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Soziologische Geschichtauffassung, in: Die Zukunft (Berlin), Jahrgang 1899, Bd. 29, S. 406-414.
Soziologische Geschichtauffassung.
Ludwig Gumplowicz
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Bald heftiger, bald schwächer tobt der Kampf um die „Geschichtauffassung“. Ein Ende ist noch lange nicht abzusehen. Wird ein neues Schlagwort ausgegeben, das auf einer Seite den Muth der Angreifer hebt, so richten sich die giftigen Pfeile der Vertheidiger der alten Festung so lange auf sie, bis ihre Reihen gelichtet sind. Alle Angriffe auf die alte feste Burg heroistischer Geschichtauffassung nützen wenig. Denn sie hat einen mächtigen Verbündeten. Er haust tief in der Seele des Durchschnittsmenschen, des Herrn Omnes: es ist der alte Hang zum Götzendienst. Der Mensch ist nämlich ein Thier, das Götzen anbetet, – gleichviel, unter welcher Gestalt. Ist gar dieser Götze mit Purpur behangen und mit Krone und Szepter geziert, ach! – dann ist es die höchste Wonne dieses Herrn Omnes, auf die Knie zu fallen und anzubeten. Es macht ihm Vergnügen; und weil es ihm Vergnügen macht, wird es immer Historiker-Bonzen geben, die ihm dieses Vergnügen bereiten wollen, zu eigenem Nutz und Frommen.
Leider waren die Bilderstürmer, die solches Gebahren abschaffen wollten, bisher in ihren Angriffen nicht glücklich. Die Angriffe wurden meist abgeschlagen. Marxens „materialistische Geschichtauffassung“ war ein solcher Angriff. Danach sollte nicht der Wille der Herren, sondern der Hunger der Massen die Triebfeder der Geschichte sein. Engels mußte seinem hart ins Gedränge gerathenen Freund zu Hilfe kommen. „Unsinn!“ meinte er: „die materialistische Geschichtauffassung ist keineswegs eine lediglich die wirthschaftlichen Triebfedern berücksichtigende, denn sie berücksichtigt eben so alle geographischen, ethnischen, ja sogar ideologischen Faktoren; auch der Einfluß der Ideen läßt sich ja nicht leugnen und spielt in Geschichtprozeß eine Rolle. Und die Berücksichtigung all dieser Faktoren beeinträchtigt durchaus nicht die materialistische Geschichtauffassung.“ Ob Marx die Sache nun so auffaßte oder nicht: seine Anhänger vervollkommneten jedenfalls die ihm zugeschriebene „materialistische Geschichtauffassung“ und machten sie nun gegen die Pfeile der Gegner etwas fester. Sie zögerten nicht, die „materialistische“ Triebfeder aller geschichtlichen Entwickelung als nicht blos „wirthschaftliche“ zu erklären, sondern den Begriff materialistisch in diesem Fall auf alle thatsächlich und real wirkende Ursachen auszudehnen. Daher auch allerhand Ideen, wie z. B. Glaube, Nationalität, Freiheitbedürfniß als in der Geschichte konkret wirksam anzuerkennen und diese Anerkennung als mit der materia-
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listischen Geschichtauffassung keineswegs unvereinbar, ja, nothwendig zu ihr gehörend darzustellen.
Aber diese neueste – allerdings sehr vervollkommnete und verfeinerte – materialistische Geschichtauffassung übersieht die allermächtigste Triebfeder alles historischen Geschehens, die immer und überall den historischen Prozeß in Bewegung setzt und die sehr wohl als die Haupttriebfeder bezeichnet werden könnte, neben der alle vorhin genannten Verursachungen nur als von untergeordneter Bedeutung erscheinen. Ich meine die Triebfeder des sozialen Antagonismus.
Mag es der Hunger sein, die wirthschaftliche Noth, die eine Volskmasse antreibt, sich günstiger Subsistenzbedingungen zu erkämpfen; mag es religiöser Fanatismus oder nationaler Chauvinismus sein, der die Massen bewegt und sie zu politischen Unternehmungen aufstachelt: jedenfalls und immer sind solche Unternehmungen und Aktionen gerichtet von den einen Massen gegen andere, seien es nun Nationen, Völker, Stämme oder soziale Gruppen. Es giebt keine anderen politischen Aktionen, es giebt kein historisches Geschehen, das nicht einen sozialen Antagonismus zum Inhalt hätte, das nicht einen solchen zum Ausdruck brächte.
Die Historiker können ewig darüber streiten, ob die Bauernaufstände Folge wirthschaftlicher Noth oder politischen Druckes waren, ob sie geschürt wurden durch evangelische Aufwiegler oder, wie in den österreichischen Alpenländern, von nationalem Haß angefacht wurden: nur Eins unterliegt keinem Zweifel und darüber wird unter Historikern nie Streit bestehen, daß es Bauern waren, die gegen „Pfaffen und Adel“ sich erhoben. Und eben so verhält es sich bei jedem historischen Ereigniß. Ob die französische Revolution ein Werk der Encyklopädisten, eine Folge der aufwiegelnden Schriften Voltaires und Rousseaus war, wie man uns im Gymnasium lehrte, ob sie durch Noth und Hunger verursacht wurde, iwe es Hippolyte Taine beweist: darüber mag es unter Historikern immer Streit geben. Aber über die Thatsache kann es keinen Streit geben, daß der „Dritte Stand“ über die zwei höheren Stände über Adel und Klerus, herfiel. Meinetwegen mag darüber gestritten werden, was die Ursache war, daß die Amerikaner den Spaniern Kuba und die Philippinen entrissen. Mögen die Einen Handelsinteressen, die Anderen Freiheitinteressen, die Dritten schmutzige amerikanische Parteiinteressen als die Ursachen bezeichnen; nur darüber kann nicht gestritten werden, daß es eine angelsächsische Kulturgruppe war, die über eine romanische Nation herfiel, daß Yankees sich auf Spanier stürzten, um ihnen eine von ihnen besessene gute Beute abzujagen.
Welcher Meinung also immer man bezüglich der Triebfedern geschichtlicher Handlungen und Ereignisse huldigen mag: nie und nimmer kann die Thatsache bestritten werden, daß alles geschichtliche Geschehen immer ein Kampf
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heterogener Gruppen, sei es nationaler oder sozialer, gegen einander ist. Wenn wir unter diesem Gesichtspunkt die geschichtlichen Ereignisse betrachten, so gelangen wir zu einer Auffassung die nicht materialistisch und nicht idealistisch, sondern soziologisch ist. Es ist einfach die Auffassung alles geschichtlichen Geschehens als eines Kampfes von Gruppen gegen Gruppen. Und wenn die induktive Methode die einzige echt wissenschaftliche ist, so kann eine solche nur dann auf die Geschichte Anwendung finden, wenn man die Geschichte soziologisch auffaßt.
Denn die erste in die Augen fallende Thatsache, die sich bei jedem geschichtlichen Ereigniß zunächst konstatiren läßt, ist der Kampf von mindestens zwei Gruppen gegen einander. Die Ursachen eines solchen Kampfes sind nicht mehr so klar; sie können verschieden sein und sind nicht so leicht zu konstatiren; als feste Grundlagen einer induktiven Forschungmethode können sie nicht dienen. Denn weder individuell-psychologische noch auch wirthschaftliche oder gar andere allgemeine ideelle Antriebe zu historischen Handlungen lassen sich unzweifelhaft feststellen: sie beruhen immer nur auf mehr oder minder sicherer Annahme und stoßen immer bei anderer subjektiver Stimmung und Auffassung auf entgegengesetzte Annahmen. So gelangt man mit diesen – sei es materialistischen oder idealistischen – Methoden nie zu sicheren überall anerkannten Erkenntnissen. Freilich mag es ja eine Aufgabe der Geschichtforschung bleiben, all jenen individuell-psychologsichen und sozial-psychischen Ursachen geschichtlicher Ereignisse naczugehen und, so weit es möglich ist, die Mannichfaltigkeit solcher Ursachen in gewisse allgemeine Formeln zu bringen, das gesetzmäßige Walten solcher Ursachen festzustellen. Doch ist es klar, daß all diese – auch noch so verfeinerte – „materialistische“ Geschichtauffassung an Sicherheit der Feststellungen und zugleich an Weite des Horizontes und daher auch an der Möglichkeit der Aufstellung umfassender allgemeiner Gesetze sich mit der soziologischen Auffassung nicht messen kann. Denn diese umfaßt ja alle die Gesichtspunkte der materialistischen und idealistischen Geschichtauffassung, nur nimmt sie einen viel höheren, allgemeineren Standpunkt ein, ihr Horizont ist ein weltumspannender und die Gesetze der Geschichte, die die soziologische Auffassung aufstellt, gelten immer und überall, für vorhistorische Zeiten wie für unsere Tage, für alle Rassen der Welt, für gelbe, rothe, schwarze und weiße Menschenwelten.
Denn die soziologische Auffassung bringt, ausgehend von der konkreten und unbestreitbaren Thatsache des ewigen Gruppenkampfes, von diesem Punkt allmählich zur Erforschung der ursachen dieser ewigen Kämpfe vor, um auf diesem Wege zur Aufstellung eines allgemeinen Gesetzes, das alle diese Kämpfe beherrscht, zu gelangen. Die allgemeine Formel, durch die ein solches Gesetz ausgedrückt werden soll, wird dann vollkommen und er-
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schöpfend sein, wenn in ihr alle Ursachen, die bisher von der materialistischen Geschichtauffassung als bei allen Geschichtprozessen real und wirksam erwiesen worden sind, ihren genügenden Ausdruck finden. Die allgemeine Formel, die von der soziologischen Geschichtauffassung aufgestellt wird, muß nicht nur alle jene Triebfedern der historischen Aktionen umfassen, die von der materialistischen Auffassung bisher konstatirt wurden, sondern auch alle übrigen deren Unkenntniß es verschuldet, daß die materialistische Auffassung zur Erklärung des Verlaufes der gesammten historischen Entwickelung aller Zeiten und aller Welttheile sich als ungenügend erweist.
Bevor wir uns aber auf die Suche begeben nach einer solchen Formel, wollen wir zuerst noch unseren Ausgangspunkt prüfen, um zu sehen, ob er denn auch der richtige ist, ob es denn auch wahr ist, daß es kein geschichtliches Geschehen ohne Gruppenkampf giebt.
Ich kann hier unmöglich alle die Begründungen und Nachweise der Richtigkeit dieser übrigens augenfälligen Thatsache wiederholen, die ich seit einem Vierteljahrhundert in vielen Schriften vorgebracht habe. Allerdings trugen mir diese Nachweise und Ausführungen allerhand Kosenamen. Aber Keiner der vielen Kritiker und Tadler konnte mir auch nur eine gegentheilige Thatsache anführen, zum Beweise, daß dort und damals ohne Zusammenstoß heterogener Gruppen eine generatio aequivoca historischen Geschehens erfolgte, daß irgendwo der Strom der Geschichte aus einheitlicher Quelle entsprang. Diesen Beweis blieben alle Tadler und Kritiker schuldig; und sie mußten ihn schuldig bleiben. Denn mag man auch noch so weit und breit all die Gebiete historischer Thatsachen überschauen, von bekannten Welttheilen in die entlegensten Winkel der Oekumene mit Entdeckern und Forschern vordringen; mag man die herkömmliche und überkommene „Weltgeschichte“ von den ältesten Zeiten oder die Staaten und Reiche, die die neuesten Papyrus-Entzifferer und Keilinschriftenleser vor unserem staunenden Geist aus Verschollenheit und Vergessenheit zu neuem Leben zu erwecken wußten, betrachten: überall überall bietet sich uns das selbe Schauspiel dar. Nur aus dem Zusammenstoß heterogener ethnischer Elemente entstehen die Staaten und alle Geschichte ist nur ein Kampf solcher gegnerischen Elemente. Und mag dieser Kampf auch die ganze Stufenleiter von den rohesten bis zu den feinsten Formen durchlaufen, von primitivem Kanibalismus zu den verfeinertsten und raffinirtesten Formen der Ausbeutung der „Anderen“, so ist doch diese Erscheinung eine so allgemeine, alle Zeiten und Länder umfassende, daß man nach aller menschlichen Logik hier getrost von einem allgemeinen Gesetz sprechen kann, das alle menschliche Geschichte beherrscht.
Wenn nun aber dieses Gesetz so klar und unwiderleglich ist, dann darf auch gefragt werden: Wird es von der heutigen Wissenschaft anerkannt?
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Stimmen die heutigen Gelehrten einem so formulirten soziologischen Gesetz der Geschichte zu? Nun: es giebt Gegner und Anhänger. Die Gegner bilden die Mehrzahl. Es ist die ganze offizielle und zünftige Juristerei und die mit ihr verbündete Katheder-Staatsrechtlerei. Diese ganze mächtige Phalanx runzelt zornig die Stirn und wendet sich unwillig ab von dieser „jeden juristischen Sinnes baren“ Lehre. Was soll sie auch mit einer Lehre anfangen, die Miene macht, alle die gestrengen Herren Rechtslehrer aus dem Tempel der Staatswissenschaft hinauszujagen? „J'y suis et y'y reste“, sagt die Juristerei; „das Staatsrecht steht auf unserem Boden, wir lassen es uns nicht nehmen, – hinaus mit den Soziologen!“
Doch „drei Namen nenn' ich euch inhaltsschwer“: Wundt, Ratzel und Ratzenhofer.
Wundt giebt zu, daß die Zukunft der Staatswissenschaft in der soziologischen Methode liegt. Ratzel hat in einer Reihe von Werken (zuletzt in der „Politischen Geographie“) gezeigt, daß die wahre Erkenntniß des Staates ganz anderswo liegt als auf dem Gebiete des Rechtes; daß es Faktoren giebt, die gestaltend den Staat beeinflussen, seine Schicksale und Wandlungen bestimmen, seinen Bestand bedingen, seinen Zerfall beschleunigen, Faktoren, von denen die gesammte bisherige juristische Staatsrechtlerei sich nichts träumen ließ. Und der Dritte im Bunde, Ratzenhofer, hat einen kühnen systematischen Bau aufgeführt, in dem er uns die Geschichte als das Leben der Staaten und im Staat all die sozialen Triebfedern aufweist, die seinen Lebensprozeß unterhalten. Geschichte und Staat treten uns bei ihm entgegen als Makro- und Mikrokosmos, in denen die selben sozialen Kräfte wirken, die ihrer Natur nach sich austoben müssen und nur im ewigen Kampf sich austoben können.
Von zwei verschiedenen Seiten packen Ratzel und Ratzenhofer das Problem an, Jener vom Boden, Dieser von den sozialen Gruppen aus, doch ergänzen sie einander. Zusammen führen sie den Nachweis, daß, was den Staat belebt und die Geschichte in Bewegung setzt, alles Andere eher ist als der Mensch. „Der Boden ists, das geographische Milieu mit Allem, was drum und dran hängt“, sagt Ratzel; „die heterogenen sozialen Gruppen sinds, in denen Kräfte sich geltend machen, die nicht individuelle Vernunft, nicht menschlicher Wille, menschliche Ueberlegung sind“ sagt Ratzenhofer. Was fangen Juristen, was fängt der juristische Staatsrechtler mit solchen Lehren an, die ihre schönen Konstruktionen umstürzen? Sie treiben die Politik des Vogels Strauß und müssen sie treiben. Denn wenn an die Stelle des „sittlich freien“ Menschen, der den Staat „gründet“ und die Geschichte macht, „Kräfte“ gesetzt werden, die keiner „Rechtskontrol[l]e“ sich beugen und kein anerkennen, dann ist nach beschränktem Juristensinn das Ende der Welt nicht mehr weit.
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Und auch die Historiker werden arg vor den Kopf gestoßen, wenn Ratzel den Satz aufstellt, daß „der Gegensatz von Herrschenden und Unterworfenen ... auf den kriegerischen Ursprung der Staaten zurückführt“ und daß es „auf einer falschen Auffassung von der Entwickelung der Staaten beruht, wenn man Einem vor dem Anderen die Fähigkeit zuspricht, sich aus sich selbst zu entwickeln“. Was soll angesichts solcher allgemeine Giltigkeit beanspruchenden Sätze aus den schönen Schilderungen der Historiker werden, wie sich aus ursprünglicher germanischer oder slavischer „Gemeinfreiheit“ durch „allmähliche“ Entwickelung die germanischen oder auch slavischen Staaten bildeten? Geht nicht die ganze Idylle „nationaler Geschichtschreibung“ in die Brüche, wenn Ratzel den Satz aufstellt, daß „diese Nothwendigkeit fremder Elemente in der Staatenbildung ein Licht wirft auf das Unvermeidliche der Völkermischungen?“ Wenn in Folge dieser Anschauung Ratzel den Satz aufstellt, daß „die politische Entwickelung der Menschheit mindestens eben so ausgleichend auf die Völker- und endlich auf die Rassenunterschiede wirken mußte wie der Verkehr, auch wenn man die Kriege mit ihrem unvermeidlichen Menschenraub und -austausch bei Seite läßt“: dann ist das alte Ammenmärchen von der allmähligen Differenzirung der ursprünglich einheitlichen Menschheit in verschiedene Rassen von autoritativster Seite bestritten und es bleibt kein anderer Ausweg als die Annahme eines ursprünglichen Polygenismus, der im Laufe geschichtlicher Entwickelung zu einer Anzahl Konglomeraten heterogener Elemente führt, die sich zu Nationen und Nationalitäten heranbilden. Damit ist den bisherigen entgegengesetzten Grundanschauungen der Geschichtschreibung, auf denen sie alle ihre geschichtphilosophischen Systeme aufbaut, jeder Boden entzogen. Dieser Geschichtschreibung und dieser Geschichtphilosophie wirft Ratzel den Fehdehandschuh hin, wenn er aus allen vorhergehenden Ausführungen den nothwendigen Schluß zieht, daß „wir die Geschichte keines Volkes verstehen können, auch wenn es scheinbar einheitlich ist, ohne über seine Grenze hinaus den Blick auf die Herkunft und die Wiege des fremden Volkes oder der fremden Völker zu richten, die zu diesen gestoßen sind und ihre Einflüsse auf sein Wesen ausgeübt haben.“ Mit diesem Satz ist die vollkommene Unzulänglichkeit, ja Verkehrtheit aller üblichen „nationalen“ Geschichtschreibung gekennzeichnet, die sich in naiven Schilderungen der Kindheit ihrer Nation gefällt, der sie allerhand liebenswürdige Eigenschaften andichtet, um sie am Liebsten sofort in Gegensatz zu unschönen Zügen anderer Nationen zu stellen, ohne zu bedenken, daß in jenem „Kindheitalter“ es eine solche nationale Einheit als Trägerin solcher Charaktereigenschaften überhaupt nicht gab und daß jede Nation ein mixtum compositum ist aus allerhand heterogenen Elementen, es daher vollkommen unzulässig ist, jener erdichteten, in die Vergangenheit
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projizirten Einheit ein Gepräge zu verleihen, das sie schon deshalb nicht besitzen konnte, weil sie als Einheit gar nicht bestanden hat.
Auch vom anthropogeographischen Standpunkt Ratzels aus muß solche – von den Historikern mit Vorliebe gepflegte – Charakteristik „unserer Vorvordern“ schon aus dem Grunde abgelehnt werden, weil er jede Möglichkeit des Entstehens eines Staates und daher auch einer Nation ohne Zusammenstoß heterogener ethnischer Elemente ausschließt, mag nun dieser Zusammenstoß ein gewaltsamer (Landnahme) oder ein mehr friedlicher auf dem Wege der Kolonisation – die aber nie ganz friedlich vor sich gehen kann – gewesen sein. Jedenfalls aber sit die einheitliche Nation „in der Kindheit“ oder im „Urzustande“ ein Hirngespinnst „nationaler“ Historiker.
Nachdem wir nun festgestellt haben, daß es ohne Kampf heterogener Elemente keine Geschichte giebt, eben so wenig, wie es ohne Aufeinanderwirken heterogener chemischer Elemente einen chemischen Prozeß geben kann, wollen wir die Frage untersuchen, welche Ursache oder Kraft es wohl ist, die diese heterogenen Elemente zum Kampf mit einander treibt. Sollte es vielleicht der Hunger sein, dem Schiller in seinem bekannten Wort eine solche Rolle zuweist? Ratzel scheint sich dieser Ansicht anzuschließen, wenn er den „Brotneid“ als das mächtigste Agens aller sozialen Entwickelung hinstellt. Ich meine, es wäre mindestens nicht ganz genau, wenn wir dem Hunger diese Bedeutung beimessen würden. Sehen wir doch täglich soziale Gruppen im Kampf, die um ihr täglich Brot nicht besorgt zu sein brauchen, da sie es in Hülle und Fülle für sich und ihre Nachkommen besitzen. Wäre Hunger die einzige Triebfeder der Politik: was brauchten da die feudalen Herren aus ihren Palästen auf die Straße herabzusteigen und sich ins politische Getriebe zu mischen, Agitationen zu leiten, sich allerhand Unannehmlichkeiten und Gefahren auszusetzen? Oder betrachten wir die ecclesia militans, die politisirenden Prälaten, so manchen streitbaren Bischof: sie treibt doch gewiß der Hunger nicht und doch opfern sie in der „Vertheidigung der Kirche“ oft ihr persönliches Wohl, ihre Ruhe und Sicherheit. Oder sollte es vielleicht Habgier sein, Gewinnsucht, die auri sacra fames? Auch Das nicht, – wenigstens nicht immer. Gewiß treiben Viele Politik aus Gewinnsucht, andere aber opfern der Politik ihr Vermögen, setzen ihr Hab und Gut aufs Spiel. Dann ist es vielleicht Ehrgeiz, Ruhmsucht, Herrschsucht, das Streben nach Einfluß, nach Titeln und Würden? Alle solche „Triebe“ können bei Einzelnen eine gewisse Bedeutung haben, genügen aber nicht zur Erklärung sozialer Bewegungen und Kämpfe, schon deshalb nicht ,weil solche Triebe stets nur individuell sind, zu sozialen Kämpfen aber immer Massen nöthig sind, denen man solche individuelle Absichten und egoistische Ziele keineswegs zumuthen kann.
Wenn Parteien und soziale Gruppen einen Kampf eröffnen, so wird
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ihnen gewiß Niemand Ehrgeiz, Ruhmsucht, Streben nach Titeln oder sonstige kleinliche Motive unterschieben, die höchstens dem einen oder anderen Führer zugemuthet werden dürfen. Dagegen werden Parteien, Gruppen und auch die Mehrzahl Einzelner von einer ganz anderen Kraft zu sozialen Kämpfen gedrängt und getrieben, die ich einfach als den Selbstbehauptungstrieb bezeichnen möchte. Das ist der sowohl in jedem einzelnen Organismus, von der Pflanzenwelt an, wie auch in jeder Gruppe und Gattung als Gesammtheiten unwiderstehlich waltende Trieb, sich geltend zu machen und sein Eigenwesen zu behaupten. Und zwar ist Das nicht etwa „freier Wille“ des Einzelnen oder gar der Gruppe und Gattung, sondern es ist überwältigendes, unwiderstehliches, allüberall herrschendes Naturgesetz, es ist die ewige „Urkraft,“ um mit Ratzenhofer zu sprechen. Wie jeder Organismus ein Inbegriff gewisser Kräfte zu sein scheint oder ist, die sich in der Außenwelt geltend zu machen, sich durchzusetzen streben, eben so strebt jede soziale Gruppe, sich zu behaupten und geltend zu machen, und zwar nicht nur durch ein bloßes Vegetiren, sondern dadurch, daß sie ihrem innersten Wesen, ihrem geistigen Kern sozusagen in der äußeren Welt Ausdruck zu schaffen bestrebt ist. Dieses Streben, sein innerstes geistiges Wesen nach außen hin geltend zu machen, möchte ich einfach als den Trieb der Selbstbehauptung bezeichnen, der sowohl den Individuen als auch den Gruppen angeboren ist. Dieser Selbstbehauptungtrieb ist schwächer oder stärker, je nach der größeren oder geringeren physischen und geistigen Kraft des Individuums und der Gruppe. Bei schwächeren Individuen und Gruppen äußert er sich nur in der Nahrungsuche, auch vielleicht noch in der Gründung einer Heimstätte und Siedelung, in deren Sicherung vor feindlichem Angriff, endlich auch in der Fortpflanzung. Bei kräftigeren Individuen und Gruppen wird dieser Selbstbehauptungtrieb sich in gewaltsamen Thaten äußern, in Ueberwältigung fremder Individuen und Gruppen, in ihrer Unterjochung, in Eroberung immer weiteren Gebietes, endlich in Unterwerfung immer zahlreicherer schwächeren Gruppen.
Aus der heute wohl nicht mehr angezweifelten Thatsache eines ursprünglichen Polygenismus, d. h. eines ursprünglichen Vorhandenseins heterogener Gruppen, die von den sie umgebenden verschiedenen Milieus mit verschiedenen Begabungen und Kräften ausgestattet sind, und aus der zweiten Thatsache, daß jede dieser Gruppen von einem Selbstbehauptungtrieb beseelt ist, ergeben sich unvermeidlich die feindsäligen Zusammenstöße, die den Entwickelungprozeß der Menschheit in Fluß bringen. Aus jener Urthatsache eines über den ganzen Erdball weithin verbreiteten Polygenismus und aus der Verschiedenheit der einzelnen Menschengruppen, welche die nothwendige Konsequenz der Mannich-
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faltigkeit der Bodenbeschaffenheit, der Lage, des Klimas, der Fauna und Flora auf diese verschiedenen Menschengruppen ist, entspringt mit Nothwendigkeit der Strom der Geschichte oder, besser gesagt, die große Anzahl von Geschichtströmen auf allen bewohnten Punkten unseres Erdballes, die überall nach dem selben Gesetz die unzähligen Menschengruppen in ihre Wirbel fortreißen. Dieses Gesetz aber lautet: Die Stärkeren herrschen.
So haben wir es denn in der Geschichte der Menschheit mit einem Naturprozeß zu thun, der in der Verschiedenheit und Mannichfaltigkeit wurzelt, die unsere Erdringe darbietet. Denn diese erzeugt die ursprüngliche Heterogeneität der Gruppen, von denen jede sich in ihrer Eigenart behaupten und geltend machen will, was unvermeidlich zum Kampf und durch diesen Kampf zu den Zwangsorganisationen der Herrschaft der Einen über die Anderen führt, die wir Staaten nennen. Daraus geht aber auch hervor, daß es ohne solche Kämpfe, ohne diese unvermeidlichen Aeußerungen des Selbstbehauptungtriebes der Gruppen, nie eine Entwickelung der Menschheit, nie Staaten und nie eine Geschichte gegeben hätte.
Die Aufgabe iner wissenschaftlichen Geschichtschreibung kann daher keine andere sein als eben die Darstellung dieses überall im Bereich der Oekumene sich abspielenden Naturprozesses, der immer wieder vom Kampf zu Staatengründung führt und in fortgesetzten, ewigen Kampf der sozialen Gruppen im Staate dessen innere Struktur den stets sich ändernden Machtverhältnissen dieser sozialen Gruppen anpaßt. Dabei fällt dem Staat als solchem die Rolle zu, diese ungleichen sozialen Elemente durch eine ihnen aufgezwungene Rechtsordnung und deren Aufrechthaltung stets in einem allerdings labilen Gleichgewicht zu erhalten. Ich sage: in einem labilen Gleichgewicht; denn von einem stabilen Gleichgewicht kann nie und nimmer die Rede sein, ein solches kann nie erreicht werden. Denn in der Natur herrscht überall Bewegung, da Lebe doch nichts Anderes ist als Bewegung. Daher ändert sich auch im Staat der Kräftezustand der einzelnen Gruppen stets und diese Aenderungen müssen, in Folge des Selbstbehauptungtriebes jeder Gruppe, gleich wieder eine entsprechende „Umwälzung“ oder, wie man es auch zu nennen liebt, einen „Umsturz“ der bisher bestandenen Rechtsordnung herbeiführen. Dieser fortwährende Anpassungprozeß der öffentlich rechtlichen Formen des Staates an die stets in Fluß begriffenen Machtverhältnisse der sozialen Gruppen bildet den Kern aller „politischen Geschichte“ und ihre Darstellung die einzig wissenschaftliche Aufgabe der Geschichtschreibung.
Graz. Professor Ludwig Gumplowicz.