Der Latifundien-Marx, in: Die Zukunft (Berlin), Jahrgang
1898, Bd. 24, S. 106-110. (Vgl. hierzu die Erwiderung von Oppenheimer, ebd.: 327).
Herrn Dr. Franz
Oppenheimer möchte ich den Latifundien-Marx nennen. Denn sein
„Großgrundeigenthum“
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ist eigentlich nichts Anderes als ein
ins Latifundienhafte übersetztes marxisches „Kapital“. „Das Kapital“, sagt
Marx,
„voilà l'ennemi!“ „Das Großgrundeigenthum ists,“ sagt
Oppenheimer. Beide mögen Recht haben; Beide ergänzen einander sogar. Denn
man könnte ja die beiden Thesen vielleicht unter einen gemeinsamen Nenner bringen.
Wie würde der lauten? Sehr einfach: „Reichthum erzeugt Armuth!“ Als es keinen
Reichthum gab, gab es keine Armuth. Allerdings entsteht Reichthum aus der Armuth,
chronologisch und auch wirthschaftlich betrachtet; aber je mehr er wächst, um so
mehr drückt er auf die Armuth und daher kann man füglich auch sagen, daß erst der
Reichthum die „drückende Armuth“ erzeugt. Das hat
Marx in seinem
„Kapital“ logisch für den beweglichen Reichthum nachgewiesen und
Oppenheimer weist es eben so logisch für den unbeweglichen Reichthum nach.
Sein Grundgedanke ist sehr klar. Wenn sich Doktoren der Medizin, und ein solcher
Doktor ist ja
Oppenheimer,
mit der sozialen Frage beschäftigen, glauben sie, an einem Krankenbett zu stehen.
Die Menschheit ist der Patient. Sie suchen nun nach der „
kausa
morbi.“
Oppenheimer will
sie im Großgrundeigenthum gefunden haben. Das ist vielleicht etwas einseitig, aber
nicht unrichtig. Wenn die Menschheit ein Organismus ist und wenn die soziale Frage
eine „Krankheit“ ist (Beides habe ich mir in meinem „Allgemeinen Staatsrecht“
anzuzweifeln erlaubt), dann ist der Großgrundbesitz gewiß eine der Hauptursachen
dieser „Krankheit“. Wie nun
Marx den ganzen Prozeß
der Verursachung dieser Krankheit durch das Kapital aufdeckt, so deckt
Oppenheimer den Prozeß der Verursachung des sozialen Nothstandes durch den
Großgrundbesitz auf. „Das Großgrundeigenthum,“ sagt er, „ist ein Hochdruckgebiet,
von dem endlos Menschenfluthen hereinströmen und die Niederungen (die Städte)
verwüsten.“ Vollkommen richtig. Ganz so richtig weist
Marx nach, daß aus der
Summirung der zahllosen ganz minimalen Mehrwerthe, die die „Plusmacher“ den
Arbeitern täglich und stündlich wegstibitzen, das Kapital entsteht, das die Arbeiter
immer elender macht. Industriebarone hier, Landbarone dort verrichten die selbe
Arbeit der Verelendung der Massen. Ich sage:
Marx und
Oppenheimer ergänzen einander; denn Jeder schildert die eine Hälfte des
sozialen Prozesses, der „Erkrankung des Organismus“.
Der Landbaron drückt auf seinem Großgrundbesitz den Bauern:
nun fließt der gedrückte Menschenstrom in die Niederung, in die Städte. Hier
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wartet seiner schon der schlaue Industriebaron, um den hilflosen
Menschenstrom in die bereit gehaltenen Rinnsale zu fassen und ihn auf die Räder
seiner Fabrik zu leiten, um da durch ihn seine Maschinen treiben zu lassen.
Marx eiferte gegen die böse Plusmacherei der Industriebarone;
Oppenheimer faßt die
causa morbi noch tiefer. Er
meint: Schaffen wir jenen Hochdruck an der Quelle ab, heben wir den Großgrundbesitz
auf, dann fließt der hilflose Menschenstrom nicht in die Städte, dann hat der
Industriebaron das Nachsehen, dann laufen „zwei Unternehmer dem einen Arbeiter
nach“, nicht zwei Arbeiter einem Unternehmer, - und dann bricht das Zeitalter der
Wahrheit und Gerechtigkeit an. Dann kommt die Zeit, mit deren begeisterter
Schilderung
Oppenheimer sein
Werk schließt, die Zeit, wo die „Gesellschaft sich auch politisch in Freiheit,
Gleichheit und genossenschaftlicher Brüderlichkeit selbst verwaltet“; wo „der Staat
eine Wohlfahrteinrichtung für Alle“ sein wird; wo die „Demokratie Frieden halten
wird nach außen wie nach innen“; wo „ein einziger großer Friedensbund die Völker
umschließen wird, die dann erst den Namen Kulturvölker führen dürfen“ ... Ist dieser
Menschheitdoktor, der uns mit solcher Zuversicht die Genesung von all unseren Leiden
und Krankheiten in Aussicht stellt, nicht reizend? Und wie kann man da noch,
angesichts seiner klaren Diagnose und seiner apodiktischen Prognose, die von ihm
empfohlenen Medikamente abweisen? Er hat uns sein Rezept schon früher einmal
vorgelegt; es heißt: „Siedlungsgenossenschaften“. Diesmal begründet er seinen
Vorschlag auch historisch, d. h. er führt den „Beweis“, daß es schon einmal vor
Jahrhunderten in Deutschland eine Zeit ohne Großgrundeigenthum und eine „reine
Wirthschaft“ ohne Elend und ohne soziale Frage gab. Man braucht also heute nur
dieses Großgrundeigenthum auf irgend eine, selbstverständlich humane, civilisirte,
gesetzliche Weise abzuschaffen, z. B. durch eine Art staatlicher
Grundenteignung-Obligationen, und die
causa morbi ist weg,
der „Organismus“ der Gesellschaft ist in seiner ursprünglichen Gesundheit, von Kraft
und Fülle strotzend, wiederhergestellt. Das wäre sehr schön, wenn es nur wahr wäre.
Da sind aber zunächst die „historischen Tatsachen“, auf die
Oppenheimer seinen Beweis stützt. Leider entnimmt er sie den „Autoritäten der
Geschichtforschung“. Das ist eine etwas bedenkliche Beweisführung; denn Das sind ja
„Germanisten und Historiker“ und von denen weiß man doch längst, daß sie in der
Vergangenheit immer Das sehen, was sie sehen wollen. Ihnen handelt es sich nicht um
die Wahrheit, sondern immer um ganz etwas Anderes. Um was? Das hat jüngst einer von
ihnen (
Stieve) in dem Vortrag über die Aufgabe der Geschichtschreibung auf dem
Historikertag mit großer Naivetät selbst zugestanden. Er wiederholte da, die
„Aufgabe der Geschichtschreibung“ sei, „die Ideale zu pflegen“. Das verträgt isch
nun schlecht mit der Wahrheit. Denn Ideale
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wechseln, sind fast
Modesache. Jedes Jahrhundert hat seine Ideale; und wenn nun die Herren Historiker
die jeweilig herrschenden Ideale „pflegen“ wollen, dann verdrehen sie die Wahrheit
auf jeweilig veränderte Weise. Was haben denn die mittelalterlichen pfäffischen
Chronisten gethan? Sie haben auch „Ideale gepflegt“, da sie allerhand gesalbte und
gekrönte Räuber und Mörder wegen ihrer „Verdienste um die Verbreitung des wahren
Glaubens“ (die sie durch Schenkungen an Kirchen und Klöster bekundeten) priesen.
Damit haben die Chronisten ihre „Ideale gepflegt“. Die heutigen Historiker thun im
Grunde das Selbe, wenn der Eine die ursprüngliche „germanische Gemeinfreiheit“
verherrlicht, der Andere das „germanische Institut der Genossenschaft“ preist, -
Alles zum Zweck der „Pflege der Ideale“.
Oppenheimer stützt sich nun auf diese Historiker, insbesondere auf
Gierke und
Lamprecht. Dem
Ersten betet er nach, daß es in Deutschland eine Zeit gab, wo auf der Grundlage
eines „freien Genossenschaftlebens“ eine „reine Wirthschaft“ blühte und Alles
wunderbar bestellt war: keine Noth, kein Elend, keine soziale Frage. Mir scheint,
Oppenheimer hat da den „Ideale pflegenden“ Historiker zu viel Glauben
geschenkt. Aber was nicht war, könnte ja einmal noch werden. Wenn
Oppenheimer nur richtig die Ursache der „Krankheit“ aufgedeckt hätte, dann
wäre es ja möglich, daß mit deren Beseitigung (z. B. durch eine staatliche, gut
bezahlte Großgrundbesitz-Enteignung) auch die „Krankheit“ schwände. Ich habe aber
noch ein anderes Bedenken. Das will ich hier meinen sehr geehrten jungen Freunden
ganz vertraulich mittheilen, auf die Gefahr hin, daß sie mich einen alten
pessimistischen Zopf schelten. Wer bürgt mir denn dafür, daß die heutige
Gesellschaft wirklich „krank“ ist? Wohl ist Herr
Oppenheimer Doktor der Medizin; aber sein Diplom befähigt ihn nur zu
individueller Diagnose; seien soziale Diagnose braucht mir nicht zu imponiren. Dafür
aber, daß die Menschheit krank sei, bringt er mir keine Beweise bei; und wenn er
unter Berufung auf bekannte Historiker betheuert, „einst“ sei die Menschheit
„gesund“ gewesen, so habe ich guten Grund, es erst recht nicht zu glauben, denn was
diese Herren Historiker sagen, ist ja nur „Pflege der Ideale“, ist doch nicht
Wahrheit. Meine Geschichtkenntniß lehrt mich ganz andere Dinge. Eine „soziale Frage“
hat es immer gegeben. Nicht in der Landbaronie und Industriebaronie und
Börsenbaronie liegt ihre Quelle. Sie liegt tiefer. Die „Dummen werden nicht alle“,
sagt das Sprichwort. Aber auch die Schlauen nicht, können wir hinzufügen. In dieser
Naturthatsache liegt die Quelle der sozialen Frage. Die verschiedenen Baronien sind
nur die wechselnden Formen für die Erfolge der Schlauen. In Amerika heißen sie
„Eisenbahnkönige“. Bei uns werden sie noch immer nach hergebrachter Weise
baronisirt. Das Wesen der Sache ist die Ausbeutung der Nebenmenschen. Diese Kunst
ist eine ausschließlich menschliche
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und es ist noch die Frage, ob sie
ausrottbar ist. Denn das bekannte Hausmittel der Sozialdemokratie, das unter Anderem
gegen diese „Künstler“ empfohlen wird, nämlich „Volksaufklärung“, dürfte kaum
wirksam sein. Es soll nämlich die Dummen klüger machen: was aber geschieht, wenn
dann die Schlauen noch schlauer werden? Das Verhältnis dürfte stets gleich bleiben.
Die Ausbeutung der Massen ist ja nicht immer auf die selbe Weise vor sich gegangen.
Einst trieb man sie mit Spieß und Keule zu Paaren; dann verlieh man dem Volke
geraubten Grund und Boden gegen Entrichtung von Roboten; ungemessene Frohndienste
wurden dann gnädig in „gemessene“ verwandelt u. s. w. Wie man bei vollkommener
politischer Freiheit, ja sogar bei allgemeinem, direktem und geheimem Wahlrecht die
Masse kurz hält und ihr den Brotkorb immer höher hängt, Das erleben wir ja
schaudernd heutzutage.
Nun sagt
Oppenheimer:
Nur fort mit dem Großgrundeigenthum und freie Genossenschaften eingeführt! Dann
kommt sie wieder, die goldene germanische genossenschaftliche Zeit. Man könnte ja
allenfalls das Experiement wagen. Nur möchte ich die Herren Menschheitdoktoren
fragen: Glauben sie wirklich daß das Großgrundeigenthum die letzte Form der
menschlichen Schlauheit ist, die letzte Aeußerung jener ewig menschlichen Kunst,
sich auf Kosten seiner lieben Mitmenschen das eigene Leben angenehmer zu gestalten?
Man hat mir vielfach vorgeworfen, daß ich den Fortschritt
leugne. Da hat man mir Unrecht gethan. Ich sehe den Fortschritt auf vielen Gebieten,
z. B. in der Technik, auch in der sozialen, d. h. auf dem Gebiet eben jener
menschlichen Kunst, die Nebenmenschen auszubeuten. Das Großgrundeigenthum ist ja
heute ohnehin nicht mehr auf der Höhe der Situation. Heute treffen es ja die
Industriebarone, Börsenbarone, Gründerbarone, Kohlenbarone, und wie sie sonst
genannt werden, viel besser als die Junker. Nur ein Gebiet scheint mir an dem
allgemeinen Fortschritt nicht theilzunehmen, nämlich das der Moral. Diesem Bedenken
habe ich in meiner „Soziologie“ Ausdruck gegeben. Das können mir die Herren, die
sich zu den „Jungen“ zählen nicht verzeihen. Natürlich: denn all ihre Hoffnungen und
Pläne sind gerade auf den Fortschritt der Moral gegründet. Ihnen soll ja gerade
dieser Fortschritt zum Hebel des „Umsturzes“ dienen; denn ihr zukünftiger, moralisch
vollkommener, aus der „ethischen Bewegung“ herauspräparirter höherer Menschentypus
wird ja jedes Gesetz, jeden Staat, jede Polizei entbehren können. Jeder wird dann
sein eigener Schutzmann sein. Wenn sie nun in diesem Punkt Recht haben, wenn diese
Voraussetzung sich erfüllt, dann kann alerdings die Abschaffung des
Großgrundeigenthumes, in deren Folge auch die großindustrielle Ausbeutung fallen muß
(denn dann laufen die Arbeiter nicht mehr dem Unternehmer nach, sondern er ihnen),
jede soziale Frage aus der Welt schaffen. Angesichts dieser reizenden Möglichkeit
will ich gern meine
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Zweifel unterdrücken. Ich will es unterlassen,
meine Befürchtung auszumalen, daß, nachdem es den Herren gelungen sein wird, die
„kapitalistische Plusmacherei“ vom Erdboden zu vertilgen, nachdem sie das
„Großgrundeigenthum“ aufgehoben, die ganze Gesellschaft nach angeblich
altgermanischem Muster in „freien Genossenschaften“ organisirt haben werden,
wahrscheinlich in irgend einer bisher noch ungeahnten Gestalt ihnen jene ewig
menschliche Kunst entgegentreten wird, die der innerste Motor aller menschlichen
Geschichte ist. Es hätte ja keinen Zweck, mit solchen selbstquälerischen
Befürchtungen das frische, fröhliche Streben der Jüngeren lähmen zu wollen. Mögen
sie also nur die nächstliegende Quelle des Uebels beseitigen. Das kann ja nicht
schaden; vielleicht nützt es sogar.