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Soziologische Geschichtauffassung, in: Die Zukunft (Berlin), Jahrgang 1899, Bd. 29, S. 468-476.
Soziologische Geschichtauffassung.
Ludwig Gumplowicz
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„Genügt, so könnte man fragen, „die Auffassung der Geschichte als eines naturnothwendig sich abspielenden Kampfes sozialer Gruppen um Macht und Herrschaft, um Einfluß und Geltung, zur Erklärung aller der politischen Erscheinungen, aller der Einrichtungen des Staates und seiner ganzen Rechtsordnung mit ihrer mannichfachen Entwickelung, die uns die Geschichte bietet? Denn wenn diese soziologische Geschichtauffassung dazu nicht ausreicht, dann ist sie eben ungenügend und werthlos!“ Ich zögere nicht, auf die Frage zu antworten: Ja! Die soziologische Auffassung, und sie allein, erklärt und nach allen Seiten hin alle Erscheinungen der Rechtsordnung und Politik; sie löst uns die Räthsel aller staatlichen Einrichtungen, die auf andere Weise nicht erklärt werden können. die Institutionen des Staatsrechtes, wie z. B. die Parlamente, die Exekutivgewalt, das gesammte Verwaltungrecht u. s. w.
Selbstverständlich ergeben und erklären sich alle Aenderungen und Reformen dieser Institutionen wieder aus der Tendenz der Selbstbehauptung der beherrschten Klassen, und zwar dieser Klassen der Reihe nach, in dem Maße, wie sie wirthschaftlich und intellektuell erstarken und gegen den Druck von oben ihren Gegendruck von unten ausüben. Dieser Druck und Gegendruck sind die Triebfedern aller staatlichen Entwickelung; und so wird der soziologische Grundsatz, daß jede Gruppe dem Triebe der Selbstbehauptung folgt, zum Schlüssel, der die verschlossenen Pforten politischer Erscheinungen und geschichtlicher Räthsel aufsperrt. Um diesen Satz in extenso zu beweisen, dazu wären freilich Bände nöthig. Zum Theil habe ich nähere Ausführungen in meinem „Allgemeinen Staatsrecht“ geliefert. Ich möchte hier nur auf einen kurzen Aufsatz in meinen „Soziologischen Essays“ (1899) hinweisen: „Was ist Recht?“ Darin erbrachte ich den Beweis, daß jedes Recht ein Kompromiß zweier oder mehrerer Gruppen ist, eine Etappe in einem ewigen Kampfe. Deshalb „entwickelt“ sich ja jedes Recht, weil jede Partei in solche Kompromisse stets nur gezwungen einwilligt, – mit dem Hintergedanken, von der Gegenpartei die Erfüllung der von ihr übernommenen oder ihr auf-
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gedrungenen Verpflichtung zu fordern, selbst aber der eingegangenen Verpflichtung sich, so bald es irgend möglich ist, zu entziehen. Das ist die Natur jedes Rechtes. Wer es nicht glauben will, mag die Geschichte des europäischen Konstitutionalismus, wenn auch nur der letzten fünfzig Jahre, aufschlagen. Jedes Blatt dieser Geschichte lehrt, wie die beiden kontrahirenden Parteien beim Vertragsabschluß ihre Hintergedanken hatten, die Einen, den Absolutismus aufrechtzuhalten, die Anderen, unter der Form des Parlamentarismus sich die Herrschaft zu sichern bemüht waren. Alle Entwickelung dieser Verfassungen geht aus den Bestrebungen hervor, die bestehenden Satzungen zu eigenem Vortheil und zum Nachtheil der Gegner auszunützen. Das erfahren wir täglich aus den Zeitungen und können es zwischen den Zeilen der Zeitungverlogenheit lesen.
Erklären aber läßt sich diese ganze Geschichte gar nicht anders als mit der – jeder Gruppe eigenen – Tendenz der Selbstbehauptung, die ein Streben nach Zurückdrängung, Herabdrückung und Ausnutzung der anderen Gruppen erzeugen muß. Auch jedes historische Ereigniß ist nur aus diesem Gesichtspunkt zu begreifen. Denn wie das Recht, so ist auch jedes geschichtliche Ereigniß zunächst eine soziale Erscheinung, d. h. eine solche, die einzig und allein aus dem Zusammen- oder, besser gesagt, dem Gegeneinanderwirken mindestens zweier sozialer Gruppen entsteht. Daher kann eine historische Thatsache erst dann erklärt werden, wenn man ihre Genesis aus dem Gegeneinanderwirken der verschiedenartigen Gruppen nachweist. Nun wissen wir aber, daß die von den Historikern seit Jahrtausenden beliebte sogenannte heroistische Methode der Darstellung diesem wissenschaftlichen Erforderniß nicht Rechnung trägt. Wenn z. B. ein Historiker die Abfassung eines Geschichtwerkes mit der Absicht beginnt, zu zeigen, welche klugen und tapferen Herrscher sein Vaterland hatte, so wird er sich von vorn herein Mühe geben, alle historischen Ereignisse als Thaten und persönliche Verdienste dieser Herrscher darzustellen. Möglich ist ja auch, daß ein Historiker in bestem Glauben die „großen Thaten und Tugenden“ der „Landesväter“ darstellt, – in der edlen Absicht, damit gewisse Gefühle zu wecken und zu beleben: Vaterlandsliebe, Loyalität, Legitimität (z. B. im Deutschland vor 1870) oder das „monarchische Gefühl.“ Möglich wäre ja auch (ich glaube es allerdings nicht), daß sie damit ihr Ziel erreichen: dann verdienen sie sich ehrlich ihr Kreuzlein oder Ordensband von den p. t. Interessenten. Der Wissenschaft aber haben sie damit gar keinen Dienst geleistet. Denn heute weiß doch jeder nur halbwegs naturwissenschaftlich denkende Mensch, daß die Geschichte nicht das Werk freier Willenshandlungen einzelner Personen ist, nicht einmal der „allerhöchsten,“ sondern das Resultat von Gruppenkämpfen, möge man diese Gruppen je nach Umständen als Stämme, Natio-
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nen, Klassen, Parteien, Koterien oder Clicqen bezeichnen. Verhält sich aber die Sache so, dann hat es keinen wissenschaftlichen Werth, die Geschichte zu panegyrischen oder angeblich patriotischen Zwecken zu mißbrauchen, sondern es kann dann einzig und allein Aufgabe der Geschichtschreibung sein, die wirkliche Genesis der geschichtlichen Ereignisse aus dem Gegeneinanderwirken der sozialen Elemente abzuleiten.
Das Schema der heroistischen Historiker pflegt so auszusehen: Amenophis der Große war ein kluger und tapferer Herrscher. Er schlug die Assyrer (so lautet die egyptische Geschichte; die assyrische wird an dieser Stelle sagen, Cyrus sei tapfer gewesen und habe die Egypter geschlagen); sein ganzes Sinnen und Trachten galt dem Wohl seines Volkes; auch ließ er im Nilthal Kanäle bauen und machte das Land fruchtbar u. s. w. Dieses überall und ewig sich wiederholende Schema ist ein Unsinn. Denn die Feinde hat noch kein Herrscher geschlagen, auch nicht der allergrößte; auch der Bau von Kanälen ist noch nie der alleinigen Initiative eines Herrschers zu danken gewesen. Wir wissen heute sehr gut, daß ein Kanal erst als wirthschaftliches Bedürfniß sich großen Interessenkreisen fühlbar machen muß, daß es dann gescheite Ingenieure geben muß die über die Ausführungen eines solchen Werkes nachdenken und entsprechende Pläne entwerfen, und daß diese Pläne sich unter dem Einfluß von Kritik und Gegenkritik entwickeln und reifen. Solche Werke sind also soziale Erscheinungen, da sie aus allgemeinen Bedürfnissen und Interessen hervorgehen und durch moralische und materielle Unterstützung interessirter Gruppen, nicht ohne Kampf gegen andere, von anderen Interessen beherrschte Gruppen, durchgeführt werden. Mag nun der heroistische Geschichtschreiber noch so laute Jubelhymnen zu Ehren des Ramses oder Amenophis als des Erbauers des Nilkanales anstimmen: wir wissen, daß es Jahrhunderte dauerte, bis das Werk reifte, daß zahlreiche Pläne und Entwürfe, Proben und Versuche, Untersuchungen und Experimente viele Generationen hindurch nöthig waren und daß hartnäckiger Widerstand der Gegner besiegt werden mußte, ehe es endlich ausgeführt werden konnte. Eine wissenschaftliche Geschichtschreibung wird sich also nicht damit begnügen, zu sagen: „Ramses oder Amenophis der Große hat diesen Kanal gebaut, – Heil ihm!“ Sie wird vielmehr all die wirthschaftlichen Bedürfnisse und all die sozialen Kämpfe, die durchgefochten werden mußten, bis diesen Bedürfnissen Befriedigung ward, darzulegen haben. Eine solche Darlegung hat einen wissenschaftlichen Werth. Die heroistische Phrase ist wissenschaftlich ganz werthlos. Denn sie ist jedenfalls eine Unwahrheit, also das Gegentheil jeder Wissenschaft.
Daraus folgt nun nicht etwa, dßa aus der Geschichtschreibung die Individualitäten ganz entfernt werden sollen. Durchaus nicht! Die Indi-
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vidualitäten spielen immer eine gewisse Rolle als Führer, die von den Gruppen vorwärts gedrängt werden, als Vertreter von Gruppeninteressen, als Brennpunkte von Gruppenbestrebungen, als Verkörperungen von Gruppentendenzen. In dem Maß, wie ein solcher Führer mehr oder weniger die Interessen seines Milieus in seiner Persönlichkeit zum Ausdruck bringt, ist seine Thätigkeit mehr oder weniger erfolgreich. Die Größe der Individualität hängt aber davon ab, ob sie fähig ist, die Gefühle der Gruppen – manchmal auch der Masse – zu errathen, die Gedanken und Strebungen mächtiger Gruppen oder Massen zu vertreten und sich zum Werkzeug ihrer Ausführung zu machen. Das konnten Persönlichkeiten wie Cavour und Bismarck und darin bestand ihre Größe, darin lag das Geheimniß ihres Erfolges. Denn politische Genialität besteht eben darin, die Strebungen mächtiger Gruppen zu errathen und ganz in sich aufzunehmen. Aber auch die Thätigkeit solcher politischen Genies wird eine wissenschaftliche Geschichtschreibung nicht in blinder Lobhudelei zur Darstellung bringen; sie hat vielmehr nachzuweisen, wie die aus sozialen und wirthschaftlichen Verhältnissen sich ergebenden Bedürfnisse und Interessen der Gruppen in der Persönlichkeit dieses Führers ihren Ausdruck fanden. Nicht die Führer schaffen sich ihre Gruppen, sondern die Gruppen schaffen sich ihre Führer; nicht das politische Genie eröffnet neue Bahnen: das Volk drängt in neue Bahnen und huldigt dem Genie, das sein Drängen früh begriffen hat. Der beste Beweis, daß der so beliebte individualistische Heroismus in der Geschichtwissenschaft keinerlei Berechtigung hat, ist der Umstand, daß man die Geschichte eines Staates wissenschaftlich darstellen und nachweisen kann, warum dieser Staat gerade eine solche Entwickelung und keine andere durchmachen mußte; daß man seine wirkliche Entwickelung vollkommen genügend aus geographischen, sozialen und wirthschaftlichen Verhältnissen erklären kann, ohne dabei auch nur eine einzige Persönlichkeit zu erwähnen. Man kann die Geschichte eines Staates ganz „unpersönlich“ schreiben, also die Heroen und Alle, die es sein möchten, ungenannt sein lassen. Ansätze zu einer solchen unpersönlichen, heroenlosen Geschichte finden wir jetzt schon in Ratzels „Politischer Geographie.“ Ratzel formulirt Grundsätze und Gesetze der Entwickelung der Staaten, den geographischen und ethnographischen Bedingungen gemäß, unter denen sie entstanden und lebten. Dabei spielen die großen Staatsaktionen der Monarchen und Minister gar keine Rolle; es kommt auf sie gar nicht an; sie sind quantités négligeables. Entscheidend für die Richtung der historischen Entwickelung sind eben nicht individuelle Eigenschaften einzelner Personen, sondern nur die allgemeinen geographischen, wirthschaftlichen, insbesondere aber die sozialen Bedingungen eines gegebenen Staates, d. h. die Verhältnisse der in ihm enthaltenen, sein Volk bildenden sozialen Elemente.
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Auf sie kommt es an; sie geben den Ausschlag, ihr Kräfteverhältniß entscheidet über die Richtung der Entwickelung des Staates.
Wenn aber die Erklärung geschichtlicher Thatsachen und Ereignisse aus individuellen Eigenschaften und Willensrichtungen leitender Persönlichkeiten unwissenschaftlich ist, so ist es nicht minder die Ableitung geschichtlicher Entwickelungen aus dem „Volkswillen“, aus dem Charakter oder Temperament des Volkes, aus der sogenannten „Volksseele“. Diese Phrasen, die mir häufig bei demokratischen und liberalen Historikern finden, bezeichnen das entgegengesetzte Extrem, das eben so unwissenschaftlich ist wie die individualistische Methode der Geschichtschreibung. Denn auch diese national-kollektive Darstellung beruht auf einer Fiktion, und zwar auf der Fiktion des „Volkes“ als einheitlichen Subjektes geschichtlicher Handlungen und Thaten. Ein solches einheitliches Subjekt geschichtlicher Thaten giebt es nicht. Das Volk will nichts und sieht nichts, freut sich nicht und trauert nicht; jedes Volk ist eine aus heterogenen sozialen Elementen zusammengesetzte Einheit, die sich nur in seltensten Ausnahmefällen als Einheit fühlt, im gewöhnlichen Laufe der Dinge aber ein Chaos entgegengesetzter Strebungen und Strömungen darstellt. Was da die Einen sehen und fühlen, sehen und fühlen die Anderen nicht; daraus folgt, daß, was die Einen wollen, die Anderen nicht wollen, was die Einen freut, die Anderen ärgert. Will etwa das deutsche „Volk“ den Mittellandkanal? Nein. Der Westen will ihn, ein großer Theil des Ostens will ihn nicht. Und so war es stets und überall. Was die oberen Zehntausend wollen, Das wollen die unteren Millionen nicht, – und umgekehrt. Was also die Historiker von dem „Volke“, von seiner Geistesbeschaffenheit, von seinen Tendenzen, Zielen u. s. w. sagen, Das sind immer mehr oder weniger poetische Floskeln, deren Werth nicht höher ist als der gewisser Generalcharakteristiker „unserer Vorväter“, denen man bei nationalen Historikern so häufig begegnet. Merkwürdig: diese unsere Vorfahren zeigen überall die selben edlen Züge, gleichviel, ob wir nationale Historiker Frankreichs, Deutschlands oder Rußlands befragen. Diese „unsere Vorfahren“ sind immer tapfer, gastfreundlich, großmüthig; als Schwäche wird ihnen höchstens nachgesagt, daß sie manchmal etwas über den Durst tranken. Solche allgemeine Charakteristiken der Nationen oder Völker haben keinen wissenschaftlichen Werth, einfach, weil sie der Wahrheit nicht entsprechen und deshalb nichts erklären. Die soziale Entwickelung kann nur durch die Darstellung der Machtverhältnisse und des gegenseitigen Einwirkens dieser heterogenen Bestandtheile auf einander erklärt werden. Diese Machtverhältnisse sind aber bedingt durch die vorwiegend wirthschaftlichen Interessen der einzelnen Gruppen, nicht durch eine psychische Beschaffenheit ihrer Gesammtheit, durch die Beschaffenheit irgend einer „Volksseele“. Denn die wirthschaftlichen Interessen
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jeder einzelnen Gruppe (wohl zu unterscheiden von den Klassen!) schreiben ihr ein gewisses Verhalten anderen Gruppen gegenüber vor und geben ihr eine bestimmte Marschroute im unvermeidlichen sozialen Kampf. Ob auf dieses Verhalten und auf die Richtung ihres Vorgehens nirgend welche psychische Beschaffenheit nach Abstammung und Rasse (wovon wir überhaupt nichts wissen können) irgend einen Einfluß hat, Das ist sehr zweifelhaft.
Noch ein Grund, vielleicht der wichtigste, spricht für die Behandlung der Geschichte vom soziologischen Standpunkt. Nur von diesem Standpunkt aus kann man zu Erkenntnissen gelangen und Thatsachen feststellen, die sich kontroliren lassen und auf ihren Wahrheitgehalt geprüft werden können, während die heroistische und die nationale Geschichtschreibung sich in lauter Behauptungen ergeht, die man nicht kontroliren kann. Wenn uns z. B. die heroistische Geschichtschreibung Alexander des Großen Feldzug gegen Persien aus dessen Unternehmunglust und Abenteuersucht erklärt, so sit es doch nicht möglich, diese Behauptung nachzuprüfen. Denn was im individuellen Geiste vorgeht, mag wohl Gegenstand dichterischer Darstellung, schmeichlerischen Lobes oder verleumderischer Angriffe sein: wissenschaftlich erweisen läßt es sich nicht. Einer mag sagen, Alexander sei durch die homerischen Gesänge zu seinen Kriegszügen nach Asien begeistert worden; Andere wieder mögen behaupten, Goldgier habe ihn nach Persien getrieben. Wissenschaftlich läßt sich weder Dies noch Jenes begründen. Wenn wir aber – um bei dem Beispiel des Makedonierkönigs zu bleiben – sagen, daß ein kriegerisches Bergvolk, in seinen unfruchtbaren Wohnsitzen Mangel leidend und dem Selbstbehauptungtriebe folgend, keinen anderen Ausweg hatte als den, in den fruchtbaren Ebenen Kleinasiens hinabzusteigen und das nächste reiche Kulturland zu überrumpeln, um dessen Schätze zu rauben: so ist damit eine Wahrheit ausgesprochen, die immer und überall unter ähnlichen Verhältnissen konstatirt werden kann. Es handelt sich hier um eine allgemeine soziale Erscheinung; sie entspringt dem Selbstbehauptungtriebe der sozialen Gruppen, der sich immer und überall den Verhältnissen gemäß äußert. Freilich: wenn das arme Bergvolk schwach und von mächtigen, wehrhaften Staaten umgeben ist, also keine Raubzüge unternehmen kann, dann muß es sich begnügen, in den Ebenen – sagen wir meinetwegen –: Rastelbinderei zu treiben, wie es die armen Slovaken Oberungarns thun. Die sozialen Verhältnisse, denen sich der Selbstbehauptungtrieb anpassen muß, bewirken eben die historische Entwickelung. Ein Blick in diese Verhältnisse lehrt, warum es meist kriegerische Bergstämme waren, die über friedliche Thalwohner herfielen, sie unterjochten und so Staatengründer wurden. Ob in den Führern solcher Erobererbanden Ehrgeiz oder Habsucht wirkt, ob sie dem Drängen ihrer Umgebung folgen, aus Furcht vor Absetzung im Weigerungfalle: diese möglichen psychischen
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Motive, die im Individuum wirken, lassen sich wissenschaftlich nicht feststellen. Die soziale Erscheinung als solche aber ist sehr leicht aus dem Verhältniß der Gruppen zu einander und aus dem allseitigen Selbstbehauptungtrieb zu erklären.
Als Südeuropa, zur Zeit der Völkerwanderung von den nordischen Barbaren überfluthet, die römische Kultur vernichtet sah und sich allmählich in neuen Formen zu Reichthum und Kultur aufschwang, da waren es wieder barbarische Türkenhorden, die das Land überschwemmten und ihrer Herrschaft unterwarfen. Auch ier wäre es unwissenschaftlich, die Ursache der Türkeneinfälle in der Individualität der regirenden Sultane oder Großveziere zu suchen. Von Dem, was in der individuellen Psyche dieser Leute vorging, können Historiker je nach ihrer Phantasie uns allerlei „psychologische“ Darstellungen geben. Wissenschaftlich kann Keiner von ihnen seine Ansicht beweisen. Daß aber das kriegerische Türkenvolk die europäischen Kulturländer mit Krieg überzog, um reiche Beute einzuheimsen, Sklaven und Sklavinnen zu rauben: diese klare Thatsache beruht auf einem leicht nachweisbaren soziologischen Gesetz, das auch künftig wirksam sein wird.
Thöricht ist aber auch der Versuch, die geschichtlichen Ereignisse und Aktionen aus Ideen, religiösen oder nationalen, ableiten und so erklären zu wollen. Denn auch die Wahrheit solcher Behauptungen läßt sich wissenschaftlich nicht erweisen. Ob z. B. die Massen der Kreuzfahrer thatsächlich nach Jerusalem zogen, um das „Grab Christi zu befreien“, und weil „Gott es so wollte“: darüber sind nur Vermuthungen möglich. Vielleicht wirkte dieses Motiv bei den fanatisirten Massen mit. Sicher aber ist, daß die zuerst von der französischen und normännischen Ritterschaft unternommenen Kreuzzüge eine Fortsetzung der mittelalterlichen Raub- und Plünderungzüge aus der Zeit waren, wo Normannen und anderes Raubgesindel ganz Europa beunruhigten, reiche Städte überfielen und plünderten. Jetzt wollten sie ihr Glück auch in den Schatzkammern orientalischer Sultane versuchen, von denen fromme Pilger so viel zu erzählen wußten. Uebrigens hatte sich diese Ritterschaft in Frankreich und dem benachbarten Gebiet so vermehrt, daß für den Nachwuchs keine entsprechenden „Stellungen“, d. h. keine Fürstenthümer, Grafschaften, Herrschaften und Besitzungen mehr vorhanden waren. So mußte ein Streben nach Gebietserwerbungen entstehen und darum mußte diese abenteuernde Ritterschaft, dem Drang des Selbsterhaltungtriebes folgend, sich nach neuen Ländern umsehen, um sich da eine Existenz zu gründen. Der Gedanke an das von „Ungläubigen“ beherrschte Kleinasien lag nah. Und die Phrase von der „Befreiung des Heiligen Grabes“ bot den willkommenen Vorwand, nun bei dieser Unternehmung auch den Segen der Kirche zu erlangen. Und die Kirche hatte gleichfall ihre geschäftlichen
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Absichten. Wo immer die Herren Ritter Land und Leute erwarben, da ging die Kirche nie leer aus. Außerdem konnte sie den Rittern, die Reisegeld nach Palästina brauchten, ihre arg heruntergekommenen europäischen Ländereien für einen Pappenstiel abkaufen oder gegen baaren Vorschuß in Pfand nehmen. Meist verfielen dann diese Pfänder. Die Kirche ist eben eine soziale Institution wie andere auch, eine soziale Gruppe, die sich, wie jede andere, erhalten will. Genügsame Individuen kann es geben, auch einzelne Heilige, die Besitz und Vermögen verschmähen und auf irdische Güter verzichten. Aber soziale Gruppen sind nie so enthaltsam. Die Kirche als Institution hat die Natur einer sozialen Gruppe und als solche ist auch sie vom Selbstbehauptungtrieb beseelt. So lagen denn die Kreuzzüge im Interesse der verkrachten Ritterschaft und der vorwärts strebenden Kirche. Dieses der Kirche und dem Adel gemeinsame Interesse war die mächtigste Triebfeder der ganzen Aktion. Die frommen Schlagwörter waren auf die Massen berechnet, die man brauchte, da doch ohne Kanonenfutter kein Krieg geführt werden kann.
Die Historiker der Kreuzzüge aber stellen die ganze Aktion in panegyrischer und heroistischer Weise als ein Werk religiöser Begeisterung dar. Das thaten auch die Dichter der Kreuzzüge und Das ist ja recht schön; diese Geschichten in Reimen, die man Poesie nennt, und diese Poesie in Prosa, die man Geschichte nennt, haben auch ihre Existenzberechtigung, – nur sind sie keine Wissenschaft. Eine wissenschaftliche Darstellung der Kreuzzüge hat uns die wirklichen Triebfedern dieser Aktionen zu entschleiern, nicht nur auf wirthschaftlichem Gebiet, sondern vorwiegend auf sozialem Gebiet, d. h. auf dem Gebiet der gegenseitigen Verhältnisse der in Betracht kommenden sozialen Gruppen.
Vielleicht wird nun gesagt werden, die Geschichtschreibung müsse unerträglich langweilig werden, wenn sie immer und ewig das selbe Lied von den sozialen Ursachen der Ereignisse, von dem Selbstbehauptungtrieb der Gruppen und dem „Rassenkampf“ herunterleiere. Diese Einwendung wäre aber nicht stichhaltig. Denn erstens ist es ja nicht die Aufgabe der Wissenschaft, uns ein schönes Wandelpanorama vorzuführen, sondern, uns die Erkenntniß der Wahrheit zu vermitteln, möge diese Wahrheit auch noch so monoton und langweilig sein. Auch andere Wissenschaften operiren nur mit einigen Grundkräften, durch die sie alle Erscheinungen ihres Gebietes erklären, ohne dadurch ihren wissenschaftlichen Charakter einzubüßen, so z. B. die Astronomie. Sie erklärt alle Erscheinungen des ganzen Planetensystems durch Schwere und Anziehung. Und es bildet gerade einen großen Reiz und Vorzug dieser Wissenschaft, daß sie mit der Annahme fast nur zweier Grundkräfte die ganze Fülle und Mannichfaltigkeit der Erscheinungen der Planetenwelt erklärt. So braucht denn auch bei der soziologischen Auffassung der Geschichte eine Minderung
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ihrer Wissenschaftlichkeit keineswegs befürchtet zu werden; und eben so wenig eine Abschwächung des Interesses an der Geschichtschreibung. Denn wenn auch eine solche Auffassung der Geschichte immer und überall die selbe Triebfeder des Vorgehens der Gruppen sieht, so sorgt doch schon die Verschiedenheit dieser Gruppen nach Abstammung, wirthschaftlicher Lage, politischer und sozialer Stellung, Bildung, Sittlichkeit u. s. f. für eine solche Mannichfaltigkeit der durch die selbe Triebfeder verursachten Aktionen, daß eine Monotonie nicht zu befürchten ist.
Auf den ersten Blick könnte es freilich scheinen, daß diese sozialen Gruppen, da sie überall in den selben Verhältnissen zu einander stehen, als herrschende, beherrschte oder Mittelklassen, überall in gleicher Weise handeln und vorgehen, daß man also die ganze Weltgeschichte nach soziologischer Auffassung mit einem Schema erledigen könnte. Aber welche individuelle Verschiedenheit der Gruppen wird schon allein durch Zeit und Ort erzeugt, in denen der Gruppenkampf sich abspielt! Dazu kommen dann noch die ethnographischen, nationalen und kulturellen Verschiedenheiten und endlich die Einflüsse der geographischen und wirthschaftlichen Umwelt. Die individuell-psychologischen Beweggründe des Handelns der „Heroen,“ der Herrscher und Staatsmänner, können gar nicht so mannichfach sein wie die das Vorgehen der Gruppen bestimmende Verschiedenheit des geographischen und sozialen Milieus. Für die Behandlung der Geschichte vom soziologischen Standpunkt aus sprechen alos zunächst alle wissenschaftlichen Gründe: die Möglichkeit der Erkenntniß der Wahrheit – und Das ist der eltzte Zweck aller Wissenschaft –, der Nachweis eines Naturprozesses – und Das ist der Gegenstand jeder Wissenschaft –; endlich die Möglichkeit, zur Formulirung oberster Gesetze aller sozialen Entwickelung, also zum höchsten Ziel aller Wissenschaft, zu gelangen. Von Alledem kann bei der individuell-heroistischen Behandlung der Geschichte gar nicht die Rede sein. Denn nie und nimmer läßt sich eine historische Wahrheit auf individuell-psychologischer Grundlage feststellen; auch können Thaten und Handlungen der Herrscher und Staatsmänner, so lange sie als Ausfluß ihres freien Willens dargestellt werden, uns nicht den Verlauf eines Naturprozesses veranschaulichen; endlich kann die individuell-heroistische Geschichtschreibung nie und nimmer zur Formulirung oberster Gesetze historischer Entwickelungen gelangen, die sie auch gar nicht anstrebt, weil doch solche obersten zwingenden Gesetze mit den „freien“ Willensakten ihrer Helden nicht vereinbar sind und weil sie fürchten müßte, durch Formulirung solcher Gesetze dem „Heldenthum“ und der „persönlichen Größe“ der Männer Eintrag zu thun, um deren Verherrlichung es den heroistischen und nationalen Historikern bei ihrem Bemühen doch vor Allem zu thun ist.
Graz. Professor Ludwig Gumplowicz.
1S. „Zukunft“ vom 9. Dezember 1899.