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[Nachruf auf:] Adolf Bastian, in: Die Zukunft (Berlin), Jahrgang 1905, Bd. 53, 352-356.
Adolf Bastian.
Ludwig Gumplowicz
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Ohne inneren Antrieb erfolgt keine Forschung. Was bewirkt diesen inneren Antrieb? Offenbar irgend ein Ziel, eine erhoffte Erkenntniß. Der Mineraloge sammelt Steine, untersucht sie, vergleicht sie, um zur Kenntniß der Zusammensetzung der harten Erdkruste zu gelangen. Das ist sein Ziel. Ist es erreicht, dann zeigen sich neue Ziele, zu denen der Geologe hinstrebt, die Pflanzen, ihren Wuchs, ihre Entwickelung, um zur Kenntniß der Regel, des Gesetzes zu gelangen, nach dem diese Entwickelung vom Keim bis zur Frucht, die Fortpflanzung und Wiedererstehung neuer Keime, neuer Pflanzen, neuer Früchte erfolgt. Das Streben nach dieser immer vollkommeneren Kenntniß ist der ewige Antrieb der Forschung auf dem Gebiete der Botanik. In der Zoologie ist nicht die Beschreibung des einzelnen Thierexemplars das Ziel der Forschung, sondern die Feststellung der Gesetze, nach denen der thierische Organismus sich entwickelt. Zoologische Forschung belehrt uns, daß die Anthropologie nur ein Theil der Zoologie ist; denn die physiologischen und biologischen Gesetze erweisen sich als für Thier und Mensch gemeinsam. Ob es eine ausschließlich dem Menschen angehörende Psychologie giebt, ist noch zweifelhaft: denn auch an Thieren können wir psychologische Beobachtungen machen und psychologische Gesetze feststellen. Und gar von den neusten psychophysischen Forschungen wird Niemand behaupten wollen, daß sie nur die menschliche Seele zum Gegenstand haben können.
Immer weiter vorwärts strebt menschliche Forschung, über Steine, Pflanzen, Thiere und Psyche hinaus zu immer weiteren, höheren Zielen. Welches war das nächsthöhere Ziel? Es bot sich von selbst dar: über den Menschen hinaus weist das Volk; sollte dieser „Gesammtmensch“ nicht auch eine „Gesammtseele“ haben? Das neue Ziel war da; der neue Antrieb mächtig; die neue Wissenschaft nannte sich „Völkerpsychologie“. Lazarus und Steinthal standen an ihrer Wiege. Auf Adolf Bastian machte die Idee der Völkerpsychologie einen tiefen Eindruck. Er war noch nicht lange von seiner ersten großen, sieben Jahre umfassenden Reise (1850 bis 1857) zurückgekehrt. Im späten Alter erinnert er sich dankbar, daß ihm 1859 „vergönnt war, die Ideen (der Völkerpsychologie) aus Lazarus' eigenem Munde unter den anziehendsten Bildern seiner feinen Beobachtungen entwickelt zu hören“. Kein Wunder, daß diese Ideen auf ihn Eindruck machten: waren sie doch denen, die er in seinem ersten großen Werk, „Der Mensch in der Geschichte“ (1860), zum Ausdruck brachte, nah verwandt. Auch seine Gedanken drehten sich um eine „Psychologie“, die keine individuelle sein, es nicht mit der Einzelpsyche zu thun haben sollte, sondern mit irgend einer anderen, höheren, weiteren,
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die ihm allerdings noch unklar, als Ahnung eines Problems, vorschwebte. So gab er denn dem ersten Band seines Werkes den Spezialtitel „Die Psychologie als Naturwissenschaft“, dem zweiten: „Psychologie und Mythologie“, dem dritten: „Politische Psychologie“. Das ganze Werk aber trägt den Untertitel: „Zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung“. Wollen wir aber wissen, welche Psychologie er im Auge hatte und was er unter einer „psychologischen Weltanschauung“ verstand, so müssen wir seine rein „ethnologischen“ Werke zu Rathe ziehen. Denn erst in späteren Jahren ist ihm das Ziel, nach dem er strebte, klar vor den Blick getreten. Zunächst ließ er ja 1860 die „Völkerpsychologen“ in Berlin und trat seine weiten Weltfahrten an. Was zog ihn da in die Ferne hinaus? Er sah in den Sitten, Gebräuchen, Einrichtungen, Rechtsnormen, Religionen, Lebensanschauungen der verschiedenen Völker nur Aeußerungen ihrer Psychen; und diese Aeußerungen waren ihm Ausdrücke der „Völkergedanken“, auf deren Grund er überall die selbe Denkweise beobachtete. So kam ihm der Gedanke, daß es eine „Psychologie“ geben müsse, die uns die Gesetze dieser Gedankenbildung zu enthüllen vermag.
Welcher Weg aber führt zur Kenntniß dieser Psychologie? Offenbar der durch „die Völkerkunde“ oder „Ethnologie“. Während nun in Berlin seit 1860 die „Völkerpsychologen“ der Richtung Lazarus-Steinthal auf mehr philosophisch-spekulativem Wege in ihrer „Zeitschrift für Völkerpsychologie“ dem Problem der Völkerpsyche nachgingen und schließlich an der Sprachwissenschaft hängen blieben, da sie hauptsächlich in der Sprache den Ausdruck der Volksseele zu erkennen glaubten, durchschweifte Bastian Jahrzehnte lang die gesammte Oekumene, um Material für eine „Ethnologie“ zu sammeln, die „als die Wissenschaft vom Menschen einen letzten Abschluß aller bisherigen Wissenschaften anstreben“ und im engsten Sinn[ ]des Wortes eine „Menschheitwissenschaft werden sollte“.
Mit diesem Ziel vor Augen durchforschte er (ich citire die Titel seiner Werke) „Die Völker des östlichen Asien“, „Die Kulturländer des alten Amerika“, „Die Loango-Küste“, „Die Inselgruppen in Ozeannien“, „Die Völkerstämme am Brahmaputra“, „Amerikas Nordwestküste“, „Indonesien, die Inseln des malaiischen Archipels“ und „Samoa“. Zwischen diesen (einzelne Völkerkonglomerate beschreibenden) Werken entstanden andere, zusammenfassende und vergleichende, in denen er die „primären Elementargedanken der Naturvölker“ mit einander und mit den Formen vergleicht, die die selben Gedanken auf höherer Stufe „Der Geschichtvölker“ annehmen. Das thut er in Werken wie „Beiträge zur vergleichenden Psychologie“, „Das Beständige in den Menschenrassen“, „Sprachvergleichende Studien“, „Ethnologische Forschungen“, „Die Rechtsverhältnisse bei verschiedenen Völkern der Erde“, „Schöpfung oder Entstehung“, „Die Denkschöpfung umgebender Welt“. In all diesen Werken
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handelt es sich ihm darum, „vor Allem und zunächst die gleichartigen Wachsthumsgesetze der menschlichen Völkergedanken festzustellen, und Dies am Einfachsten nach genetischer Methode von den Naturvölkern als niedersten und deshalb durchsichtigsten Organismen ausgehend“, um zu erkennen, „wie aus solchen Keimen dann die Entwickelung fortschreitet zu den erhabensten Errungenschaften des Geistes“. (Vorwort zum „Völkergedanken“.) Das war nun ein von Programm und Aufgabestellung der berliner „Völkerpsychologie“ weit abweichender Weg. Bastian wählte ihn und kam rascher vorwärts als seine Rivalen. Die Zeitschrift für Völkerpsychologie ging Ende der siebenziger Jahre ein; die Völkerpsychologie konnte sich als besondere Wissenschaft nicht behaupten und löste sich in „Sprachwissenschaft“ auf. Bastian aber erhob die „Ethnologie“ zu einer selbständigen Wissenschaft, die sich glänzend entfaltete, in stetem Aufschwung begriffen ist und eine große Zukunft vor sich hat. Das war sein unvergängliches Lebenswerk.
Er hat nicht nur für die Ethnologie aus allen Ecken und Enden so viel Material zusammengebracht wie kein Mensch vor ihm, sondern ihr auch in seiner „Vorgeschichte der Ethnologie“ (1881) und in seinen „Allgemeinen Grundzügen“ (1884) ihre bisherige Entwickelung, ihre heutigen Aufgaben und künftige Zielpunkte mit Meisterhand geschildert und vorgezeichnet. Hat er aber das Ziel erreicht, das ihm in einem langen, dieser Wissenschaft ausschließlich gewidmeten Leben vorschwebte? Wer nach äußerlichen Merkmalen urtheilt, wird geneigt sein, die Frage zu bejahen. Bastians Mühen und Forschen galt der Entzifferung der in den Lebensäußerungen der Völker sich bergenden „Volksgedanken“, um aus ihnen den „Menschheitgedanken“ zu konstruiren. Und siehe da: der fünfundsiebenzigjährig Greis gab uns, fast schon am Ende seiner Laufbahn, ein zweibändiges Werk, „Der Menschheitgedanke durch Raum und Zeit“, wollte uns also offenbar das Ziel seiner Lebensarbeit zeigen, das erreichte Resultat darbieten. In diesem Werk ist nun viel tiefe Weisheit zu finden; und doch, trotz allen Perlen, die es bietet, stimmt es uns beinahe wehmüthig. Wir merken die Anstrengung des Geistes, der all seine Geisteskräfte zusammennimmt, um uns das letzte Wort seiner Wissenschaft zu sagen, uns das letzte Resultat seiner langen Forschung- und Denkarbeit vorzuführen, aber vergebens nach einem klaren Ausdruck dafür ringt. In hundertfach nuancirten Wiederholungen bemüht er sich, uns zu sagen, daß „Die Wachsthumsprozesse vegetativer Organisation sich in animalischer (Organisation) wiederholen, worin die (motorisch) sensitivien Bewegungregungen hinzutreten und mit diesen aus psychophysischen sich in noetische umsetzen, die beim Hervorsprossen ihres Wachsthumes einem ihnen eigenartigen Nisus formativus folgen.“ Aber schon die häufigen Wiederholungen dieses Gedankens in stets neuen Variationen beweisen ja, daß er selbst diese Formulirung des „Menschheitgedankens“ ungenügend findet, daß sie ihm in keiner stilistischen Wendung gelingen will.
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Ich will versuchen, Bastians Gedanken dem Leser klar zu machen.
Bastian sieht in der Welt der Erscheinungen fünf „Sphären“: die unorganische, die vegetative, die animalische (biologische), die psychophysische und die „zoopolitische“[.] In jeder dieser Sphären waltet ein „Nisus formativus“, ein Gestaltungdrang, der „Prozesse“ hervorruft. Diese Prozesse zeitigen nun die Erscheinungen, die wir in jeder dieser Sphären beobachten. Diese Erscheinungen sind Aeußerungen eines „Logos, eines Gedankens, der sich konsequent entwickelt. In der zoopolitischen Sphäre äußert er sich in mannichfach schillernder Form je nach ethnischer und geographischer Verschiedenheit seines Substrates. Dieser „auf zoopolitischer Sphäre durch des Logos Schöpfungen aufgebaute Mikrokosmos wird sich ganz überblicken lassen, nachdem die Lehre vom Menschen in methodische Behandlung genommen ist“, wie es in der Ethnologie zu geschehen hat. Ein solcher Überblick „des Menschengeschlechtes unter all seinen Variationen“ zeigt uns die „Völkergedanken“ in ihrer Entfaltung von den primären „Elementargedanken“ bis zu den komplizirten „Gesellschaftgedanken“ und dem all diese „Denkschöpfungen“ umfassenden „Menschheitgedanken.“ Fragen wir nach Alledem nun, was Bastian unter „Menschheitgedanken“ versteht, so lautet die Antwort: Die Menschheit selbst, als Gedanke betrachtet. Dabei müssen wir uns erinnern, daß er sein erstes Werk, „Der Mensch in der Geschichte“, „zur Begründung einer psychologischen Weltanschauung schrieb.“ Eine solche Weltanschauung hat nach seiner Meinung Der offenbar, der die Menschheit als einen Gedanken, als Entfaltung eines Gedankens, ansieht. Für Bastian war diese Anschauung der mächtige Antrieb zu seinen ethnologischen Forschungen. Allerdings ist es ja ganz gleich, welche Idee zu wissenschaftlicher Forschung treibt; ob man den „Menschheitgedanken“ oder die „Größe des Schöpfers“ in „seinen Werken“ bewundern will, kommt schließlich auf das Selbe hinaus. Der menschliche Wissensdrang schafft sich Ziele, denen er auf dem Wege der Forschung zustrebt. Die Hauptsache bleibt, daß er sich forschend bethätigt. Die Ziele, die er sich steckt, sind nach Zeit und Kulturstufe verschieden, dienen aber dem selben Zweck. Auch Bastians „Menschheitgedanke“ hat seine Mission erfüllt. Er hat einen tiefen Denker getrieben, während eines langen Lebens den ganzen Erdball zu durchstreifen, um alle ihn bewohnenden Völker nach ihren Sitten, Gebräuchen, Anschauungen, Sprachen, Rechtsverhältnissen, Glaubenssätzen zu erforschen. Diesem „Menschheitgedanken“ verdanken wir die Schätze des Wissens, die in Bastians Werken aufgestapelt sind.
Man konnte annehmen, daß der fünfundsiebenzigjährige Bastian mit seinem zweibändigen Werk über den „Menschheitgedanken durch Raum und Zeit“ seine literarische Laufbahn beschlossen habe. Doch nicht einmal die Wanderluft war bei diesem phänomenalen Menschen in solchem Alter befriedigt. Siebenundsiebenzig Jahre war er alt, als er nach Westindien reiste (wo ihn zwei
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Jahre später mitten unter ethnologischen Forschungen der Tod ereilte); und seine letzten Lebensjahre hatten uns noch ein dreibändiges Werk, „Die Lehre vom Denken“ gebracht, dessen dritter Theil erst nach seinem Tode erschien. Daß sich Bastian noch diesem Problem zuwenden werde, hatte er im „Menschheitgedanken“ vielfach angekündigt; er wies da auf die Nothwendigkeit der „Kenntnißnahme von dem Werkzeug und dessen Fähigkeiten“, also auf die „Erforschung des Denkens selber“ hin. Nur darf man nicht glauben, daß er uns in diesem Werk irgend eine systematische „Lehre von Denken“, also Etwas wie eine schulgerechte Logik der Psychologie biete. Sein letztes Werk ist nichts Anderes als all seine früheren: eine psychologische Ausdeutung des Völkerlebens. Nur mischen sich in diesem Werke des fast achtzigjährigen Greises öfter als in früheren in die objektiven Beobachtungen des Völkerlebens subjektive Lebensansichten und Maximen, die würdig sind, unter die besten „Sprüche der Weisheit“ aufgenommen zu werden.
Wenn im alten Frankreich ein König gestorben war, ertönte der Ruf: Le roi est mort, vive le roi! Ein König ist leicht zu ersetzen. Wenn aber ein großer Denker und Forscher von uns geschieden ist, giebt es für die Schaar seiner trauernden Jünger keinen Trost; denn sie wissen: Der da schied, ist nicht zu ersetzen.
Graz. Professor Ludwig Gumplowicz.