Das politische Ideal des nächsten Jahrhunderts, in: Die
Zukunft (Berlin), Jahrgang 1897, Bd. 19, S. 199-203.
Das politische Ideal des nächsten Jahrhunderts.
Der Redakteur eines philosophischen pariser Blättchens, „La
Coopération des Idées“, kam auf den Einfall, auf dem nicht mehr ungewöhnlichen Wege
einer „Umfrage“ sich unbezahlte Artikel zu verschaffen über „das Ideal der Zukunft“.
Quel sera l'idéal de demain? lautete die Frage, - und es
regnete Antworten von allen Seiten. Die Frage ist nicht ohne Interesse; nur hätte
die Redaktion auch andeuten sollen, um welches Gebiet es sich ihr handelt. Denn es
giebt kein Ideal an und für sich; kein Mensch hat ein Ideal „für Alles“, sondern
viele Ideale; jedes Gebiet menschlichen Lebens, jeder Gegenstand, der ein
menschliches Bedürfniß befriedigt, kann idealisirt werden und wird in der
begehrenden Seele idealisirt. Wir haben ein Ideal einer angenehmeren und schnelleren
Fortbewegung, als es uns Droschke, Pferdebahn, Eisenbahn, Dampfschiff, Fahrrad u. s.
w. bieten. Man könnte sagen, das lenkbare Luftschiff, komfortabel eingerichtet, ist
hier unser Ideal; oder vielleicht der billige, bequeme und schnelle Motorwagen. Und
hat nicht jeder Reporter ein Ideal einer bequemen und raschen Schreibmaschine, die
womöglich in vielen Exemplaren gleichzeitig schreibt?
Oder bin ich im Irrthum, darf man vielleicht auf diesen
praktischen Gebieten gar nicht von Idealen reden? Darf man dies schöne, an den
göttlichen
Plato erinnernden Wort
nur auf Poesie und Kunst beziehen? Darf nur vollendete Schönheit diese Bezeichnung
in Anspruch nehmen? Dann wäre die in Paris gestellte Frage schwer zu beantworten.
Denn wenn auch in „ewiger Schöne“ das Ideal der Antike die civilisirte Menschheit zu
beherrschen scheint und Venus und Apollo, von griechischer Meisterhand geschaffen,
ihren Reiz nie verlieren werden, so wissen wir doch, daß auch auf dem Gebiete der
Kunst der Geschmack in Völkern und Zeiten wechselt und daß die Kunst des „Publikums“
heute sich Götzen schafft, die es morgen in den Staub tritt. Wenn hier Gesetze
herrschen, Gesetze der Wandlung des Geschmackes, so sind sie gewiß sehr schwer zu
entdecken und zu formuliren. Was dem zwanzigsten Jahrhundert gefallen wird, – wer
könnte Das heute auch nur ahnen?
Aber es giebt ein Gebiet, wo die Wandlugn der Ideale keine
so unregelmäßige und keine so unberechenbare ist wie auf dem Gebiete der Kunst. Ich
meine das Gebiet der Politik. Denn hier folgt offenbar das Ideal wie ein stets
freier, untrennbarer Satellit seinem Hauptplaneten, der wirklichen Gestaltung der
sozialen Organisationen, und empfängt von ihnen Licht und Schatten. Nur sind diese
Gestaltungen, die Entwickelung der Staaten, keinem Zufall unterworfen; sie
vollziehen sich nach festen Gesetzen und Regeln, sind daher auch einer Berechnung
zugänglich und eben so läßt sich
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auch die Bahn ihrer Satelliten, der
politischer Ideale, wenigstens mit einiger Wahrscheinlichkeit berechnen. Das
Verhältniß aber des politischen Ideals zur politischen Wirklichkeit ist immer das
des spezifischen Gegensatzes. Wenn in einer Republik Bürgerkrieg wüthet und alle
Bande der Ordnung sich lösen, dann entsteht im Geiste der denkenden und verünftigen
Staatsbürger unwillkürlich das Ideal einer Diktatur, dann ringt aus verzweifelter
Brust der Ruf sich los:
Ave Caesar! Vive l'Empereur! Die
traurige Wirklichkeit hat ihren Gegensatz als das politische Ideal erzeugt. Wenn ein
despotisches Zarenthum seine Herrschaft auf Galgen und Bajonnette stützt, mit der
Knute verwaltet, weder Heimath- noch Vaterlandsgefühle achtet, sibirische Bergwerke
mit opfermuthigen Helden bevölkert, dann entsteht in Hunderten und Tausenden
verzweifelten Seelen das eine Ideal, diese ganze barbarische Wirthschaft mit Allem,
was drum und dran hängt, auf jede Weise, durch jedes Mittel zu stürzen; das
politische Ideal heißt dann Nihilismus. Wenn ein stolzer Machthaber, der
öffentlichen Meinung eines „konstitutionellen Rechtsstaates“ Trotz bietend, seinen
Willen über den der Vertreter der Nation setzt, dann sinkt der Glaube an den Werth
von Gesetz und Verfassung, dann schwindet jedes Vertrauen in festgeglaubte
Satzungen, dann verliert die Rechtsordnung ihre Bedeutung, dann erscheint Gesetz-
und Rechtlosigkeit in ihrer ungeschminkten Gestalt als das politische Ideal und dem
Ruf eines verspäteten Caesaren:
Quod principi placuit, pro lege
habetur! schallt aus jugendlichen Kehlen der Ruf entgegen: Hoch die
Anarchie! Oder erinnern wir uns daran, wie ein in der Schule der „Aufklärung“
aufgewachsener Monarch, Kaiser
Joseph II., der den
Grundsätzen des Nationalismus huldigte, eines Tages beschloß, aus Oesterreich einen
deutschen Staat zu machen, und für alle Völker Osterreichs die deutsche Sprache als
die alleinige Amts-, Gerichts- und Schulsprache dekretirte. Was war die Folge dieser
Maßregel? In allen nichtdeutschen Stämmen Oesterreichs tauchte damals ein Ideal auf,
das bis dahin unbekannt war: die Nationalität-Idee; nationale Sprache und Sitte und
Eigenthümlichkeit waren plötzlich Gegenstand liebevollster Pflege aller bis dahin in
diesen Punkten ganz indifferenten Völker.
So wurden politische Ideale geschaffen auf dem Wege der
Antithese, die in menschlichen Geiste gegen die unbefriedigende Wirklichkeit
auftaucht. Da wir diese Genesis des Ideals nun kennen, dürfen wir fragen: welches
wird das politische Ideal Europas im zwanzigsten Jahrhundert sein?
Seit vielen Jahrhunderten vollzieht sich in Europa der
Prozeß der Großstaatenbildung. Er vollzog sich in Großbritannien, wo das eigentliche
England mit einer Anzahl kleiner Königreiche in die geschichtliche Entwickelung
einsetzt, um dann auch noch Schottland und Irland in ein „Großbritannien“
einzubeziehen; er vollzog sich in Frankreich, das aus einer großen Anzahl
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souverainer Fürsten- und Herzogthümer, Grafschaften und anderen
Territorien allmählich, in einem Zeitraum von ungefähr sechshundert Jahren, zu dem
Großstaate Frankreich erwuchs; er vollzog sich in allen anderen Großstaaten Europas.
Die letzten zwei Staatenkomplexe, die in Europa zu einheitlichen Großstaaten
zusammenschmolzen, waren Deutschland und Italien: es war der selbe Prozeß wie
überall, nur mit der Variante, daß hier die Nationalität-Idee Vorspanndienste
leisten mußte, um über die Kleinstaaterei hinüberzukommen. Nun leben wir in lauter
Großstaaten. Sind wir deshalb glücklicher? Offenbar nicht. Denn unser Glück oder
Unglück hat mit Kleinstaat oder Großstaat nichts zu thun. Wenn die Völker aber
unzufrieden sind in Großstaaten, so denken sie nicht daran, daß Völker auch in
Kleinstaaten unzufrieden waren, sondern neigen zu der Ansicht, daß die Großstaaten
dem Volkswohl nicht zuträglich sind. Und die Folge dieser Ansicht ist: man grübelt
sich immer mehr in die Idee hinein, daß die Großstaaten an dem sozialen Nothstand,
an all unserem sozialen Ach und Weh, schuldig sind. Auf diesem Wege aber entsteht
allmählich ein neues politisches Ideal, das noch keinen allgemeinen Namen hat, das
man aber doch schon in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Namen bezeichnen
hört. In Osterreich nennt man es Föderalismus, in Deutschland nennt man es
Partikularismus, in Italien Regionalismus, in England
Home-Rule, - in Frankreich spricht man neuerdings bald von Provinzialismus,
bald schlechtweg von einem Föderativsystem der „französischen Staaten“. Der
allgemeine Name ist noch nicht da; aber die Idee taucht überall auf und ich fürchte
keineswegs, von dem zwanzigsten Jahrhundert Lügen gestraft zu werden, wenn ich die
Prophezeiung wage, daß sein politisches Ideal sein wird: Zurück zum Kleinstaat!
Ich habe dafür ganz merkwürdige Anzeichen. Ideen, die die
Grundpfeiler der neuesten Großstaatenbildung waren, beginnen zu schwanken; Ideen,
die man für wahr und daher für ewig hielt, beginnen in Mißkredit zu kommen. Es
scheint langsam eine Ernüchterung einzutreten, wo noch eben heller Jubel und
Begeisterung herrschten. Etwas wie Katzenjammerstimmung zeiht durch die Welt. Man
richtete sich neue große Wohnhäuser ein, palastartige; nun man in sie eingezogen
ist, fühlt man sich darin nicht recht heimisch. Sie sind nicht wohnlich; ein
Moderduft durchzieht sie, als ob man sich auf einem Friedhof angebaut hätte. Man
dachte, in ein neues, helles, luftiges Haus einzuziehen, rings umtönt von Vogelsang
und Liederklang: statt Dessen athmet man eine muffige, mittelalterliche Luft, als ob
man in altes Gemäuer eingezogen wäre, wo seit Jahrhunderten nicht gelüftet wurde.
Mir scheint, das neue große Palais hat die Erwartungen nicht erfüllt und die guten
Leutchen sehnen sich hinaus, Jeder in sein altes, kleines, ruhiges, gesundes,
luftiges, friedliches Heim. Mindestens erscheint es ihnen jetzt so rosig und von
Sonnen-
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glanz erfüllt, - im großen Prachtbau erfaßt sie plötzlich ein
gewaltiges Sehen nach den Hütten, die sie einst bewohnten … es steigt in ihnen auf:
ein neues politisches Ideal.
Denken wir an Italien. Wer hätte je glauben können, daß
eine Zeit kommen würde, wo man dort der Idee der Nationalität oder, besser gesagt,
der mit ihr verquickten Einheit-Idee den Krieg erklären würde? Italien, das Land des
langen, stürmischen Verlangens nach „Einheit“ im Namen der „Nationalität-Idee“, ist
für diese Idee nun erkaltet und wendet sich von der Einheitstendenz ab, kaum
glaublich, - aber wahr. Vor mir leigt ein neues Buch von Celso
Ferrari:
La Nazionalità e la vita soziale. Was will der Verfasser? Er
unternimmt eine Ehrenrettung der Nationalität-Idee. Wenn es in Italien schon einer
neuen Erklärung und Rechtfertigung dieser Idee bedarf, dann sind die Dinge dort weit
gediehen.
Ferrari erzählt es
uns übrigens in der Vorrede: „Das von unserer völkerrechtlichen Schule so feierlich
verkündete Prinzip der Nationalität, das unser Volk so tapfer mit seinem Blute
besiegelte, ist in Mißkredit gerathen...“ Daran trage, meint er, der Umstand die
Schuld, daß dieses Prinzip „bisher keine wissenschaftliche und positive Grundlage
hatte.“ Nur in Folge dieses Mangels konnte es zu dieser „schändlichen politischen
Komoedie“ kommen, die es glücklich dahin brachte, daß „dieses edle soziale Streben
eine Waffe wurde, um den Militarismus neue und verhängnißvolle Erfolge zu
verschaffen.“
Ferrari will nun
diesem Mangel abhelfen und dem Nationalitätprinzip eine „wissenschaftliche
Grundlage“ geben. Zu diesem Zweck beweist er in seinem Buche, daß das
Nationalitätprinzip kein volks-egoistisches, sondern ein menschheitliches und
fortschrittlich-humanes Prinzip sei, und nicht dem Völkerkriege, sondern der
Völkerfreiheit dienen solle. Es mag an Dem, was er sagt, viel Richtiges und Wahres
sein; uns interessirt aber heute hier nur die Thatsache, daß man in Italien es jetzt
für nothwendig ansieht, das Nationalitätprinzip zu vertheidigen. Dort scheint also
das Gefühl allgemein zu herrschen, daß man durch die nationale Einheit nicht
glücklich geworden sei. Das ist sehr interessant, aber auch erklärlich. Denn dort
war ja die Nationalität-Idee nur eine Form des Freiheitstrebens und man war so
vertrauensvoll, zu glauben, nationale Einheit sei Freiheit. Weil man darin sich
gründlich täuschte, wendet man seinen Grimm gegen das „böse Nationalitätprinzip“.
Hier setzt
Ferrari mit seiner
Vertheidigung ein. Er sagt ungefähr zu seinen Landsleuten: Ihr seid auf dem
Holzwege! Nicht das Nationalitätprinzip ist an Eurer Enttäuschung schuldig, sondern
eine falsche Auffassung dieses Prinzipes; denn, richtig verstanden, ist „der
Nationalitätkampf nichts Anderes als der Ausdruck des Kollektivwillens einer
sozialen Gruppe gegen eine Regirung, die dem allgemeinen Empfinden der Nation
widerstrebt, und der Ausdruck des Strebens, an ihre Stelle eine andere, diesem
nationalen Empfinden mehr entsprechende Regirung zu setzen.“ Nun, diese Sophistik
sit ja gut gemeint. Wir entnehmen ihr die Thatsache, daß die Italiener das Geschäft
gern rückgängig machen möchten, - „redressiren“ nennt man Dies im Geschäftsverkehr:
oder gar „storniren“? Diese italienischen Stimmungen gehen uns ja weiter nicht an.
Ich wollte nur zeigen, daß gewisse Symptome auftauchen, nicht nur in Italien,
sondern auch in Frankreich und vielleicht auch noch anderswo, die beweisen, daß die
Großstaatenbildung die Völker nicht glücklich gemacht hat und daß sich nun die Ideen
mit Vorliebe einem anderen Zustande zuwenden, einem Zustande, der nach dem Gesetze
des Gegensatzes im Geiste ausgebildet wird und als der begehrenswerthere erscheint.
Das heißt mit anderen Worten: es keimt in den Geistern ein neues politisches Ideal,
das wahrscheinlich im zwanzigsten Jahrhundert zur Reife kommen wird. Ob dieses Ideal
verwirklicht werden wird? Darüber wollen wir uns einstweilen nicht den Kopf
zerbrechen.