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Dem Andenken Gustav Ratzenhofers, in: Politisch-Anthropologische Revue 3 (1904/05), 703-706.
Dem Andenken Gustav Ratzenhofers.
Ludwig Gumplowicz
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Die Wissenschaft und speziell die Soziologie hat einen unersetzlichen Verlust erlitten. Einer der kühnsten und tapfersten Vorkämpfer gegen eingewurzelte Vorurteile, ein unerschrockener Verteidiger wissenschaftlicher Wahrheit, dabei einer der tiefsten Denker unserer Zeit, starb plötzlich am 8. Oktober 1904, im 63. Jahre seines Lebens auf hoher See an Bord des Dampfers, mit dem er vom Weltkongreß der Wissenschaften in St. Louis in Amerika heimkehrte. Der Tod ereilte ihn im Augenblick, wo er auf dem Gipfel seines Ruhmes stand, da er eben durch einen glänzenden Vortrag über „Die Probleme der Soziologie“ die gelehrte Welt in gespannte Erwartung weiterer Arbeiten aus seiner Feder versetzt hatte. Denn dieser sein letzter Vortrag in St. Louis war einerseits ein Resümee seiner soziologischen und philosophischen Arbeiten während des verflossenen Dezenniums, anderseits aber eine Ankündigung einer neuen Serie von Arbeiten auf dem Gebiete der Soziologie, die man von ihm noch zu erwarten hatte.
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Gustav Ratzenhofer wurde am 4. Juli 1842 in Wien geboren. Er entstammt einem Altwiener kleinbürgerlichen Kreise – ist also ein „echtes Wiener Kind“. Sein Vater war Uhrmachermeister und der Sohn hätte ursprünglich das Gewerbe seines Vaters fortsetzen sollen. Dies bewahrte ihn jedenfalls vor der Lateinschule, die ihn am Ende gar der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät überliefert hätte, wo sein selbständiger Geist leicht Schaden genommen haben könnte. Dagegen war es noch eine glückliche Fügung, daß er nach dem frühen Tode seines Vaters in die Unmöglichkeit versetzt, den gewerblichen Beruf fortzusetzen, die Soldatenlaufbahn ergriff. Er machte die österreichischen Feldzüge von 1859 und 1866 mit, lernte den Krieg aus eigener Anschauung kennen und alle Probleme des Staats- und Völkerlebens standen plötzlich hell und klar vor seinem jugendlichen Geiste, der an der Universität vielleicht an dem öden Wust juristischer Disziplinen denselben für immer
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abwendig gemacht worden wäre. In der langen Friedenszeit 1866-1879 konnte er dann durch Selbststudium reichlich den Ausfall der Gymnasial- und Universitätsstudien ersetzen und sich jene gediegenen wissenschaftlichen Grundlagen aneignen, auf die wir bei allen seinen soziologischen und philosophischen Untersuchungen wie auf tiefe Grundmauern stoßen und wie sie in ihrer Vielseitigkeit aus keinem unserer üblichen Fakultätsstudien sich ergeben öknnen. In diese Zeit fällt seine erste und zwar kriegswissenschaftliche Publikation: „Die taktischen Lehren des Krieges 1870/71“. Dieser folge das unter dem Pseudonym Renehr herausgegebene Werk „Im Donaureich“ (1877) und sodann 1884 seine „Staatswehr“, die bereits auf das Gebiet der Staatswissenschaft hinübergreift und in der Art der Behandlung des Stoffes wie auch schon im kernigen und lapidaren Stil den selbständigen originellen Geist erkennen läßt. Mittlerweile hatte er auch Gelegenheit, im kriegsgeschichtlichen Bureau des Generalstabs durch Mitarbeit an dem Werke „Die Feldzüge des Prinzen Eugen“ eingehende quellenmäßige geschichtliche Studien zu treiben. Als Generalstabsoffizier nahm er 1878/79 an der Okkupation Bosniens teil, stieg in den achtziger und neunziger Jahren die militärische Stufenleiter bis zum Feldmarschalleutnant hinan, indem er dabei nacheinander die verschiedensten österreichischen Kronländer kennen lernte (stationierte in den achtziger Jahren in Innsbruck, in den neunziger Jahren in Lemberg), bis er Ende der neunziger Jahre Präsident des Militärobergerichtes in Wien wurde, wo er auch (1901) in den Ruhestand trat. Seit 1893 ließ er in rascher Aufeinanderfolge seine soziologischen und philosophischen Werke erscheinen, die ihm bald einen hervorragenden Platz in der vordersten Reihe der Denker an der Wende des 19. Jahrhunderts sicherten.
Das erste dieser Werke war seine „Politik“ (1893). Schon der Titel des Werkes deutet die Aufgabe an, die sich der Verfasser stellte. Er lautet: Wesen und Zweck der Politik als Teil der Soziologie und Grundlage der Staatswissenschaften. Ratzenhofer geht in demselben von der „soziologischen Grundlage“ aus, d. i. er betrachtet den Staat als einen Komplex von sozialen Gruppen (die er „politische Persönlichkeiten“ nennt), die einen Kampf ums Dasein unter der „ordnenden Organisation“ des Staates führen. Er schildert diese Kämpfe, ihre Triebfedern, ihre Zwecke, die natürlichen sozusagen taktischen Regeln, die von den sozialen Gruppen dabei beobachtet werden, die Resultate dieser Kämpfe, mittelst welcher immer größere „Kulturkreise“ hergestellt werden. Er bietet uns mit einem Worte eine Naturgeschichte der Politik auf soziologischer Grundlage.
Gleichsam der Nachweis der Berechtigung dieses Standpunktes und dieser Behandlung des Staates lieferte er in dem 1898 erschienenen Buche: „Die soziologische Erkenntnis“.
Diesen zwei Werken ließ er rasch aufeinander noch drei folgen: Der positive Monismus (1899), Positive Ethik (1901) und „Kritik des Intellekts“ (1902), in denen er drei grundlegende Fragen aller Philosophie, also auch aller Soziologie, eingehend behandelt und zwar die Berechtigung des Monismus, das Verhältnis desselben zur Ethik und schließlich die Frage nach dem Grad der Sicherheit, die wir all unserer Erkenntnis beimessen dürfen.
Fernstehende konnten glauben, daß Ratzenhofer mit diesen Werken sein „System“ vollendet und daß er der Wissenschaft nicht mehr viel zu bieten habe. Das war nicht der Fall. Wie dem Alpinisten, je höher er steigt, desto weitere Horizonte sich eröffnen: so gewann Ratzenhofer erst jetzt einen weiten Ueberblick über das gesamte Gebiet der Soziologie und fßate den Plan, ein „System der Soziologie“ zu schreiben. Daran arbeitete er in den letzten drei Jahren. Mitten in dieser Arbeit traf ihn die Einladung, auf dem Weltkongreß in St. Louis das Referat in der Sektion für „Soziale Strukturen“ zu übernehmen. Da blitzte plötzlich in ihm
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der Gedanke auf, von dieser weit vernehmbaren Stelle einen Vortrag über „Die Probleme der Soziologie“ zu halten. Er beabsichtige auf diesem Wege das Programm eines Systemes der Soziologie dem Weltkongresse vorzulegen, das selbstverständlich zunächst den Entwurf des von ihm selbst geplanten Werkes enthalten mußte, an dessen Ausführung er seit drei Jahren arbeitete. Gedacht, getan. Im August v. J. schiffte er sich ein, kam glücklich nach St. Louis und hielt dort am 24. September seinen Vortrag, der mit großem Beifall aufgenommen wurde. Sichtlich in gehobener Stimmung sandte er sofort vom Ausstellungsplatz an den Schreiber dieser Zeilen eine Postkarte mit der Ansicht der Festhalle, wo er den Vortrag gehalten und der Zuschrift „herzlichen Gruß nach erfolgreicher Rede“. Nun trat er die Heimreise an; schiffte sich glücklich in Newyork ein an Bord des Dampfers „Wilhelm der Große“. Programmäßig landete am 8. Oktober der Dampfer in Plymouth – am Bord die Leiche Ratzenhofers! Er war die Nacht zuvor nach kurzer Krnakheit schmerzlos verschieden. Sein jüngerer Sohn Emil, der ihn begleitet hatte, brachte die entseelte Hülle des unstreitig größten Denkers, den Oesterreich hervorgebracht hat, nach Wien, wo er am Hietzinger Friedhof bestattet wurde. Sein Vortrag in St. Louis war sein Schwanengesang gewesen; die in demselben enthaltenen Ideen zum Aufbau eines Systems der Soziologie bleiben ein kostbares Vermächtnis für die soziologischen Theorien des 20. Jahrhunderts.
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Bemerkenswert ist in diesem Vortrage eine entschiedene Wendung zur angewandten Soziologie, die allerdings schon in Ratzenhofers „Positiver Ethik“ hervorgetreten war. Hier, in seinem Vortrag bleibt R. nicht dabei stehen, die Soziologie als die „Wissenschaft von den menschlichen Wechselbeziehungen“ zu bezeichnen, „deren Aufgabe es ist, die Grundzüge der sozialen Entwicklung und die Bedingungen des Gemeinwohles der Menschen zu ermitteln“: sondern er geht weiter und verlang von der Soziologie, daß sie „auf Grund dieser Erkenntnis die Förderung des Gemeinwohles aus dem naiven Empirismus zur bewußten Tat“ führe. Offenbar begnügte sich R. nicht mehr mit der bloßen „soziologischen Erkenntnis“ und wir dürfen aus diesem und einem nachfolgenden Passus schließen, daß er uns in seinem geplanten Werke, ähnlich wie das Lester Ward zu tun im Begriffe ist, nach einer „reinen“ Soziologie eine „angewandte“ Soziologie gegeben hätte. Denn, meint er gleich darauf, „an Stelle der herrschenden Kurpfuscherei am sozialen Körper soll ein wissenschaftlich begründetes Handeln treten“.
Nach diesen einleitenden Worten schildert er kurz den Entwicklungsgang der Soziologie, die durch eine Anzahl von Spezialwissenschaften vorbereitet wurde. Zunächst aber „verhüllten (diese Spezialwissenschaften) das Wesen und die Methode der Soziologie“. Denn das Sichvertiefen in Spezialforschung raubt jeden Sinn und jedes Verständnis für die „großen Zusammenhänge“. Beinahe hätten diese Spezialwissenschaften sogar „die Lenbensbedingungen der Soziologie untergraben, wenn es überhaupt möglich wäre, den Entwicklungsgang der menschlichen Erkenntnis aufzuahlten“. Als die moderne Soziologie trotz der ihr feindlichen Haltung der Spezialwissenschaften zu steigendem Ansehen gelangte, beginnen Spezialisten (Nationalökonomen, Juristen, auch Zoologen) allerhand „Machwerke“ zu publizieren, „die sich den Schein soziologischer Erkenntnis geben“. (Es ist das eine Anspielung auf das zu trauriger Berühmtheit gelangte Jenenser Sammelwerk „Natur und Staat“.) Mit solchen Machwerken hat die Soziologie nichts gemein. Sie ist vielmehr „eine philosophische Disziplin, aber nicht auf Grund der Vernunft an sich, sondern auf Grund aller realen und intellektuellen Tatsachen“. Das „Grundproblem“ der Sozio-
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logie besteht in dem Nachweis einer den physikalischen und biologischen Gesetzen entsprechenden „soziologischen Gesetzmäßigkeit“.
An dieses Grundproblem schließt sich das „Weltproblem über die Beziehung der Vermehrung der Menschen zu deren Ernährung“. Daran wieder das dritte Problem: „Hat der menschliche Wille einen Einfluß auf soziale Entwicklung?“ Das vierte lautet: „Wie wird sich die soziale Entwicklung gestalten?“ Das fünfte bezieht sich auf die „Wechselbeziehungen zwischen Individualismus und Sozialismus“. Das sechste ist das Rassenproblem, das in nachstehende Fragen zerfällt: „Ist die Abstammung der Menschen so, daß sie als einheitliche angesehen werden kann? Welche soziale und ethische Folgen hat die Beantwortung dieser Frage? Welchen Wert hat der Rassebegriff für die soziale Entwicklung überhaupt, ferner in zeitlicher und örtlicher Hinsicht?“
„Welche Wertunterschiede kommen den reinen Rassen, welche den Dauerformen von Rassenmischungen durch Inzucht entwickelt, welche den Vermischungen mit schwankenden Anlagen in der Gesellschaft zu? Was folgt für die soziale Entwicklung aus der Tatsache des Rassenunterschiedes und der Verschiedenheit der ererbten Anlagen als Produkt der biologischen Entwicklung, der Geschichte, des Wohnortes, der Umwelt und der herrschenden Ideen?“ Alle diese Fragen insgesamt bilden das Rassenproblem, welches „von ungeheurer Bedeutung für die politische Aufgabe des Staates ist“.
Als weitere soziologische Probleme zählt Ratzenhofer auf: das der Volkshygiene (Ausmerzung krankhafter Anlagen), aus dem sich mittelbar das Problem ergibt, „in welchem Verhältnisse die politischen Prinzipien: Freiheit und Zwang, und die politischen Systeme: Zentralisation und Autonomie in der Civilisation wirksam werden sollen“. Dieses Problem beschäftigt sich auch mit dem Kapitalismus und mit dem „Recht der Arbeit“ (Nicht „Recht auf Arbeit“).
„Im engsten Zusammenhang mit der Rassenfrage steht das Kriegs- und Friedensproblem.“ Sollen diese letzten zwei Probleme gelöst werden, dann muß erst „das gesamte Gebiet der Politik aus der heutigen Sphäre des Dilettantismus, des diplomatischen Ränkespieles oder der persönlichen Interessen zu einer wissenschaftlichen Disziplin auf Grund der soziologischen Erkenntnis erhoben werden“.
Darauf folgt das positiv-ethische Problem (inwiefern das Gedeihen der Gesellschaften von ihrer Sittlichkeit abhängt?) und ganz zum Schlusse das Staatsproblem, „das ist die Frage nach der politischen Teilung der Menschheit und ihrer Wohnräume“. Es kann kein Zweifel sein, daß diese hier aufgezählten Probleme den Gegenstand des großen Werkes bilden sollten, an dem Ratzenhofer in den letzten Jahren arbeitete und von seiner Tatkraft und seiner Hingabe an die Wissenschaft konnte erwartet werden, daß er zur Lösung obiger Probleme in epochemachender Weise beitragen werde. Leider ist es anders gekommen. Den Förderern und Jüngern der Soziologie bleibt der unsägliche Schmerz, auf ein geniales Werk des Meisters verzichten zu müssen, auf ein Werk, das die Krönung seiner Lebensarbeit bilden sollte. Doch bleibt, wie gesagt, obiger Vortrag immerhin ein kostbares Vermächtnis und vielleicht werden aus dem literarischen Nachlaß des Verewigten Bruchstücke der Bearbeitung einzelner der oben angeführten Probleme uns doch teilweise den schweren Verlust ersetzen, den die Soziologie erleidet.