
Doch seh ich deine Thaten an,
So bist du ein Frantzöscher Mann,
Der uns mit Briefen will bezahlen. ◀Zitat/Motto
Ebene 2► ALs ich neulich auf dem Caffee-Hause war, so kamen ein paar Leute dahin, welche sich zu divertiren ein Tischgen einnahmen, und eine Kanne Caffee foderten. Der eine, als ein Liebhaber von einem Pfeiffgen Taback, suchte aus seiner Tasche einige Briefschafften, ob er darunter etwas unnützes finden möchte, seine Pfeiffe anzuzünden. Sein Gefährte war curieus, und zoge unter de-[52]nen Briefen einen hervor, welchen er in folgenden Terminis befand:
Ebene 3► Brief/Leserbrief► Hoch-Edler, Hochgelahrter,
Jnsonders Hochzuehrender Herr.
Wann ich das überflüßige Cerimoniel, dessen sich mein Hochgeehrtester Herr wieder die Reguln der wahren Freundschafft gegen mich bedienen, ausnehme; So ist es wenig oder nichts, das an dem übrigen Jnhalt dero gelehrten mir besonders angenehmen Schrifft auszusetzen habe. Sonderlich freuet es mich sehr, daß sie von ihrer, nicht allen so wie mir bekannten Geschicklichkeit eine abermahlige öffentliche etc. etc. ◀Brief/Leserbrief ◀Ebene 3
Jndem wischte sein Nachbar herfür, und nahm ihm dem Brief wieder aus der Hand, mit diesen Worten: Mein Herr, sie verzeihen, daß ich ihnen diesen Brief nicht lesen lasse. Da ich sonst das Vergnügen habe, unter die Zahl dero guten Freunde zu stehen, und ihnen die meisten von meinen Heimlichkeiten anvertraue. Es ist dieser Brief von einem vornehmen Manne, dessen Gelehrsamkeit, schöne Erkäntniß und Einsichten ich allezeit hoch gehalten, dessen leutseeliges Wesen, guten Willen und tugendhaffte Aufführung ich allezeit bewundert, und ihn dieser wegen unter die wahrhafftig Gelehrten vor anderen gezehlet. Aber bey dem allen habe ich das beson-[53]dere Glück, daß er viel Hochachtung und Wohlgewogenheit für mich heget, und ich mich rühmen darff, er sey mein aufrichtiger und wahrer Freund; also bin ich, vermöge der Reguln ungefärbter Freundschafft verbunden, seine Briefe unter die Dinge zu rechnen, die ich mir alleine vorbehalte, und hingegen ohne seinen expressen Befehl niemand andern gemein mache. Sie haben recht, erwiederte der andere, und ich bitte nur meine Neugierigkeit nicht ungütig zu nehmen. Aber es scheint ja, als wann sie ihren Freund disgoustiret hätten, und solte es auch mit überflüßigen Complimenten seyn, wie kommt denn das? Jch sehe ja nicht, daß sie gegen ihre Freunde so gar überflüßiges Ceremoniel gebrauchen, und wann sie es auch thäten, so würde es ihnen niemand vorwerffen, da ich gemercket, daß sie aus wahrer Hochachtung ihren Freunden viel schönes vorsagen, ob sie schon selbst gegen andere und von andern durch vieles Complimentiren sehr leicht in confusion gesetzt werden?
Mein Herr, versetzte dieser, ich will ihnen auf alles dienen, was sie mir ietzo gesagt haben. Jch gedencke nicht, daß ich meinen Freund durch das überflüßige Ceremoniel disgoustiret, was ich gesagt, habe ich aus Hertzens-Grund geredet, denn ich liebe meine Freunde, weil ich sie æstimire und was ich æstimire, dem kan ich, meines [54] Bedünckens, nicht Ehre gnung erweisen, und so heist es bey mir in diesem Stück:
Was das Hertz dencket das muß der Mund sprechen,
Was der Mund redet gedencket das Hertz.
Wann ich nun jemahls Gelegenheit gehabt, meinem Freunde durch würckliche und schwere Dienste zu zeigen, daß ich ihm für andern zugethan sey, so würde er auch diese Expression nicht einmahl gebraucht haben. Aber sie werden vielleicht wissen, daß Complimente nichts anders sind, als Worte, damit wir den andern unserer Hochachtung und Gewogenheit versichern, und daß sie also entweder Zeichen seyn der wahrhafften Hochachtung und Liebe, oder der verstellten, angenommenen, betrüglichen, falschen Beschaffenheit unseres Hertzens. Da es nun nicht so leicht ist, gleich bey dem ersten Anblick zu erkennen, aus was für einem Quell die schönen Worte fliessen, so kan es leicht geschehen, daß man den andern eines überflüßigen Cerimoniels beschuldiget, oder auch wohl gar darüber in Confusion geräth, in dem man selbige als Zeichen der Verstellung annimmt, zumahl wenn man seine eigene Schwäche kennet, oder weiß, wie es in der Welt hergeht. Es wurden hiebey noch mehr Dinge vorgebracht, und auch andere in [55] diese Conversation gezogen; weil ich aber nicht alles sogleich in der Ordnung gefasset, und auch mich nicht länger dabey aufhalten konte, so verließ ich sie, und hatte noch ein und andere Gedancken für mich, die Complimente betreffend. Unter denen Städten, die ich hierum gesehen habe, als Dreßden, Leipzig, Berlin, Hannover, Braunschweig, Hamburg, Halle, Wittenberg, Jena, Helmstädt, Erfurth, Bautzen, Görlitz etc. etc. ist keine so reich an Complimenten als Leipzig, man trifft überall unterthänige Diener und Dienerinnen an, und die Leute haben ihre Complimentir-Säcke so reichlich gespickt, daß sie aller Orten damit recht verschwenderisch haußhalten. Zumahl distinguiren sich darinn vor andern das Frauen-Zimmer und die Gelehrten. Das Frauen-Zimmer ist von undencklichen Zeiten her im Posseß der Complimente, und das Manns-Volck gönnet es ihnen gerne, daß sie sich meistentheils auf dergleichen Kleinigkeiten legen, und mit leeren Schalen die Zeit vertreiben; Denn wenn sie auf reelle Dinge sich mehr applicirten, so würden sie es darin höher bringen als viele Männer, und dann würden sie denen Mannern das vermeintliche Recht der Ober-Herrschafft desto füglicher streitig machen, welches dem Manns-Volck ungelegen.
Wer also in Leipzig mit Frauen-Zimmer conversiren will, der mache sich nur auf schöne Worte gefast, und lasse seinen gelehrten Kram [56] zu Hause, sonst wird man ihn, wie jener der eine Jungfer frug, welches die beste Griechische Grammatic wäre? für einen Pedanten halten. Hingegen besinne er sich mit wie viel Dutzend Complimenten, er die Frage: was giebts guts neues? beantworten wolle, oder wie er die bey dem L’ombre-Spiel gewöhnliche Kunst-Wörter verändern könne, oder wie er artig schertzen, verliebte Verßgen hersagen, lustige Spielgen erdencken, und aller Orten mit halb Frantzösischen, halb Jtaliänischen, halb Teutschen Complimenten um sich werffen möge, so wird man ihn als vollkommen preisen, zumahl wann das Kleid und der Beutel ihn fleißig secundiren. Der Gelehrten Complimentiren richtet sich nach der Beschaffenheit ihrer Wissenschafften, und nach dem diese mehr zu der Schul-Gelahrtheit, oder Weltgelahrtheit gerechnet werden. Man giebt gemeiniglich denen Herren Theologis Schuld, daß sie denen Complimenten feind wären, und daß bereits die Studiosi Theologiæ in den Gedancken stünden, wann sie sich zu denen Reverencen gewöhnten, so würde es ihnen hernach im Amte schwer werden, sich solche wieder abzugewöhnen, und doch würden sie sich immer selbst auf den langen Mantel oder Piester-Rock treten, da es denn zuweilen halßbrechende Arbeit geben könte. Die Complimente wären ihnen an ihrem Straff-Amte hinderlich, sie wären weltlich, sündlich, eitel, teuflisch; dannenhero [57] wäre der Unterschied unter Theologos und Politicos entstanden, und was dergleichen mehr. Allein ich kenne Theologos, die man als Muster der Höfligkeit im Reden, denen Politicis, ja zumahl denen jungen Herren von Adel vorstellen könte. Alles was wir um und an uns haben, ist im übrigen weltlich und eitel. Ob die Complimente sündlich, muß man urtheilen aus ihrem Gebrauch, und ob sie dem Nächsten zu Schaden oder Nutzen gereichen. Daß sie vom Teuffel, liesse sich wohl eben so leicht darthun, als jener Magister bey seiner Philosophia seductrice zu behaupten suchte etc. Carthesius hätte sein principium, daß man, um hinter die Wahrheit zu kommen, anfänglich an allen Dingen zweiffeln müsse, von der alten Schlange im Paradiese gelernet. Es kömmt mir im übrigen artig für, wann die Herren Theologi immer im Nahmen des HERRN und mit der Gnade GOttes im gemeinen Leben complimentiren. Diejenigen Gelehrten, welche man Politicos nennet, sind allhier manchmahl im complimentiren sehr liberal. Jch habe mich verwundert, daß sie sich unter ein ander zum Theil mit unterthänigen Dienern speisen, und da möchte ich wissen, wann der Geheimbde-Rath den aller-unterthänigsten Knecht kriegte, was für Jhro Majestät, dem Landes-Herrn, übrig bliebe. Es sagte mir jemand, er wolte lieber mit einem Ministre conversiren, als mit einem Gelehrten auf [58] der Academie; denn bey einem Minister sey alles frey, aufrichtig, ungezwungen, und er messe die Complimente nicht alle nach, als hingegen wohl ein Gelehrter pfleget zu thun. Jch kan ihm in diesem Stück nicht gäntzlich unrecht geben, indem ja allerdings die Herren Studiosi sich wenig Gelehrsamkeit und Gründlichkeit zu weilen versprechen, wann ihnen der Lehrer nicht die vorgetragenen Sachen mit Complimenten gegen die Wiedriggesinnte und gegen ihnen selbst pfeffert und würtzet. Doch es ist allezeit besser in Complimentiren der Sache zu viel als zu wenig thun. Denn es ist doch unsere Schuldigkeit, den Nächsten durch angenehme Worte unserer Liebe und gesellschafftlichen Pflichten zu versichern. Thut man der Sache zu wenig, so scheint man brutal zu seyn, oder grob, und wann es schon bey einer gewissen Nation ietzo zur Tugend wird, brutal thun, so sind doch Brutalité und Grobheit längst von den artigen Meißnern und ins besondere denen galanten Leipzigern, ausgejaget, und jene schicket nur dann und wann ihre Agenten und Gevollmächtigten unter uns in der Person eines besoffenen und desperaten Kerls, oder eines vom Wind oder geheimbden Rath grob schwangeren reichen Bürger-Söhngens, oder eines Geld-hungrigen Wucherers. Jch vor meine Person, wünsche mir den Umgang solcher Leute, die wenig complimentiren, mir aufrichtig gewogen sind, und meine Com- [59] plimente nicht vor Fallstricke oder die der wahren Freundschafft zu wider wären, aufnehmen. Leute die starck complimentiren und hernach böse werden, wann man ihnen in complimentiren nachgiebt, oder die in Worten viel Gutes, in der That lauter Böses ihrem Nächsten anthun, oder die sich vor Gelehrte, Polyhistores, Redner und Philosophen halten, wenn sie complimentiren können, oder die sich einer Superiorität über dem andern anmassen, der ihnen höflich begegnet, oder die immer im Superlativo complimentiren, rechne ich unter die einfältigen Schellen-Träger. Folgendes Schreiben wird meine Leser divertiren, wann ihnen irgends mein Urtheilen zu wider gewesen wäre. Selbiges ist aus dem Englischen Spectateur genommen, der es für ein Schreiben eines Abgesandten des Königes in Bantam, an seinen Principal ausgiebt, so er unter der Regierung Carls des II. aus Engelland geschrieben:
Ebene 3► Brief/Leserbrief► Mein Herr,
Die Worte der Leute, bey denen ich mich ietzo befinde, sind so weit entfernet von ihren Gedancken, als Londen von Bantam ist, und du weist, daß die Einwohner einer von diesen Städten nicht wissen, was in der andern vorgeht. Sie heissen dich und deine Unterthanen Barbaren, weil wir so reden, wie wirs [60] meinen, sich selbst aber halten sie vor civilisirte Leute, weil sie viel ein anders reden als sie gedencken. Aufrichtiges Wesen heist bey ihnen Grobheit, Lügen aber und Falschheit nennen sie Politesse. Als ich in dieser Jnsul angeländet, kam ein Engelländer, welcher mich ihm Nahmen des Landes-Herrn complimentiren solte, und sagte: Es wäre ihm leid, daß mich kurtz vor meiner Ankunfft ein Sturm überfallen hätte. Nun gieng es mir nahe, daß er sich meinetwegen bekümmerte, aber es war kaum eine viertel Stunde vorbey, so fieng er an zu lächeln, und schien so lustig, als wann es ihm um mein Unglück nichts gewesen wäre. Ein andrer, der bey ihm war, ließ mir durch meinen Dollmetscher sagen: Er erfreute sich von Hertzen, wann er mir dienen könte, und erböte sich zu allem, was in seinem Vermögen stünde. Doch als ich mich darauf verließ, und ihn bat, meinen Mantel-Sack zu tragen, so lachte er an statt daß er mir hätte dienen sollen, wie er versprochen, und gab das Bündel einem andern zu tragen. Jch hatte mein Zimmer die ersten sieben oder acht Tage bey einem Wirth, der mir sagte, ich solte sein Hauß ansehen als mein eigen, und damit schalten und walten, als wenn ich zu Hause wäre; Deswegen ließ ich, auf diese erhaltene Erlaubniß, des andern Tages eine Mauer daran wegreissen, [61] damit die Lufft einen freyen Zugang hätte ich ließ auch etwas von dem Hauß-Rath einpacken, und wolte dir davon ein Præsent machen. Aber der verfluchte Hund hatte kaum gesehen, was ich vorgenommen, so ließ er mir sagen, ich solte aufhören, denn er könte nicht leiden, daß man einen solchen Unfug in seinem Hause anrichtete. Kurtz darauf hatte ich für jemand bey dem Groß-Schatzmeister, welches der vornehmste Cron-Bediente ist, eine Gnade ausgebeten, und dieser sagte, er wäre mir deswegen unendlich verbunden, und würde sich dessen in Ewigkeit zu erinnern wissen. Jch verwunderte mich höchlich über diese ungemeine Danckbarkeit, daß ich ausbrach: Was kan doch ein Mensch dem andern für einen Dienst leisten, damit er sich denselben auf ewig verbinde? Doch dem sey, wie ihm wolle, ich bat mir dafür aus, er möchte mir, so lange ich hier seyn würde, seine älteste Tochter leihen: aber ich erfuhr bald, daß er eben so falsch wäre, als seine übrige Lands-Leute. Das erste mahl, als ich bey Hofe war, wäre ich bald ungedultig worden, da ein vornehmer Herr mich tausendmahl um Verzeihung bat, daß er mich unversehens auf den Fuß getreten. Dergleichen Art Lügen, nennen sie hier ein Compliment, und wann sie gegen etwas Vornehmes recht höflich seyn wollen, so sagen [62] sie ihm dergleichen erdichtet Zeug vor, deswegen du deinen Staats-Ministers würdest hundert Schläge auf die Fußsolen geben lassen. Jch weiß nicht, wie ich mit diesen Leuten das geringste abhandeln soll, denn man darff sich auf ihre Reden fast gar nicht verlassen. Wenn ich den Schreiber des Königes besuchen will, so sagt man mir gemeiniglich, er sey nicht zu hause, da ich ihn doch manchmahl den Augenblick habe sehen ins Hauß treten. Wann du sie soltest reden hören, so würdest du dencken, es wären lauter Medici, denn ihre erste Frage, die sie mir machen, ist allezeit: Wie ich mich befände? Sonst fragen sie mich also mehr als hundert mahl des Tages. Das ists noch nicht alles: Sie fragen nicht nur nach meiner Gesundheit, sondern sie wünschen mir auch, auf recht prächtige Art, wann ich mit ihnen speise, eine gute Gesundheit mit einem vollen Glase in der Hand, und auf der andern Seite nöthigen sie mich von ihrem Getränck so viel zu trincken, daß ich drüber kranck werden möchte, wie ich schon erfahren. Sie trincken auch wohl mit grosser Ceremonie auf deine Gesundheit, aber ich verlasse mich dabey mehr auf deine gute Constitution, als ihre falsche Wünsche. Könte doch ich, dein getreuer Knecht, frisch und gesund von diesem heuchlerischen Geschlecht sich loß reissen, und so lange leben, sich [63] noch einmahl in deiner Residenz Bantam zu deinen Füssen nieder zu werffen! ◀Brief/Leserbrief ◀Ebene 3 ◀Ebene 2 ◀Ebene 1