Rezension von: P. Klöppel: Stat und Gesellschaft. Gotha
1887, in: Deutsche Litteraturzeitung, Jahrgang 1887, Nr. 36, S. 1283-1285.
[Rezension:] P. Klöppel: Stat und Gesellschaft.
[...] Gotha, F. A. Perthes, 1887.
XVI u. 450 S. gr. 80. M. 8.
[...] Gotha, F. A. Perthes, 1887.
XVI u. 450 S. gr. 80. M. 8.
Ref. begrüßt mit großer Befriedigung im
Verf. einen wackeren Vertreter des Positivismus in der Statslehre, der den Mut
hat, angeblich „liberale“ Dogmen des in den
Lehrbüchern noch
herschenden constitutionellen Statsrechts über Bord zu werfen und die Erscheinungen
in Stat und Gesellschaft beim rechten Namen zu nennen, was doch die erste
Voraussetzung jedes wissenschaftlichen Strebens und Forschens ist. Verf. gibt uns im
vorliegenden Buch den Umriss eines vollständigen Systems des allgemeinen Statsrechts
oder, wenn man will, der Stats- und Rechtsphilosophie. In drei Büchern: „Wirtschaft
und Gesellschaft“, „Recht und Stat“ und „Ordnung der Gesellschaft“ zeigt er uns den
Aufbau des States auf wirtschaftlicher Grundlage, die Entstehung des Rechts als
Ordnung der Gesellschaft und die Mängel der heutigen Ordnung, welche in der Zukunft
beseitigt werden müssen. Ref. glaubt am besten zu tun, wenn er die grundlegenden
Sätze des Verfs. mit dessen eigenen Worten anführt.
Ueber die „vermeintlichen Grundpfeiler der Menschenrechte“,
d. i. über die Sätze: „von Natur sind alle Menschen gleich“ und „von Natur sind alle
Menschen frei“, äußert sich Verf.: „Wie vermessen oder frevelhaft es klingen mag,
diesen Adelsbrief der Menschheit preiszugeben – die geschichtliche Einsicht in den
Entwicklungsgang der Menschheit muss jene Sätze in ihr gerades Gegenteil verkehren“
(S. 8). Neben dem „
wirtschaftlichen Eigentum“, welches als
„Zueignung des freien Naturstoffes durch eigene Arbeit“ entsteht, spielt das „
gesellschaftliche Eigentum“ eine viel bedeutendere Rolle.
Dieses aber entsteht „
als Aneignung des Ertrages fremder
Arbeit“ (S. 41). Diese Aneignung geschah zu Zeiten im offenen Kampfe, also
gewaltsam; „zu einer andern Zeit mag man die gewaltsame Aneignung höchst verwerflich
finden, während man
andere, nicht minder wirksame Weisen
gesellschaftlicher Aneignung arglos als gutes Recht in Anspruch nimmt und gelten
lässt“ (42). „Alles Eigentum an Grund un Boden“ aber, fügt Verf. an
späterer Stelle hinzu, „ist seinem Ursprunge nach
gesellschafltich“ (66). Auch der „wirtschafltiche Großbetrieb“, der sich im
Creditverkehr bewegt, „streift selbst die letzten Spurgen
wirtschaftlicher
Verrichtung ab und wird zum Hebel rein
gesellschaftlicher Ausbeutung“ (111). „Der Grundzins
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ist
also in nichts besser, aber auch in nichts schlechter als der Capitalzins;
wirtschaftlich haben beide gleich wenig,
gesellschaftlich der eine genau so guten Grund als der andere“ (79). „...
für die wirkliche Wissenschaft ist ein wirtschaftlicher Unterschied nicht erkennbar,
ob
der Mensch oder seine Arbeitskraft zur Ware herabgewürdigt
und verkauft wird ...“. „Diejenigen also, welche jenes (das Lohnverhältnis) für eine
notwendige und unumstößliche Einrichtung der Natur halten, tun nicht wol daran, die
Schale ihrer sittlichen Entrüstung oder – Heuchelei so vollgemessen, wie sie es
lieben, über die Sklaverei des Altertums und ihre Rechtfertigung durch Plato und
Aristoteles auszugießen“ (56). – Gegenüber der herschenden Statslehre, die von einem
„Willen“ des Volkes spricht, bemerkt Verf., dass „in der Tat das Volk keinen anderen
Willen hat als den des Statsmannes, der ihm seine geheimsten Bedürfnisse und Wünsche
ablauscht, oder den Willen des Demagogen, der ihm seine eigenen Begehrlichkeiten
aufredet; und auf den Willen dieser Demagogen ist es denn auch bei dem angeblichen
Willen des Volkes abgesehen“ (192). „... die sogenannte Volksherschaft als die
Herschaft der Kopfzahlmehrheit, wenn sie jemals ernsthaft genommen und nicht
vielmehr von
den in Wahrheit herschenden Gesellschaftsmächten
als die Maske ihrer Machtübung gebraucht würde,
wäre die Aufhebung
der Statbildung und der Gesellschaft obendrein“ (195). „... es ist ohnehin
eine völlig schiefe Vorstellung, die freilich fast allgemein in der heutigen Rechts-
und Statslehre verbreitet ist, das Gesetz sei eine Willenshandlung, gar ein Ausdruck
des Gesammtwillens ..“ (237). „Eine Vertretung des Bürgertums, welche zum größeren
oder auch nur zu einem beträchtlichen Teile aus besoldeten Berufsbeamten oder
Lehrern besteht, ist eine so verunglückte Schöpfung wie eine städtische Verwaltung,
die von gewählten Berufsbeamten geführt wird“ (197). – Der Rechtsspruch, der den
Rechtsstreit schlichtet, „ist keine im voraus fertige Wahrheit, die man nur so und
nicht anders finden kann, wenn die richtige Schieblade aufgezogen wird. Er ist das
Ergebnis eines Kampfes ums Recht, aber wider nicht nur um ein Recht, welches im
voraus unzweideutig auf der einen Seite gegenüber dem Unrecht der andern wäre,
sondern eines Kampfes lebendiger Kräfte, in dessen Ausgleichung sich erst das Recht
darstellt“ (227). „Den Einzelnen durch Schaffung eines für die Statsgewalt
unantastbaren Rechtskreises dem State gleichzustellen, widerspricht den wirklichen
Grundlagen wie den Begriffen von Stat und Recht“ (255). „Alle Gebietsabgrenzungen
und Verträge unter den Staten haben nur eine bedingte Dauer, auf so lange nemlich,
als nicht durch diese Machtverteilung der eine oder der andere in der Entfaltung
seiner Vollkraft sich lähmend gehemmt sieht. Ein Stat, der sich in seinem Gebiete
von der See abgeschnitten, seine Flussläufe gesperrt sieht, muss dahin trachten sich
dieser Fesseln zu entledigen ...“ (273). – „Es ist ganz unmöglich, dass …
Verfassungskämpfe durch eine richterliche Entscheidung ausgetragen werden, schon
deshalb, weil der Streit um die Auslegung der Verfassung, den allein der Richter
entscheiden könnte, dabei immer nur die Einkleidung der Meinungsgegensätze über das
ist, was dem Gemeinwesen
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frommt. Aber ein Richter über den Mächten,
durch deren freies Zusammenwirken erst die höchste Statsgewalt gebildet wird, ist
ohnehin undenkbar ...“ (271).
Die hier angeführten Sätze, und wir könnten ihre Reihe noch
bedeutend verlängern, sind vom Standpunkt der „herschenden Statslehre“ sowie der
„Hand- und Lehrbücher“ – ebensoviele Ketzereien. Leider hat sich auch Ref. der
letzteren in seinen Schriften genau in demselben Maße wie der Verf. schuldig
gemacht, sodass ein aus „Autoritäten“ zusammengesetztes statsrechtliches
Ketzergericht gewis nicht anstehen würde Ref. und Verf. auf ein und demselben
Scheiterhaufen zu verbrennen. Wenn solche Schriften derzeit seitens der Vertreter
der othodoxen Lehre keiner Polemik begegnen, so geschieht es deshalb, weil man sich
da noch auf das allerdings bequemere „Totschweigen“ verlegt. Eine Richtung jedoch
der Statswissenschaft, die als notwendige Consequenz aus den
tatsächlichen Verhältnissen, aus den gemachten Erfahrungen und aus der bisherigen
Entwicklung der Wissenschaft sich ergibt, lässt sich nicht totschweigen. Die
Vertreter der alten Schule schweigen nur sich selbst zu Tode, während die
vermeintlich Totgeschwiegenen immer wider frischen Lebensmut schöpfen und ihren
Totschweigern zurufen: victuri vos salutant! Schließlich sei es dem Ref. gestattet
zu bemerken, dass er in einigen, allerdings weniger principiellen als vielmehr
politischen Fragen mit dem Verf. nicht übereinstimmt, die Auseinandersetzung darüber
mit dem Verf. jedoch, des hier knapp zugemessenen Raumes wegen, sich für einen
andern Ort vorbehalten muss.