Incipit
Jncipit Soliloquium Marie cum Jhesu secundum Gregorium papam et doctorem sanctissimum
Hier beginnt das Zwiegespräch Marias mit Jesus nach
Papst Gregor, dem heiligen Gelehrten
Soliloquium:
Wiki-Link: [Soliloquium als literarische Gattung](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Soliloquium_(literarische_Gattung))
secundum Gregorium papam:
Wiki-Link: [Papst Gregor II](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Gregor_II.)
Prolog
Eyn dinck wil ich nvn sagen hye,
Daz sich vor langer zeit vergye,
Do gotes svn her ihesus christ
Eyn ivnger chnab gewesen ist.
Seyn mueter oft pey ym do saz
Jn rechter lieb, als pylleich waz,
Auch ward in fragen vil vnd vil,
Als ich her nach nvn sagen will.
Ich will euch nun etwas erzählen,
das sich vor langer Zeit ereignete,
als Gottes Sohn, unser Herr Jesus Christus,
ein kleiner Junge war.
Seine Mutter saß damals oft bei ihm
ganz liebevoll, wie es sich gehört,
und fragte ihn vielerlei,
wie ich im Folgenden berichten werde.
vergye (3. Pers. Sg. Präteritum von vergehen): vor sich
ging, geschah
pylleich: billig; im Sinne von: richtig, entsprechend,
angemessen (diese Bedeutung von 'billig' ist auch heute noch in der
Rechtsprache oder in Wendungen wie "etwas billigen" oder "etwas ist recht
und billig" erhalten)
ward in fragen: [sie = Maria] begann ihn zu
fragen
1. Wie bist du mein Kind geworden?
Si sprach zu ym an aynem tag:
„Sag an mein chind, wez ich dich frag,
Wenn aller weysait pist du vol,
Als ich glawb vnd waiz ez wol.
Auch gotes svn du ymmer pist,
der ye do waz vnd ewig ist.
Ich pitt dich an als meinen got,
von dem her gent dew gueten pot,
Dew moyses hie den iuden gab,
Als ich ez wol gelesen hab.
wye du auer mein sun hye seyst,
Des pin ich noch nicht wol geweyst,
Vnd dar vmb sag mir lyebes chind,
Daz ich der warhayt gar enphynd,
Dye nyeman waiz nver du alayn,
Vnd hast von mir doch fleysch vnd payn.“
Her ihesus, als ich schreyb her nach,
Zv seiner lyeben mueter sprach:
„Mein mueter, waz ich sag nvn dir,
Daz scholt du zwar gelawben myr:
Ich pyn vor aller creatur
Eyn wares lyecht vnd eyn figur
Mitt got der alle ding beschueff
Von anegeng an wider rueff.
vnd daz geschach mitt seinem wart,
Daz ich nuer pyn ze aller vart.
Ich pin vor allen dingen ee
vnd ewichleich mit got her ge,
Wenn gotes svn daz ist mein nam,
Do mit ich inde welt her cham.
pey meinem vater waz ich ye
Als er vnd ich wol wizzen wye.
Chain menschs daz nicht ergrunden mag
Mit seiner chunst pey nacht vnd tag:
Er chumpt halt nymmer gar hin an,
Wye vil er waiz bye vil er chan.
Wenn als di schrifft ze lesen geyt,
De gothayt ist vor aller zeyt.
Chayn drum, chayn end, chayn leng,
chayn zil,
Dy gothayt an ir haben wil,
Wenn alle ding sy vber get
Vnd nichtes nicht an sey bestet.
Got vater, ich vnd auch der geyst,
Der alle guete ding beweyst,
Wir drey sein stet in ayner zyr,
Dach drey person daz sag ich dyr.
Ayn gothayt ist vns allen an,
Dy nymant nicht geschayden chan.
Wenn waz der vater wil vnd tuet,
Daz ist dem svn auch lieb vnd guet.
Der heylig geyst ist auch do pey,
Daz nichtes vnderschayden sey.
Wir haben stet nver ainen syn,
Nicht ainer her der ander hyn.
Ayn lyeb, ayn zucht, ayn
guetichayt,
De ist allen vns schon berayt
Halt ayner parmung seyn wir vol,
Do yeder menschs zue hoffen schol.
Wir haben auch nver ain gestalt,
Daz nichtes nicht ist manickvalt.
Recht ayner als der ander ist
An der gestalt ze aller frist.
Eines Tages sprach sie zu ihm:
„Erkläre mir, mein Kind, was ich dich frage,
denn du bist voll von höchster Weisheit,
wie ich glaube oder sicher weiß.
Du bist ja seit jeher Gottes Sohn,
der immer war und ewig sein wird.
Ich bete zu dir als meinem Gott,
von dem die rechten Gebote kommen,
die Moses hier den Juden gab,
wie ich gelesen habe.
Wie du aber mein Sohn geworden bist,
darüber bin ich noch zu wenig unterrichtet,
und daher erkläre es mir, liebes Kind,
damit ich die Wahrheit ganz aufnehmen kann,
die niemand kennt außer dir allein,
der du doch durch mich Fleisch und Glieder hast.“
Wie ich gleich berichten werde,
sprach Herr Jesus zu seiner lieben Mutter:
„Meine Mutter, was ich dir nun sagen werde,
das sollst du mir wahrlich glauben:
Ich bin vor aller Schöpfung
das wahre Licht und von gleicher Gestalt
wie Gott, der alles erschaffen hat
von Anfang an ganz ohne Zweifel.
Und es geschah durch sein Wort,
dass ich für immer existiere.
Ich war vor allen Dingen da
und gehe mit Gott auf ewig einher,
denn mein Name ist ‚Gottes Sohn’,
unter welchem ich auf die Welt kam.
Ich war schon immer bei meinem Vater,
warum, das wissen er und ich genau.
Kein Mensch kann das je ergründen
mit seinem Verstand, weder bei Tag noch bei Nacht;
er kann es eben niemals ganz erfassen,
wie viel er auch weiß und versteht.
Denn wie in der heiligen Schrift zu lesen ist,
gab es die Gottheit schon vor der Zeit.
Kein Ende, keinen Schluss, keine Dauer,
keine Grenze wird die Gottheit jemals haben,
denn sie steht über allen Dingen
und nichts existiert ohne sie.
Gott Vater, ich und der Heilige Geist,
der alle guten Dinge bewirkt,
wir drei sind stets in einer Herrlichkeit,
aber dennoch drei Personen, das sage ich dir.
Alle zusammen sind wir eine Gottheit,
die niemand jemals trennen kann.
Denn was der Vater will und tut,
das ist auch dem Sohn lieb und teuer.
Der Heilige Geist ist auch mit im Bunde,
sodass kein Unterschied zwischen ihnen besteht.
Wir sind immer einer Meinung,
es strebt nicht einer hierhin und der andere dorthin.
Eine Liebe, eine Gesinnung, eine Güte
ist uns allen gemeinsam.
Bloß eine Barmherzigkeit erfüllt uns,
auf die jeder Mensch hoffen soll.
Wir haben auch nur eine einzige Gestalt,
sodass keine Verschiedenheit an uns ist.
Einer sieht genau so wie der andere aus
für alle Zeiten.“
dew: die
pot, bot: Gebote (wie in 'die 10
Gebote')
moyses: Mose(s)
Prophet im Alten Testament, der die Juden aus Ägypten ins
Gelobte Land führte und ihnen im Auftrag Gottes die 10 Gebote überbrachte[Moses](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Moses)
auer: aber
geweyst: (Partizip Präteritum von weisen): unterwiesen,
unterrichtet
payn, pein, bein: Knochen (das Wort 'Beine'
für Knochen gibt es auch heute noch: z.B. in Gebeine, Schlüsselbein, Jochbein)
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
anegeng: Anfang, Beginn
wart, wort: Worte
ze aller vart: immer, zu aller Zeit
bye, wye: wie
geyt: gibt
drum: Ende, Spitze
vber get, überget: überragt
an sey: ohne sie
von beweysen, beweisen, hier: bewirken
zyr, zir: Zier, Zierde, Pracht, Herrlichkeit
dach: doch
geschayden, gescheiden: scheiden (im Sinne von:
trennen)
hier im Sinne von: eine Ordnung, eine Gesinnung
sinngemäß: Die ist uns allen gemeinsam
parmung, barmung: Erbarmen, Gnade, hier im Sinne von:
Barmherzigkeit
von scholen: sollen
frist: Frist, Zeit
2. Warum nur du allein?
Maria schon ir chind an sach
Auch zuchtichleych hyn wider
sprach:
„Meyn liebes chind, ich hór dich wol.
Doch sag mir, wez ich dich fragen schol:
Seyt mit der gothayt hast gemayn,
Wie pist du chomen her alayn,
Daz du di menschayt nemst an dich?
Mayn chind, daz lazz auch wizzen mich!“
Her iesus sprach mit senften mund
Zu seiner mueter an der stund:
„Meyn mutter, dir ist wol bechant,
Daz gotes sun ich pyn genant
Von anegeng vnd ewichleich
dort oben in dem hymelreich.
Seyd ich dann chomen pyn her ab,
Den selbigen nam ich von dir hab,
Daz ich deyn svn pyn auff der erd.
Dez pist du, Rayneu mueter, werd.
Got vater vnd der geyst alayn
Sind in der gothayt mir gemayn.
Wie auer sey der mensch gestalt,
Daz ist auff mein person gezalt.
Wenn nuer alayn ich vnder in
Zu eynem menschen warden pin.
Jch pin deyn sun vnd auch der sein,
Der nam ist ewichleichen mein.
Chain svn chumpt nymmer mer noch mir,
Der an im hab di gotes zir.
Chayn magt gepert auch nymmer mer,
wenn got alayn dir gab di er,
Daz gotes svn buerd hye dein
chind,
dem alle ding gehorsam sind,
De er mit seyner maiestat
von anegeng beschaffen hat.
Maria sah ihren Sohn liebevoll an
und entgegnete ihm respektvoll:
„Mein liebes Kind, ich höre dir genau zu.
So erkläre mir, was ich dich fragen werde:
Da du doch ein Teil der Gottheit bist,
warum bist du allein hierher gekommen,
um dich der Menschheit anzunehmen?
Mein Kind, lass mich auch das wissen!“
Herr Jesus sprach sogleich mit sanfter Stimme
zu seiner Mutter:
„Meine Mutter, du weißt wohl,
dass ich Gottes Sohn heiße
von Anfang an bis in Ewigkeit
dort oben im Himmelreich.
Seit ich herabgekommen bin,
trage ich auch deinen Namen,
sodass ich auf Erden dein Sohn bin.
Dadurch bist du, reine Mutter, auserwählt.
Gott Vater und der Heilige Geist
haben die Göttlichkeit mit mir gemeinsam.
Die menschliche Gestalt
ist jedoch auf meine Person beschränkt,
denn ich bin als einziger von ihnen
Mensch geworden.
Ich bin dein Sohn und auch der seine.
Dieser Rang ist auf ewig mein.
Kein Sohn wird jemals nach mir kommen,
der Gottes Herrlichkeit an sich hätte.
Auch wird keine Jungfrau mehr gebären,
weil Gott dir allein die Ehre zuteil werden ließ,
dass Gottes Sohn hier dein Kind werde,
dem alle Dinge untertan sind,
die er in seiner Herrlichkeit
schon am Anfang erschaffen hat.“
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
zuchtichleych: erfurchtsvoll, respektvoll, höflich (vgl.
das heutige Wort 'züchtig')
von scholen: sollen
anegeng: Anfang, Beginn
werd, wert: wert, wertvoll, würdig, hier im Sinne von:
auserwählt
auer: aber
warden: geworden
zyr, zir: Zier, Zierde, Pracht, Herrlichkeit
magt: Magd, junge Frau, Mädchen, hier im Sinne von:
Jungfrau
Die unterschiedlichen Bezeichnungen für Frau und Mädchen
(Frau, Weib, Magd, Dirne) haben seit dem Mittelalter eine Bedeutungsänderung
durchgemacht. Nähere Informationen finden sich in unserem Wiki:[Vrouwe](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Vrouwe)
buerd, wuerd: hier: werde
anegeng: Anfang, Beginn
3. Warum bist du auf die Welt gekommen?
Maria schon di red auff nam
Mitt aller zucht, als sey wol zam.
Si sprach hyn wider – als man list –
Zu dem vil lieben ihesu christ:
„Meyn chind, ich muzz dich fragen mer:
Nvn warumb pist du chomen her?
Meyn lieber svn, daz tu mir chund,
wenn honyck get auz deinem mund
Auch súezze red de sayst du mir,
Noch alles meynes herczen gyr.“
Her ihesus sprach recht an der
vart:
„mueter, nvn hor meyne wart,
daz ich her ab nvn chomen pyn
Noch meynes vater muet vnd syn,
Daz get nvr von dem menschen zue,
Der nyndert het eyn chlayne rue,
Do gotes pot er vber trat
Mitt freuel in der werden stat.
Daz ist alain daz paradeys,
daz got beschueff Jn allem preys.
Dor inn der mensch betrogen ist
Mitt lysten gar eyn lange frist,
Wenn ia der laydig sathanas
Der trueg dem menschen neyd vnd haz.
Do mit er in auch vber wand,
Auch het in vest in seyner hand.
Der mensch ym nicht entrynnen chund
Vil tausent iar vnd lange stund.
Der veynt dem menschen ser oblag
Ze aller zeyt pey nacht vnd tag.
Schaw, dor vmb pin ich chomen her,
Daz ich den veynt wil pinden ser,
Daz er gar nymen geschaden chan,
der gotes nam wil rueffen an.
Den menschen ich ym zukchen wil
Mitt eynem bunderleychem spil,
Do mitt ich gar den veynt vortreyb
vnd hayl dem menschen Sel vnd leyb.
Er chumpt auch inder Engel schar,
daz sag ich, muetter, dir fúer war.“
Maria hörte ihm gerne mit höchster
Aufmerksamkeit zu, wie es sich gehörte.
Sie erwiderte – wie man liest –
dem lieben Jesus Christ:
„Mein Kind, ich will es noch genauer wissen:
Warum bist du jetzt herabgekommen?
Mein lieber Sohn, erkläre mir das,
denn Honig fließt aus deinem Mund
und süße Worte sprichst du zu mir,
nach denen mein ganzes Herz verlangt.“
Herr Jesus sprach sogleich:
„O Mutter, nun höre meine Worte:
Dass ich jetzt herab gekommen bin
nach der Absicht meines Vaters,
das geschieht nur dem Menschen zuliebe,
der niemals mehr auch nur ein wenig Frieden findet,
seit er Gottes Gebot übertreten hat
durch Sünde an jenem heiligen Ort.
Dabei handelt es sich um das Paradies,
das Gott mit aller Herrlichkeit erschaffen hat.
Darin ist der Mensch betrogen worden
durch Hinterlist eine sehr lange Zeit hindurch,
denn der böse Satan hegte ja
gegenüber dem Menschen Neid und Hass.
Mit deren Hilfe überwältigte er den Menschen
und hatte ihn fest in seiner Hand.
Der Mensch konnte ihm nicht entrinnen
viele tausend Jahre und lange Zeit.
Der Feind unterdrückte den Menschen
fortwährend, Tag und Nacht.
Sieh, deswegen bin ich hergekommen,
damit ich den Feind fessle,
sodass er niemandem schaden kann,
der Gottes Namen anruft.
Den Menschen will ich ihm entreißen
mit einer außergewöhnlichen Tat,
mit der ich den Feind ein für allemal vertreibe
und den Menschen an Seele und Leib gesund mache.
Er wird sogar in die Schar der Engel aufgenommen
werden. Mutter, das sage ich dir wahrheitsgemäß.“
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
sinngemäß übersetzt: wie es sich gehörte (zam: zahm,
ergeben, angemessen)
an der vart: sogleich
wart, wort: Worte
zugehn: näher kommen, geschehen, zuteil werden (hier im
Sinne von: den Menschen zugute kommen/zuliebe geschehen)
nyndert: niemals
pot, bot: Gebote (wie in 'die 10
Gebote')
werden stat: heiliger Ort (werden von : wert, würdig, wertvoll,
heilig; stat von: Stätte, Stelle, Platz, Ort, Stadt)
preys: Preis, Herrlichkeit, Freude
frist: Frist, Zeit
sathanas: Satan, Teufel
Wiki-Link: [Teufelsvorstellungen im Mittelalter](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Teufelsvorstellungen_im_Mittelalter)
oblag (3. Person Präteritum von oblegen): überlegen
sein, siegen (hier im Sinne von: die Menschen unterdrücken)
pinden, binden: binden, fesseln
nymen, nyman, nymant: niemand
zukchen, zücken, zucken: entreißen, entführen, rauben,
wegziehen
bunderleych, wunderleich, wunderlich: wundersam, wunderbar,
außergewöhnlich; bunderleyches spil: wunderbares Spiel (hier im
Sinne von: außergewöhnliche, wunderbare Tat)
vortreyb: vertreib
4. Wie willst du die Menschheit befreien
Maria schon hyn wider sayt:
„Meyn chind, dein red ist mir gemayt,
Sy get von dir gar sawberleych
vnd ist auch aller frewden reych.
Nvn wol mich wart, daz du der
pist,
Der in di welt her chomen ist
Der sych des menschen vnderwind,
Mein got vnd auch meyn lyebes chind!
Doch wie der mensch mog werden frey
vnd vor dem veynt auch ledig sey,
Auch wie der veynt chom in deyn hant,
daz ist mir noch nicht wol bechant.
Daz selbyg laz auch wizzen mich,
Mein lyebes chind, des pitt ich dich!“
Her ihesus sprach: „hor, waz ich sag,
Ich gyb eyn antwurt deyner frag,
Doch schol es dir nicht seyn
zeswer,
wenn zwar ich sag dir scharffew mer:
Den pittern tod ich leyden muez,
Noch mag mir des nicht werden
puez.
Doch wirt mein tod eyn scharffer
stranch
Dem tewfel svnder seynen danch,
Wenn als er mich geczwikchet hat,
So wird ym gar sprechen mat.
Meyn tod wirt ym eyn scharffes sper,
daz er nicht mag noch hyn noch her.
Mein tod wirt ym recht als ein pheyl.
Jch lazz ym halt nicht lenger weyl,
Er muezz hyn dan vor meyner chrafft
Mit aller seyner ritterschafft.
Mein tod der wirt yn nyckchen
schyer,
daz er nycht mer also regnyer,
Recht als er vor des hat getan,
Mit poshayt vber frawen vnd man.
Daz wil ich alles vnder sten
vnd yn mitt grosser macht an gen.
Daz ist alayn der pitter tod,
Vnd darumb ist mein hye gar not,
Daz ich den veynt gar vber wind.
des pyn ich warden hye deyn
chind.“
Maria antwortete ihm:
„Mein Kind, deine Worte machen mich froh,
sie kommen so rein aus dir
und sind auch reich an höchsten Freuden.
Welches Glück für mich, dass du derjenige bist,
der hierher in die Welt gekommen ist
und sich des Menschen annimmt,
mein Gott und zugleich mein liebes Kind!
Doch wie der Mensch befreit werden
und den Feind loswerden kann
und wie der Feind in deine Hand fallen soll,
das weiß ich noch nicht genau genug.
Lass mich auch das wissen,
mein liebes Kind, darum bitte ich dich!“
Herr Jesus sprach: „Höre, was ich sage!
Ich will dir deine Frage beantworten,
doch möge dich das nicht zu schwer treffen,
denn ich sage dir wahrlich eine grausame Nachricht:
Ich muss den bitteren Tod erleiden,
was mir nicht erspart bleiben kann.
Doch fraglos wird mein Tod
ein starker Strick sein für den Teufel.
Denn sobald er mich festgenagelt hat,
werde ich ihn ‚schachmatt‘ setzen.
Mein Tod wird für ihn zu einem spitzen Speer,
sodass er weder vor noch zurück kann.
Mein Tod wird für ihn regelrecht ein Pfeil.
Ich gebe ihm keine Zeit mehr,
er muss dann vor meiner Kraft zurückweichen
mit seinem gesamten Gefolge.
Mein Tod wird ihn sogleich unterwerfen,
sodass er nicht mehr in der Weise herrschen kann
über Frauen und Männer, wie er es zuvor getan hat,
mit seiner Böswilligkeit.
Das alles werde ich unternehmen
und ihn mit großer Macht angreifen.
Das ermöglicht nur der bittere Tod,
und deshalb werde ich hier dringend gebraucht,
damit ich den Feind völlig besiege.
Dazu bin ich hier dein Kind geworden.“
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
gemayt, gemeit: froh, freudig, angenehm
sawberleych, sauberlich, säuberlich: sauber, rein,
schön, hübsch, anständig
wart, wort: Worte
vnderwinden, underwinden: sich um jmd./etw. kümmern,
sich annehmen
ledig: befreit sein von, ungebunden, unbelastet; auch:
unverheiratet (in dieser Bedeutung gibt es das Wort 'ledig' noch
heute)
von scholen: sollen
zeswer, ze swer: zu schwer
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
scharff, scharf: scharf, hart, streng, schwierig,
grausam; mer, maere: Geschichte, Erzählung, Rede, Angelegenheit, Botschaft, Bericht
(hier im Sinne von: grausame Botschaft, schlechte Nachricht)
Über den Terminus 'Märe' als literarischen
Gattungsbezeichnung informiert unser Wiki: [Märe](http://143.50.35.73/wiki/index.php/M%C3%A4re)
puez, bueze + werden: etw. loswerden, sich befreien
(hier im Sinne von: erspart bleiben)
scharff, scharf: scharf, hart, streng, schwierig, grausam;
stranch: Strang, Strick (hier im Sinne von: ein starker
Strang/Strick für den Teufel, um ihn zu erhängen, in den nächsten Zeilen finden sich
weitere ähnliche Vergleiche mit Speer und Pfeil)
sprechen + mat: jmd. (schach-)matt setzen
pheyl, pfeil: Pfeil
nyckchen, nicken: den Kopf senken, unterdrücken, bedrängen,
stoßen;
schyer, schier: sofort, gleich, schnell, leicht, geradewegs;
hier sinngemäß: sogleich unterwerfen
also: so, in dieser Weise;
regnyer von regnieren, regieren: regieren, herrschen;
beherrschen
vnder sten, understen: verhindern, abwenden, aufhalten,
beenden
sinngemäß: das ermöglicht nur der bittere Tod
wörtlich: ist mein Hiersein sehr notwendig; sinngemäß: werde
ich hier dringend gebraucht
warden: geworden
5. Erste Klage
Maria gar vil hart ercham,
do sy di scharffen red vernam.
Si sprach: „we, hewt vnd ymmer mer,
deyn red ist mir recht als eyn sper,
Si ist mir halt recht als eyn pheyl
Jn meinem herczen zeit vnd weil.
Scholt du verderben, als du sayst,
daz ist vor allem layd daz mayst.
Ach, chind, waz hor ich hewt von dir,
wenn scharffew mer de sayst du
mir !
Deyn red ist mir eyn grozzer slag,
den ich nicht wol vordulden mag.“
Herr iesus sprach: „ym ist also,
wenn zwar es stet geschriben do,
Daz ich ersterben muez alayn
Gar pitterleych fur di gemayn.
Gedenck, mein mueter, an dy wart,
De zu dir sprach ze ayner vart
Herr symeon, der heylig man,
der mich do sach mit frewden an.
Jn gotes tempel daz geschach,
vnd er also zu dir do sprach:
‚Nym war, dich stechen wirt eyn swert
vnd grozzes layd an dir gemert.‘
Daz waz nicht anders wann di zeyt,
So mir der pitter tod an leyt.
Daz tuet dir in deinem herczen we,
vncz daz ich von dem tod erste.
vnd daz geschyecht, als ich dir sag,
Gewisleich an dem dritten tag.
Nicht lenger lyg ich in der erd,
daz auch di tat volchomen werd,
Dye Jonas schon bedewtet hat
mitt seyner bunderleychen tat:
Den gar eyn visch in sich versland,
vnd man yn doch gesvnten vand
Schon an dem dritten tag,
daz ym halt nye ayn laid geschach.
Also wirt auch geschechen mir.
daz sag ich, lyebe mueter, dir.“
Maria war zutiefst entsetzt,
als sie diese schmerzlichen Worte hörte.
Sie rief: „Weh, heute und immerdar,
deine Rede trifft mich gerade so wie ein Speer,
sie ist für mich wie ein Pfeil
in meinem Herzen für alle Zeit.
Wenn du dein Leben lassen musst, wie du sagst,
so ist das für mich das allergrößte Leid.
Ach, mein Sohn, was höre ich heute von dir,
denn du erzählst mir grausame Dinge!
Deine Worte sind für mich ein schwerer Schlag,
den ich kaum ertragen kann.“
Herr Jesus sprach: „Es ist eben so,
denn es steht wahrhaftig geschrieben,
dass ich als Auserwählter auf ganz elende Weise
für die Allgemeinheit sterben muss.
Meine Mutter, denke an die Worte,
die einst Herr Simeon,
der heilige Mann, zu dir sagte,
der mich damals voll Freude betrachtete.
Das geschah in Gottes Tempel,
und er sagte dort zu dir:
„Merke, es wird dich ein Schwert durchbohren
und sich großes Leid bei dir häufen.“
Das meinte nichts anderes, als dass die Zeit kommen
werde, da der bittere Tod mich ereilt.
Das schmerzt dich im Herzen,
bis ich vom Tod auferstehe.
Und das wird ganz gewiss am dritten Tag geschehen,
wie ich dir sage.
Nicht länger werde ich in der Erde ruhen,
damit auch das Ereignis sich erfülle,
das Jonas schon angedeutet hat
mit seiner wundersamen Tat:
Ihn verschlang ein Fisch ganz und gar,
und doch fand man ihn gesund wieder
schon am dritten Tag,
und es ist ihm keinerlei Leid geschehen.
So wird es auch mir ergehen.
Das sage ich dir, liebe Mutter.“
von erchomen, erkomen: über etwas erschrecken
scharff, scharf: scharf, hart, streng, schwierig,
grausam
pheyl, pfeil: Pfeil
verderben: verderben, zu Grunde gehen (hier im Sinne
von: sterben)
scharff, scharf: scharf, hart, streng, schwierig, grausam;
mer, maere: Geschichte, Erzählung, Rede, Angelegenheit,
Botschaft, Bericht (hier im Sinne von: grausame Botschaft, schlechte Nachricht)
Über den Terminus 'Märe' als literarische
Gattungsbezeichnung informiert unser Wiki: [Märe](http://143.50.35.73/wiki/index.php/M%C3%A4re)
vordulden, verdulden: erdulden, zulassen, hinnehmen,
ertragen
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
di gemayn: die Allgemeinheit
wart, wort: Worte
symeon: Simeon, Prophet im Neuen Testament
(Lukasevangelium)
Wiki-Link: [Simeon](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Simeon)
von gemeren: vermehren, vergrößern, (an-)häufen
von anlegen: hier im Sinne von: ereilen, über einen
kommen
vncz, uncz, unz: (solange) bis
bunderleych, wunderleich, wunderlich: wundersam,
wunderbar, außergewöhnlich
von verslinden: verschlingen, verschlucken
Jonas: Prophet im Alten Testament
Wiki-Link: [Jonas](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Jonas)
6. Gibt es keine andere Lösung?
Maria sprach hyn wider schon:
„mein chind, dein red geyt suzzen
don.
Sy ist halt auz dermazzen zart.
nvn wol mich hewt vnd ymmerwart,
Wenn ich vernamen hab von dir,
daz du ersten wirst also schyer.
Wenn anders wer mein leben chranck
auch zeit vnd weyl wer mir zlanck.
Doch sag mir, liebes chind, noch mer,
des ich dich frag mitt grozzer
er:
Nvn chund es anders nicht geseyn,
nur du muest leyden hye di peyn,
Auch sterben fur des menschen schuld,
do mitt er chem zu gotes huld?“
Her ihesus sprach gar schon zu
yr:
„hor, mueter, waz ich sag nun dir:
Meyn vater, der gewaltig ist
Jn allen dingen, als man list,
Der hyet wol funden eynen syn,
do mitt der mensch wer chomen
hyn.
Doch zam yn des wol recht vnd
guet,
daz ich vergyessen scholt meyn
pluet,
Recht als ein lamp an allez mayl,
auch sterben fúr des menschen hayl.
Do mit vorlewst der veynt seyn
recht,
daz er do het zu gotes chnecht.
Daz ist her Adam nur alayn
vnd seyn geslecht mitt der
gemayn,
Fur dy ich schol vnd leyden wil
der smachayt
auz der mazzen vil.
Jch muezz vortragen neyd vnd haz
von aller welt an vnderlaz,
Als lang vncz ich dy marter
leyd.
so hat ein end der Juden neyd.
Vnd als ich an dem chrewcz nvn hang,
daz mir derplaychent mayne wang,
So wirt man meyn dann spoten vil
mit ytwicz vnd mit kawkel spil.
Der tewfel wartet meyner Sel,
vnd pin es doch emanuel,
Der in de weld her chomen pin.
in rechter maynung auff den sin,
Daz ich mein volchk derlosen
wolt
mit meynem pluet vnd nicht mit golt.“
Maria entgegnete ihm:
„Mein Sohn, deine Rede klingt süß.
Sie ist unermesslich sanft.
Glücklich bin ich heute und für immer,
denn ich habe von dir gehört,
dass du so bald auferstehen wirst.
Sonst wäre nämlich mein Leben zerstört
und jede Stunde und Minute würde mir zu lang werden.
Doch sage mir, mein lieber Sohn, noch weiter,
was ich dich mit großer Ehrerbietung frage:
Könnte das nicht auf andere Weise geschehen,
als dass du hier auf Erden Qualen erleiden
und sogar sterben musst für die Schuld des Menschen,
damit er Gottes Gnade erlangen kann?“
Herr Jesus sprach ganz sanft zu ihr:
„Höre, Mutter, was ich dir nun sage.
Mein Vater, der mächtig
in jeder Hinsicht ist, wie man liest,
der hätte wohl noch einen Weg gewusst,
wie der Mensch Gnade erlangen könnte.
Jedoch schien es ihm gut und richtig,
dass ich mein Blut vergießen soll
wie ein Lamm, das frei von jedem Makel ist,
und dass ich für das Heil des Menschen sterben soll.
Dadurch verliert der Feind seinen Rechtsanspruch,
den er auf den Diener Gottes hatte.
Es ist einzig Herr Adam
zusammen mit seinem Geschlecht,
für die ich so außerordentlich viel
Schmach erleiden soll und will.
Ich muss unablässig die Bosheit und den Hass
der ganzen Welt ertragen,
so lange ich gemartert werde.
Damit findet die Gehässigkeit der Juden ihr Ende.
Und wenn ich dann am Kreuz hänge,
wenn meine Wangen erbleichen,
dann wird man über mich viel spotten
mit Schmähung und Verhöhnung.
Der Teufel lauert auf meine Seele,
aber ich bin Emanuel
und auf die Welt herab gekommen
ganz mit der Absicht und dem Ziel,
mein Volk zu erlösen
mit meinem Blut und nicht mit Gold.“
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
geyt: gibt
hewt vnd ymmerwart: heute und für immer
schyer, schier: sofort, gleich, schnell, leicht,
geradewegs; also schyer: so schnell
zlanck, ze lanck: zu lange
mitt grozzer er: mit großer
Ehrfurcht/Ehrerbietung
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
hyet: hätte
hier im Sinne von: einen Weg, eine Möglichkeit
wer chomen hin: wörtlich: hingekommen wäre; sinngemäß: erlöst
worden wäre (gemeint ist der Weg zur Erlösung)
von zemen: hier: gefallen (im Sinne von
richtig/sinnvoll erscheinen)
von scholen: sollen
vorlewst, verleust: verliert
Adam: laut Bibel Stammvater aller Menschen
Wiki-Link: [Adam](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Adam)
sinngemäß: gemeinsam mit (seinem Geschlecht)
von scholen: sollen
smachayt, smacheit: Schmach, Schande, Kränkung,
Beschimpfung, Verachtung
auz der mazzen, ausdermazzen: außerordentlich
vortragen, vertragen: vertragen, ertragen,
aushalten
vncz, uncz, unz: (solange) bis
derplaychent, (d)erbleichent: erbleichen, bleich
werden
ytwicz, itwiz: Vorwurf, Kränkung, Schande,
Demütigung
kawkel spil: wörtlich Gaukler-/Narrenspiel (hier im
Sinne von: Verhöhnung)
Emanuel: Emanuel (hebr. Immanuel) bedeutet 'Gott
ist mit uns'. Der alttestamentarische Prophet Jesaia verkündete, dass eine Jungfrau
einen Sohn gebären und ihm den Namen Emanuel geben werde. Der Evangelist Matthäus setzte
Jesus in Verbindung mit dieser Prophezeiung, um zu zeigen, dass sie erfüllt sei.
Wiki-Link: [Immanuel](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Immanuel)
sinngemäß: mit genau der Absicht zu dem Ziel
derlosen: erlösen
7. Zweite Klage
Do christus daz vnd mer gesprach,
so schullt ir horen waz geschach.
Maria sprach: „ach, we meyner
zeyt,
wenn angst vnd nott mir anleyt.
Ach, we, ach, we vnd ymmer we,
ich lig, ich sicz, ich ste, ich ge,
Der red ich nicht vergessen mag,
dye weil ich leb, nuer aynen tag.“
Her christus sprach: „ym ist also,
wenn zwar es stet geschriben do,
Daz ich muez leyden hye di peyn.
es mag halt anders nicht geseyn.
Wenn dorvmb pin ich chomen her,
daz ich volpringen wil di ler,
Dye dem propheten ist bechant,
der ysaias ist genant.
Der selbig schraib also von mir,
daz yezund ich wil sagen dir:
Er wird geslagen also ser,
daz man daz pluet syecht flyessen her.
Er wirt verspuczet also gar,
daz er muez werden vngevar
Recht als eyn sundersyecher man,
der von den lewten muez hin dan.
Mein chrewcz ich selber tragen muez
auff meynem ruck mit muedem fuez,
Vncz daz ich chum hin an de stat,
do man dy schelkch
vorderbet hat.
Jch pin als ayner vnder in,
wye wol ich doch vnschuldig pin.
Doch scholt du haben ryngen muet,
wenn zwar es wirt dir alles
guet,
Daz ich den menschen haylen will,
auch gar seyn nott schol
haben Zyl.“
Als Christus das und noch mehr gesagt hatte,
hört, was dann geschah.
Maria sprach: „Weh über mein Leben,
denn Angst und Verzweiflung kommen über mich.
Weh, weh und immer weh!
Ob ich liege oder sitze, stehe oder gehe,
diese Worte kann ich nicht für einen einzigen Tag
vergessen, so lange ich lebe.“
Herr Christus sagte: „Ja, das ist so,
denn es steht wahrhaftig geschrieben,
dass ich dieses Leid hier erdulden muss.
Es kann eben nicht anders sein.
Denn dazu bin ich hierher gekommen,
weil ich die Ankündigung erfüllen will,
die dem Propheten bekannt ist,
der Jesaias heißt.
Er schrieb Folgendes über mich,
das ich dir jetzt sagen will:
Er wird so sehr geschlagen werden,
dass man das Blut herabströmen sieht.
Er wird so heftig angespuckt werden,
dass er verunstaltet wird
wie ein aussätziger Mensch,
der von den Leuten entfernt werden muss.
Mein Kreuz muss ich selber tragen
auf meinem Rücken mit müdem Fuß,
bis ich an den Ort komme,
wo man die Verbrecher hinrichtet.
Ich bin wie einer von ihnen,
obwohl ich doch unschuldig bin.
Doch du sollst ein wenig Hoffnung haben,
denn es wird ganz bestimmt alles gut,
sodass ich den Menschen retten werde
und seine ganze Not ein Ende haben wird.“
von scholen: sollen
sinngemäß: weh über mein Leben
von anlegen: hier im Sinne von: ereilen, über einen
kommen
sinngemäß: solange ich lebe
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
Jesaia: Prophet im Alten Testament
Wiki-Link: [Jesaia](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Jesaia)
yezund: jetzt, nun
verspuczet: angespuckt
hier: hässlich, verunstaltet
sundersyecher, sundersiecher man: Aussätziger, am
Aussatz erkrankter Mann
Aussatz ist ein anderes Wort für Lepra. Leprakranke
wurden wegen der Ansteckunsgefahr vom Rest der Bevölkerung getrennt. [Aussatz](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Aussatz)
von schelc, schalc: Diener, Knecht, Bösewicht, Schuft
(hier im Sinne von: Verbrecher)
Das Wort Schalk gibt es immer noch, allerdings in
abgeschwächter Bedeutung: Als Schalk bezeichnet man heute einen eher harmlosen Übeltäter
oder Spötter, der gerne mit anderen seine Späße treibt. Die Redewendung 'den Schalk
im Nacken haben' bedeutet, man ist zu Späßen aufgelegt.
von vorderben, verderben: hier: hinrichten
von scholen: sollen
sinngemäß übersetzt: ein wenig Hoffnung
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
von scholen: sollen
hier: ein Ende haben
8. Was geschieht mit deiner Seele nach dem Tod?
Maria sprach: „dein red ist zart,
mein lyebes chind zealler vart.
Doch sag mir, herczen lieber sun,
des ich dich frag an allen grun:
So wenn du nvn gestarben pist
an deynem chrewcz, meyn ihesu christ,
Wo chumpt deyn lyebe Sel dan hyn?
meyn liebes chind, sag mir den syn!“
Her ihesus schon hin wider
sprach,
als ich wil sagen nvn her nach:
„So wenn mein Sel get von mir,
als wye ich will, daz sag ich dir,
So chumpt sy in dy hell hin ab.
der leychnam leyt in eynem grab.
De gothayt zu der Sel hin get
gwaltichleych vnd pey ir stet.
Als nun die Sel chumpt in di hell,
Dy selben ich also derschell
Mitt eynem vber grozzen saws,
daz allen veynten wirt eyn graws.
Sey trucz daz sich ir ayner ruer,
wenn ich ir chrafft also zefuer
Vnd auch so chrefftichleychen pind,
daz gar ir chrafft ist als ein wind,
Der nyeman gar geschaden mag,
so wenn vnchrefftig ist sein slag.
Mein volck daz nym ich her zu mir
vnd pryng es gar mit grosser zyr
Jn daz vil wunsam paradeys.
do hat es vber grossen preys.
Do werdent sy meyn warten schon
mit frewden vmb den ewigen lon,
Vncz daz ich in den hymel var
mit meyner auzderwelten schar.
Jch pryng se meym vater zue,
do wirt yn auch di ewyg rue.“
Maria sprach: „Du drückst dich immer
sehr behutsam aus, mein liebes Kind.
Doch erkläre mir, liebster Sohn,
was ich dich ohne zu klagen frage:
Wenn du nun also gestorben bist
an deinem Kreuz, mein Jesus Christus,
wohin gelangt dann deine Seele?
Mein liebes Kind, sag mir, was du dazu weißt!“
Herr Jesus entgegnete ihr freundlich,
wie ich nun im Folgenden berichten will:
„Wenn meine Seele aus mir entweicht,
wie ich es mir wünsche – das möchte ich dir sagen –,
dann steigt sie in die Hölle hinab.
Mein Leichnam liegt in einem Grab.
Die Gottheit wendet sich der Seele
machtvoll zu und steht ihr bei.
Wenn nun die Seele in die Hölle kommt,
werde ich diese mit einem gewaltigen Krachen
zum Bersten bringen, sodass alle bösen Feinde
in Angst und Schrecken versetzt werden.
Und wehe, wenn sich einer von ihnen regt,
wenn ich ihre Gewalt auf diese Weise zerschlage
und sie so stark fessle,
dass ihre ganze Kraft wie ein Windhauch ist,
der überhaupt niemandem Schaden zufügen kann,
weil sein Druck ganz kraftlos ist.
Mein Volk aber hole ich zu mir her
und führe es mit überaus großer Pracht
in das wonnevolle Paradies.
Dort gewinnt es unermesslich große Freude.
Sie werden dort frohgemut auf mich warten
voll Freude über den ewigen Lohn,
bis ich in den Himmel auffahre
mit meiner Schar von Auserwählten.
Ich führe sie zu meinem Vater,
wo ihnen auch die ewige Ruhe zuteil wird.“
ze aller vart: immer, zu aller Zeit
sinngemäß übersetzt: ohne jede Klage
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
leyt: liegt
von derschellen, erschellen: erzittern lassen,
zerschmettern
saws, saus: Krachen, Brausen, Lärm
von ze(r)füeren: zerstören, vernichten, zunichte
machen
pinden, binden: binden, fesseln
zyr, zir: Zier, Zierde, Pracht, Herrlichkeit
wunsam, wunnesam: herrlich, prächtig
preys: Preis, Herrlichkeit, Freude
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
9. Werde ich dich wiedersehen?
Maria sprach: „meyn lyebes chind,
dein red ist ausdermazzen
lind,
Doch sag mir noch, wes ich dich frag
mit aller andacht. an dem tag,
Als du nvn von dem tod er stest
vnd von dem grab mit lob her gest:
Wirst du dich icht erzaygen mir
in deyner frewden reychen zir,
Do mitt meyn trawren hyn
verswind?
daz sag mir, herczen lyebes chind!“
Her iesus schon hyn wider
sprach
vnd sey mitt grozzer lieb an sach.
Er sprach: „als pald vnd ich erste,
des ersten ich zu dir hin ge.
Mit grozzer zir ich dir der
scheyn,
daz dir vertreyben schol dein
peyn.
Du wirst auch grosser frewden vol,
des zymt dich, lyebe mueter,
wol.“
Maria sprach: „Mein lieber Sohn,
deine Rede ist unendlich wohltuend,
doch sage mir noch mehr, wonach ich dich
voll Andacht frage. An dem Tag,
an dem du nun vom Tode auferstehst
und ehrenvoll aus dem Grab steigst –
wirst du dich mir zeigen
in deiner glückseligen Pracht,
damit meine Trauer vergeht?
Das sage mir, herzliebstes Kind!“
Herr Jesus entgegnete ihr ruhig
und sah sie in großer Liebe an.
Er sagte: „Sobald ich auferstehe,
werde ich als erstes zu dir gehen.
In voller Herrlichkeit werde ich dir erscheinen,
das soll dir dein Leid vertreiben.
Du wirst ebenso große Freude empfinden –
das verdienst du, liebe Mutter, wahrhaftig.“
auz der mazzen, ausdermazzen: außerordentlich
lind: weich, zart, sanft, mild, leicht; hier im Sinne
von: wohltuend
icht: irgendwie, etwa, vielleicht
zyr, zir: Zier, Zierde, Pracht, Herrlichkeit
trawren, trauren: Trauern
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
zyr, zir: Zier, Zierde, Pracht, Herrlichkeit
von scholen: sollen
hier: steht dir zu
10. Wie lange bleibst du nach der Auferstehung auf der Erde?
Maria sprach mit aller zucht:
„noch sag mir, herczen liebe frucht,
So wenn du nvn erstanden pist
von deynem tod, als man list:
Wye lang beleybest auff der erd,
de deyner tugent ist vnwerd?“
Her iesus schon hin wider sayt,
auch mitt der antwurt waz berayt:
„So wenn ich nun erstanden pin,
auch hab den tod vertriben hin,
Sechs wochen ich noch hye beleib
vnd auch di zeyt also vertreib,
Daz ich zu meinen ivngeren ge
vnd se mit guetter red beste.
Jch sag yn allen meynen syn,
auch tugentleichen red mit yn.
Der heylig geyst chumpt auch in sew,
der yn ir hercz also vernew,
Daz sy do lauffent hyn vnd her,
auch chunden aller welt meyn er,
Halt waz vor langer zeit geschach,
vnd auch geschechen schol
hernach.
Daz wirt yn alles werden chund,
wenn ich es gyb in yren mund.
Noch dem wird ich dann varen auff
gewaltichleich mit vollem lauff
Zu meynem vater in daz reych,
dor ynn er wonet ewichleich.“
Maria sprach voll Respekt:
„Sag mir noch etwas, herzliebste Leibesfrucht:
Wenn du nun also auferstanden bist
nach deinem Tod, wie man liest,
wie lange bleibst du auf der Erde,
die doch deiner Tugend nicht würdig ist?“
Herr Jesus entgegnete ihr
und antwortete bereitwillig:
„Wenn ich dann auferstanden bin
und auch den Tod vertrieben habe,
werde ich noch sechs Wochen hierbleiben
und die Zeit damit verbringen,
dass ich zu meinen Jüngern gehe
und ihnen mit guten Worten beistehe.
Ich gebe ihnen allen mein Wissen weiter
und baue sie moralisch auf.
Der Heilige Geist wird auch über sie kommen,
der ihnen ihr Herz so erneuern soll,
dass sie daraufhin in alle Richtungen auseinander eilen
und aller Welt meinen Ruhm verkünden,
nämlich, was sich vor langer Zeit ereignete,
und auch, was danach geschehen wird.
Das alles wird ihnen geoffenbart werden,
wenn ich es in ihren Mund lege.
Danach werde ich auffahren
machtvoll in großer Eile
zu meinem Vater in das Reich,
in dem er ewig wohnt.“
sinngemäß: mit höchster Aufmerksamkeit, mit größtem
Respekt
schon: schön, gut, freundlich, liebevoll
ivngerern: Jüngern
Als Jünger werden die Anhänger Jesu bezeichnet, allen
voran die 12 Apostel. Wiki-Link: [Jünger](http://143.50.35.73/wiki/index.php/J%C3%BCnger)
von besten, beisten: beistehen, helfen
sinngemäß übersetzt: baue sie moralisch auf
von vernewn, verneuen: erneuern, verjüngen, wieder
aufbauen
von scholen: sollen
sinngemäß: in großer Eile
11. Was soll ich ohne dich machen?
Maria sprach noch mer zu ym:
„meyn liebes chind, mein red vernym:
Als du nvn in dem hymel pist
pey deynem vater alle frist,
Wem wild du mich dann lazzen hye?
ez wurd mir gen, ich wayz nicht wye,
Jch hinder dir nicht wol beleyb.
wenn zwar ich wurt eyn armes
weyb,
Scholt ich von deynen augen
seyn,
daz wurd mir gar eyn grosse peyn.“
Her christ sprach: „nicht red also,
wye wol ich dort pin anderswo,
Der heylig geyst dein troster ist
an aller stat recht, wo du pist.
Wenn aller trostung ist er vol
vnd chan ez auzdermazzen wol,
Recht wie er wil noch seinem
muet.
Dy red sey deynem herczen guet!”
Maria sprach noch weiter zu ihm:
„Mein liebes Kind, höre meine Frage:
Wenn du dann im Himmel bist
bei deinem Vater für immer,
wem willst du mich dann hier überlassen?
Es würde mir – ich weiß nicht, wie – ergehen!
Nach deinem Abschied würde es mir nicht gut gehen.
Denn ich würde wahrhaftig eine armselige Frau werden,
sollte ich deinem Blick entschwinden;
das würde für mich sehr großes Leid bedeuten.“
Herr Christus sprach: „Sag das nicht!
Obwohl ich dort an einem anderen Ort bin,
wird der Heilige Geist dein Tröster sein
überall, wo du auch weilen wirst.
Denn er ist reich an Trost
und spendet den unendlich gut,
ganz so, wie er das will und beabsichtigt.
Seine Worte mögen deinem Herzen gut tun!
frist: Frist, Zeit
wörtlich: ich bliebe hinter dir nicht wohl (zurück);
sinngemäß: nach deinem Abschied würde es mir schlecht gehen
zwar: wirklich, wahrhaftig, sicher
von deynen augen seyn: aus deinen Augen sein
an aller stat: an jedem Ort, überall
noch seinem muet: nach seiner Absicht; sinngemäß: so,
wie er es will
12. Wirst du mich zu dir holen?
Maria sprach: „mein trost ist chlayn,
ich sey dann nur pey dir alayn!
Vnd dar vmb frag ich dich noch mer,
wirstu icht auer chomen her,
Daz du mich nemmest hin zu dir?“
wenn daz ist alle meyn begyr.“
Her christus sprach recht ander
stund:
„ich tue dir, liebe mueter, chund,
So wenn dein leben hat eyn zyl, [Hörprobe](/o:lima.6/AUDIO_1)
mit frewden ich dir chomen wyl,
Auch nemmen wil deyn rayne sel.
de schol der lyeb sand michahel
Schon auff belayten in de stat,
de dir mein hant berayttet hat.
Daz ist in meynes vater haus,
do nyman wirt getriben aus.
Mit sel vnd leyb chumpst du do
hin,
wenn ich des wol gewaltig pin.“
Maria sagte: „Mein Trost wird schwach sein,
außer ich bin bei dir!
Und daher frage ich dich noch weiter:
Wirst du denn hierher zurückkommen,
damit du mich zu dir mitnimmst?
Das ist nämlich mein allergrößter Wunsch.“
Herr Christus sagte sofort:
„Liebe Mutter, ich verspreche dir,
wenn dein Leben zu Ende ist,
werde ich mit Freuden zu dir kommen
und deine reine Seele in Empfang nehmen.
Die soll der liebe heilige Michael
hinaufbegleiten an den Ort,
den ich dir eigenhändig vorbereitet habe.
Das ist das Haus meines Vaters,
aus dem niemand verstoßen wird.
Mit Leib und Seele wirst du dorthin gelangen,
weil ich wahrhaftig die Macht dazu habe.“
sinngemäß übersetzt: es sei denn, ich bin bei
dir
auer: aber
ander stund, an der stund: sofort, sogleich
von scholen: sollen
sand michahel: Heiliger Michael
Gemeint ist der Erzengel Michael, der die Seelen der
Verstorbenen ins Jenseits begleitet.[Heiliger Michael](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Heiliger_Michael)
nymen, nyman, nymant: niemand
sel vnd leyb: Es gilt als christliches Dogma, dass
Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren ist.
[Marienleben](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Marienleben)
Epilog
Secht, noch der red, als ich hye sag,
maria tet nicht mer eyn frag.
Also nam auch dy red eyn end.
got allen chvmmer vns verwend,
Auch geb daz wyr yn sehen an,
den nyeman gar volloben chan.
Also sprach Andre churczman.
Amen.
Seht, nach diesen Worten – wie ich hier sage –
stellte Maria keine weitere Frage mehr.
So endete das Gespräch.
Gott möge alles Leid von uns abwenden
und gebe, dass wir auf ihn blicken,
den niemand genug preisen kann.
So sprach Andreas Kurzmann.
Amen.
volloben: angemessen preisen, genügen
rühmen/loben
Andreas Kurzmann: der Verfasser des
Soliloquiums
Wiki-Link: [Andreas Kurzmann](http://143.50.35.73/wiki/index.php/Andreas_Kurzmann)