Sociale Sinnestäuschungen, in: Neue Deutsche Rundschau,
Jahrgang 6, 1895, 1-11.
Von unheimlichen Gespenstern der Täuschung umschwärmt
schreitet die Menschheit ihren dunkeln Weg. Von Zeit zu Zeit entzündet der Eine und
der Andere eine Fackel und leuchtet dem einen und dem andern Gespenst ins Antlitz
und siehe: es verschwindet!
Ein solches Gespenst war der
Geocentrismus; da kam
Copernicus, da
kam Giordano
Bruno und
Galilei und zündeten eine Fackel der Wahrheit an, und es verschwand. Gewiss,
dem Giordano
Bruno und dem
Galilei wäre es besser ergangen, wenn sie die Fackel, die
Copernicus anzündete, verlöscht hätten, statt sie hoch zu schwingen: mit
tausend Qualen und mit ihrem Leben bezahlten sie die Verkündung der Wahrheit. Dafür
ehrt die Menschheit sie heute als Wohltäter, die
ein lästiges
Gespenst der Täuschung vertrieben.
Es blieben deren noch genug. Der
Antropocentrismus begleitete uns bis
Darwin und seine
Genossen. Auch diesem Gespenst wurde mit der Fackel der Wahrheit ins Antlitz
geleuchtet und es verschwand.
Heute wissen wir, welche Stellung wir in der Natur
einnehmen: wir sind die grausamsten Bestien auf dieser Erde. Unsere Grausamkeit ist
desto gefährlicher, weil wir zugleich die raffinirtesten sind. Es ist das eine
traurige Wahrheit, die wir dem Darwinismus und der modernen Naturwissenschaft
verdanken: aber nur die Selbsterkenntniss führt zur
Besserung. So lange der Mensch sich für ein höheres Wesen hielt, beging er skrupellos die abscheulichsten Grausamkeiten; die
Folterwerkzeuge der Inquisition und die Scheiterhaufen der „Religiosität“ verübte
das „höhere Wesen“, welches von Darwin noch nicht seinen
Affen-Stammbaum erhalten hatte; heute, wo wir wissen, dass wir Affen-Nachkommen
sind, ist das Bestreben schon etwas mehr verbreitet, „Menschen“ zu werden.
Um es voll zu werden, daran hindern uns noch zwei
Gespenster. Das eine ist der
Ethnocentrismus, jener
fluchwürdige Wahn der Nationen, als ob jede von ihnen die erhabene „Mitte“ oder die
„Spitze“ der Menschheit bilde. Wie sich die Chinesen für das „Volk der Mitte“
halten, so hielten sich die Juden für das „auserwählte“; die Franzosen schritten „an
der Spitze der Civilisation“ und den Deutschen ver-
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sicherte Hegel (und
sie glaubten es ihm gerne), sie seien „die Verkörperung des objektiven Geistes“, was
so viel bedeuten sollte, wie „der Gott unter den Völkern“. Nun, dem Gespenst des
Et[h]nocentrismus hat die moderne Sociologie ins Antlitz geleuchtet – und er beginnt
zu schwinden.
Das unheilvollste aber aller dieser Gespenster, das den
Gang der Menschheit behindert, das wie ein Bleigewicht an deren Sohlen sich hängt,
ist der Akrochronismus (möge das Wort mir verziehen werden),
das ist der unselige Wahn jedes Zeitalters, dass es das „höchste“ sei. Wir glauben
fest daran, dass unsere Zeit die Zeit der „grössten Fortschritte, der grössten
Civilisation, der grössten Humanität“ sei und das sie weit hinter uns liegen die
Zeiten „der Wildheit“ und der „Barbarei“. Wir nennen unsere Zeit das „Zeitalter der
Vernunft“ und hinter uns wähnen
wir die Zeiten „des Glaubens und Aberglaubens“.
Die sociale Sinnes-Täuschung entsteht dadurch, dass wir
stets nur zurückblicken auf vergangene Jahrhunderte und weil jene auf andere Weise barbarisch waren, so glauben wir civilisirt zu
sein. Wehe aber denjenigen, welche es wagen mit der Fackel der Wahrheit diesem
Gespenst der Täuschung ins Antlitz zu leuchten und uns zu zeigen, dass wir im Grunde
eben solche Barbaren sind wie unsere Vorfahren, nur in anderer
Weise, nach anderer Methode. Diese lästigen Tadler werden allerdings nicht
gekreuzigt und nicht verbrannt; das ist heute nicht mehr Mode: aber sie werden ins
Gefängniss geworfen; das ist modern, das ist XIX. Jahrhundert und fin de siècle! -
Welche Barbarei darin liegt, Leute für Meinungsäusserungen, für Worte mit monate- und
jahrelangem Gefängniss zu strafen, dessen sind wir uns gar nicht bewusst, weil wir
fest überzeugt sind, dass diejenigen, welche die heutige „Ordnung“ angreifen, das in
dieser Welt Bestmöglichste „umstürzen“ wollen. Das ist das Gespenst des
Akrochronismus, das uns bethört.
Diese sociale Sinnestäuschung ist um so verderblicher, da
sie uns verleitet, all und jedes Bestehende, weil es zu unserer Zeit besteht, schon
deswegen für etwas Vorzügliches, Unantastbares zu halten und diejenigen als
verbrecherische „Umstürzler“ anzusehen, die an diesem Bestehenden etwas auszusetzen
finden, die ihre Meinung dahin äussern, dass an Stelle dieses Bestehenden etwas
Besseres zu setzen schon Zeit wäre. Und gleich wie einen Menschen, der ein
schlechtes Gewissen hat, der eine Missethat begangen hat, schon die leiseste
Andeutung derselben unruhig und verwirrt macht, so dass er seiner Sinne nicht
mächtig wird: so benehmen wir uns, wenn uns jemand das Bestehende als eine
Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit schildert; wir lärmen und zetern über infame
Anschläge gegen die bestehende „Ordnung“, trotzdem uns nachgewiesen wird, dass
unsere Ordnung eigentlich eine Unordnung sei; wir rufen nach der Polizei und klagen
die kühnen Tadler laut wegen ihrer „Umsturztendenzen“ an. Nüchtern betrachtet aber
was thun die Umstürzler? Sie beginnen eine Discussion über
die Übelstände und Notstände unserer Zeit, die Niemand wegleugnen kann und über die,
wenn man sie bessern oder beseitien will, man doch zunächst laut und allseitig discutieren muss. -
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Und gerade diese Diskussion, welche die
Vorbedingung aller Besserung ist, wird mit allen Mitteln der Polizei und des
Strafgerichts unmöglich gemacht.
Das ist eine Folge der akrochronistischen Sinnestäuschung,
als ob unsere heutige gesellschaftliche „Ordnung“ die einzig richtige und gerechte
wäre, und dass, wer diese angreift, auf den „Umsturz“ losgeht.
Dagegen brauchen wir uns nur einen Augenblick der
akrochronistischen Täuschung bewusst zu werden, und wir müssen es einsehen, dass
alle diejenigen, welche das Bestehende angreifen in der That nur unbewusste und
halbblinde Werkzeuge der geschichtlichen Entwicklung sind, welche unablässig bemüht
ist, an Stelle des Bestehenden etwas Besseres zu setzen, und dass vom Standpunkt des
geschichtlichen Fortschritts alles „was besteht, wert ist, dass es zu Grunde geht“.
Die sogenannten Umstürzler sind also im Lichte der Geschichte betrachtet nur Dränger
und Stürmer, welche naturnotwendig sich einstellen, wo Bestehendes baufällig wird,
und statt sie zu verfolgen sollten wir lieber ihren Naturlauten lauschen und uns Rechenschaft darüber zu geben trachten, nach
welcher Richtung die neueste Strömung der Ideen, die neueste soziale Bewegung
hinweist. Denn nicht auf dem Gipfel der Zeiten stehen wir: mitten auf steilem Abhang
keuchen wir dem Gipfel entgegen, der stets uns zu fliehen scheint. - Ein
Stehenbleiben auf steilem Abhange, wäre verhängnissvoll. Die Kraft aber zum
Vorwärtsschreiten können wir nur aus der Überzeugung schöpfen, dass wir noch nicht
auf dem Gipfel angelangt sind, dass der Akrochronismus eine Täuschung ist. Daher
sollte uns alles willkommen sein, was diese Täuschung zerstört; jeder Stürmer, der
uns vorwärts drängt, macht sich um uns verdient, jedes herbe Wort, das uns als Tadel
und Kritik entgegengeschleudert wird, sollten wir tief beherzigen und jede
Bestrebung über das Bestehende hinauszukommen sollten wir nicht als
„Umsturzbestrebung“ bestrafen, sondern darauf hin untersuchen, ob sie uns nicht
nützen kann, um den steilen Pfad leichter zu erklimmen.
Statt dessen machen wir den Stürmern und Drängern, deren
Püffe und Stösse uns allerdings unangenehm sind, die uns aber doch zwingen, vorwärts
zu kommen und jedenfalls vor einem Zurücksinken behüten, ewige Prozesse, welche an
die Hexenprozesse vergangener Jahrhunderte erinnern, auf die wir doch als auf
Beweise der Barbarei und Unwissenheit jener Jahrhunderte
hinweisen. Wenn nun aber unsere „Umsturzprozesse“ bei näherer Betrachtung sich als
im Grunde mit jenen Hexenprozessen nicht nur in vielen Stücken wesensgleich, sondern
in andern wieder als noch viel unvernünftiger erweisen: dann wird uns wohl eine
Ahnung unserer Barbarei dämmern. Dass dem aber so ist, lehrt
eine halbwegs unbefangene Erwägung.
In den Jahrhunderten „mittelalterlicher Barbarei“, wie wir
es nennen, in den „finsteren“ Zeiten des „Aberglaubens und des Fanatismus“
verurteilte man die Hexe wegen eines imaginären Unheils,
welches sie angeblich durch ihre Zauberkünste anrichtete oder anrichten könnte. Wir lachen heute ob der Unvernunft unserer Vorfahren, weil
wir an Zauberkünste und Hexereien nicht mehr glauben.
Weswegen verurteilen wir aber unsere „Umstürzler“? Das
Unheil, das sie anrichten könnten existirt nur in der erhitzten Phantasie
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geängstigter Philister. Allerdings lassen sich ihre Reden unter so manchen
Paragraph des Strafgesetzes subsumieren. Aber was lässt sich denn darunter
nicht subsumieren? Es gehört wahrhaftig nicht viel Witz dazu,
um all und jede politische Rede jedes modern-gebildeten und
fortschrittlich-gesinnten Menschen unter die betreffenden Paragraphen des
Strafgesetzes zu bringen. Denken wir uns für
einen Tag die
Immunität der Parlamentsdebatten und den Paragraphen der europäischen Verfassungen
über die „Freiheit der Wissenschaft“ beseitigt, dann wandern ohne sonderliche
Anstrengung, nur bei etwas gutem Willen der Herren Staatsanwälte die allermeisten
Mitglieder unserer Parlamente in Gesellschaft der Gelehrten aller weltlichen
Fakultäten in's Gefängniss. Denn ihnen
allen könnte ohne
grosse Mühe das aufrichtige Bestreben einen sogenannten „Umsturz“ herbeizuführen,
nachgewiesen werden. Glücklicherweise geniessen Deputierte und Gelehrte eine gewisse
Immunität, es müssen also die armen Teufel von Volksrednern und Arbeiterführern das
Bad ausgiessen. Betrachten wir nur etwas näher, weswegen man diese Leute einsperrt.
Dem Einen wird zur Last gelegt, dass er „zu Klassenhass aufgereizt“ habe. Du lieber
Gott, als ob ohne diesen Störenfried die Klassen sich
lieben
würden, und nur
er, als moderne Hexe, diese gegenseitige
Liebe in Hass verwandelte! Dass der Klassenhass eine sociale
Thatsache ist, dass er
existirt, und aus ganz
natürlichen Gründen vorhanden ist: das verschweigt man, davon will man nichts
wissen. Man täuscht sich selbst und will andere glauben machen, als ob es nur die
Rede dieses oder jenes „Führers“ sei, die den Klassenhass erzeuge. Die Wahrheit ist
aber, dass der Hass seine ganz natürliche Ursache hat in dem Druck, den die eine
Klasse auf die andere ausübt: dieser Druck und die inhumane Ausbeutung erzeugen den
Hass, der in seinem
latenten Zustande sogar gefährlicher ist
als in seinen
offenen Manifestationen. Denn angesammelt in
latentem Zustande führt er zu gewaltsamen Ausbrüchen und Explosionen: während wenn
er sich in
lauten Klagen und Beschwerden Luft macht die
gewaltsamen Ausbrüche unterbleiben und die Möglichkeit reformatorischer Actionen
gegeben wird. Diejenigen nun, welche sich zu Anwälten der bedrückten Klassen
aufwerfen, über das Unrecht der Ausbeutung
laut Klage führen
und die
Diskussion darüber eröffnen: die sind eher Wohlthäter
der Menschheit, denn sie überführen den
mehr gefährlichen
latenten Hass in einen minder gefährlichen Zustand offener Recriminationen. Die
Diskussion nämlich ist der Beginn jeder Reform: wer die Diskussion eröffnet und
unterhält, in welcher Weise er es auch thut, hat jedenfalls das Verdienst, an einem
überheizten Dampfkessel, der nahe der Explosion ist, das Sicherheitsventil geöffnet
zu haben. Und gerade diejenigen, welche dieses Verdienst haben, werden als
Verbrecher behandelt, die „zum Klassenhass aufreizen“. Sind das nicht eine Art
Hexenprozess? Ein späteres Jahrhundert wird diese Frage mit einem entrüsteten „Ja“
beantworten.
Oder betrachten wir diejenigen die wegen
„Verächtlichmachung des Staates und seiner Einrichtungen“ in Gefängnissen
schmachten. Worin besteht ihr Verbrechen? Was haben sie Schlechtes gethan? Sie
kritisirten den heutigen Staat und viele seiner Einrichtungen worin angeblich eine
„Verächtlichmachung“ des Staates liegen solle. Nun fragen wir, erscheint uns der
Staat der vergangenen Jahrhunderte,
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mit seinen Frohndiensten der Bauern,
mit seiner beispiellosen Bedrückung des Landvolkes, mit seinen Folterwerkzeugen und
was derlei Missbräuche mehr waren, nicht verächtlich? Und sollte wirklich das XIX.
Jahrhundert den
Gipfel der Zeiten darstellen, die
höchste Stufe der Entwicklung erreicht haben? Welch
verderblicher Wahn, welch gefährliche, fortschrittsfeindliche, ja geradezu
unheilvolle Einbildung liegt in diesem Akrochronismus! Wer aber von einem solchen
sträflichen Wahne sich frei macht, muss der nicht
einsehen, dass auch der Staat unseres Jahrhunderts einem spätern Jahrhunderte ebenso
verächtlich wird erscheinen müssen wie der Staat des vorigen Jahrhunderts uns
erscheint? Wer also den heutigen Staat kritisirt und ihn in unsern Augen
„verächtlich“ macht, der erwirbt sich ein Verdienst um die
Menschheit, der ist nur ein Verkündiger und zugleich ein Förderer eines
zukünftigen Fortschrittes. Diejenigen Aber, die das thun auf die Gefahr hin für ihre
Reden mit jahrelangem Gefängniss bestraft zu werden, vermehren die unendliche Reihe
der Märtyrer die mit
Sokrates und
Christus beginnt.
Man wende uns nicht ein, dass der und jener doch weder
Philosoph noch Gottmensch, sondern ein „verdorbener Student“, ein „ehrgeiziger
Demagoge“, ein „mandatslüsterner Agitator“ u. dergl. sei: das ändert nichts an der
Sache. Es kommt ja gar nicht darauf an, was und wer der Betreffende ist, sondern was er spricht. Denn
sociologisch betrachtet ist keiner er selbst. Was der X. und Y. in der
Volksversammlung spricht, das spricht nicht er; das spricht
seine Zeit, das spricht seine sociale Umwelt; das ist ein Volkskreis der durch
seinen Mund sich Luft macht. Der X. und X. mag sein wer er will: als Redner und
Sprecher ist er einfach das Sprachroh aus dem die Stimme grosser unzufriedener
Volkskreise an unser Ohr dringt. Der X. und Y. mag welche immer persönlichen Motive
haben; es mag Ehrgeiz, es mag Sensationsbedürfniss oder was immer für ein Motiv
sein, darauf kommt es ja gar nicht an: aus ihm spricht eine sociale Ideen-Strömung, von der er getragen ist. Es ist nur eine
kurzsichtige Taktik alle Schuld auf ihn zu wälzen, als ob das was er sagt, sein
geistiges Eigentum wäre. Es giebt einfach kein geistiges Eigentum
in dieser Bedeutung. Was X. und X. sagt, das schöpft er aus dem vollen
Reservoir der Volksmeinung die kein anderes Mittel hat, keinen anderen Weg, sich zu
offenbaren.
Eine tiefe Unzufriedenheit mit der bestehenden
gesellschaftlichen Ordnung hat heute nicht nur weite Volkskreise, sondern alle
denkenden und
gutgesinnten Menschen ergriffen. Auf welche
Weise kann sich diese Stimmung offenbaren?
Alle können sie ja
nicht auf einmal an ein und demselben Ort und gleichzeitig reden. Ja, wäre das
möglich, dann gäbe es allerdings keine Umsturzprozesse, einfach aus dem Grunde, weil
es viel zu wenig Gefängnisse gäbe um sie alle unterzubringen. Man müsste alle Häuser
ganzer Städte und Stadtteile zusperren und die Leute darin gefangen halten. Dann
würde wohl starker Mangel an Schutzmannschaft herrschen. Nun macht sich aber die
Stimmung der Bevölkerung nicht auf diese Weise Luft. Es sind immer nur wenige und
meist jüngere Leute die unfreiwillig und unbewusst die Klagen der Volksseele laut
erschallen lassen. - Wenn ein Wind weht, da schwingen und läuten nicht alle massiven
Thurmglocken: nur die Glasglöcklein der „Äolsharfen“,
die
ertönen. Wer
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ist aber Schuld an ihrem Tönen, sie oder der Wind? Übrigens
braucht der Wind nur stärker zu werden, er braucht nur zum Sturm sich auszuwachsen
und auch die massiven Thurmglocken dröhnen dann. Wir aber schlagen los auf die
zarten Äolsharfen und wollen sie zertrümmern weil sie unsere Ruhe stören, statt
ihnen dankbar zu sein, dass sie uns die Bewegung der Luft, die Richtung des Windes
anzeigen; ja, wir sind so naiv zu glauben, dass sie es sind, die den Wind machen! -
Zu diesem unserem Irrtum trägt allerdings auch bei eine antiquirte
individualistische Ansicht über die Entstehung unserer Gedanken und
unserer Strebungen; jener ganze veraltete Rattenkönig von Vorurteilen, der sich um
den „freien Willen“ herumwickelt und den Einzelnen als einen Gott-Schöpfer seiner
Gedanken und Wollungen ansieht. Wann wird einmal die einzig richtige sociologische
Betrachtung des Menschen sich Bahn brechen, die im Einzelnen nur ein Product seiner
Umwelt, seine Gedanken und Wollungen als
sociale Thatsachen
erkenn wird, d. h. als solche, die sich
ausserhalb seiner
Individualität vollzogen und deren
Ausdruck
lediglich der Einzelne werden kann? Wir sind noch weit entfernt von einer solchen
einzig richtigen Auffassung der Individualität als eines
Brennpunktes den die
sozialen Lichtstrahlen
erzeugen, der aber an und für sich selbst
nichts ist.
Wir jagen diesen leuchtenden Brennpunkten nach und glauben
alle socialen Lichtstraheln zu verlöschen, wenn wir einen solchen Brennpunkt fassen. Wir merken gar nicht die Täuschung, dass wir, nachdem
wir sie „fassten“, nichts in der Hand haben, dass die
Millionen socialer Lichtstrahlen ihre Wirkung weiter üben und ihre Brennpunkte ewig
und unabänderlich erzeugen und mögen wir hunderte und tausende Leute, die jedesmal
zufällig in den Brennpunkt zu stehn kommen, bei Seite
schaffen und hinter Schloss und Riegel legen.
Mit den Hexenprozessen haben die Umsturzprozesse
insbesondere die Täuschung über eine angebliche Gefahr gemein, die thatsächlich
nicht vorhanden ist. Und da wollen wir gleich von der so sehr befürchteten grössten Gefahr sprechen, mit der heutzutage allgemein
Wau-Wau gespielt wird: wir meinen die Gefahr des Staats-
„Umsturzes“. Gegen diese eingebildete Gefahr ist ja die Gefahr des Verhexens, die
man den Hexen imputierte, eine sehr ernste Sache. Denn am Ende könnten ja moderne
Hypnotiker und Suggestionstheoretiker die Frage des Verhexens ernstlich behandeln: was von der Frage des „Staats-Umsturzes“ wahrhaftig
nicht geschehen kann.
Denn ich frage, ob jemand mit gesundem Verstande annehmen
kann, dass es in der Macht irgend eines
Einzelnen ist, der
weder über Armeen noch über Krupp'sche Kanonen verfügt, irgend eine Handlung zu
setzen, die auch nur im entferntesten zur Ursache eines „Staats-Umsturzes“ werden
kann? Man muss eben keinen Begriff haben von der socialen Nothwendigkeit und
Unvermeidlichkeit des Staates, um zu glauben, dass es vom
Willen Einzelner abhänge, Handlungen zu setzen, die auch nur in der weitesten
Verkettung von Ursache und Folge den „Umsturz“ des Staates herbeiführen könnten. An
solche Wahnbilder können nur Leute glauben, die den Staat als willkürlich
gestaltetes
Menschenwerk ausserhalb alles Naturgeschehens
setzen und in ihrer Einfalt sich zu „Hütern“ dieses „Werkes“ aufwerfen. Allerdings
stehen diese Angstmeier auf derselben
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Gedankenhöhe wie ihre Gegner, die
„Anarchisten“, die da meinen, dass es nur einiger kräftiger Rucke bedarf und der
Staat stürze in sich zusammen, sei dann tot und werde begraben. Nun, es hat ja auch
immer bona fide handelnde Hexen gegeben, welche von der Wirksamkeit ihrer
Zauberkünste überzeugt waren. War deswegen etwa ihr Flammentod mehr gerechtfertigt?
Zwei Dinge wollten wir durch obige Auseinandersetzungen
erweisen: erstens dass wir über die „barbarischen“ Jahrhunderte der Hexenprozesse
nicht gar so sehr uns erhaben fühlen sollten: denn wir haben unsere
verschiedentlichen Umsturzprozesse.
Zweitens dass es hoch an der Zeit wäre, dass unsere
Gesetzgeber sich auch ein wenig auf dem Gebiet der Sociologie umsehen. Sie könnten
da zweierlei Lehren beherzigen. Die eine ist die vom Individuum und zwar, dass
dieses mit all seinem „sittlich-freien“ Geist und Willen immer nur eine Folge und zwar eine notwendige unvermeidliche Folge, nie aber selbständige Ursache
ist. Will man nun dieses Individuum aufheben, seine geistige Thätigkeit wirkungslos
machen, so muss man trachten, die Ursachen dieses Individuums
aufzuheben. Lässt man die Ursachen bestehen oder kann man sie nicht beseitigen, so
hilft die Beseitigung dieses einen Individuums gar nichts, denn die bestehen
bleibenden Ursachen erzeugen dieselben Folgen und an Stelle des beseitigten
Individuums kommen andere, die ganz dasselbe denken und wollen und thun.
Eine zweite Lehre der Sociologie ist die, dass der Staat
als sociales Erzeugniss, als sociale Thatsache ebensowenig „umgestürzt“ werden kann
wie man die Sonnenstrahlen in Eiszapen verwandeln kann. An dem
Staate kann vieles gebessert werden: umgestürzt, aufgehoben, vernichtet
kann er nicht werden, ausser dass er durch einen
mächtigeren
Staat von aussen her erobert und annectirt wird. Wenn also die Existenz des
Staates überhaupt ausser Frage steht, so kann es sich nur um Verschlimmerung oder
Verbesserung der Lage menschlicher Gesellschaften
im Staate
handeln. Wenn es sich aber überhaupt nur
darum handeln kann.
die gesellschaftlichen Zustände im Staate zu verschlimmern oder zu verbessern, so
sollte man jedem, der über den Staat öffentlich spricht oder schreibt, eine
Verdienstmedaille widmen, aber ja keinem von ihnen dafür einen Process machen. Denn
es giebt ja nur zwei Möglichkeiten: entweder er spricht die Wahrheit oder die
Unwahrheit. Im ersteren Falle fördert er die natürliche Entwickelung der socialen
Zustände
direkt: in letzterem Falle thut er dies
indirekt, indem er durch Weckung von Widerspruch die Wahrheit
provocirt. Schaden kann aber auch das dümmste Reden nicht: denn wie könnten
individuelle Meinungsäusserungen die Entwicklung eines Naturprozesses (und ein
solcher ist ja der sociale Entwicklungsprozess) ändern, verhindern oder aufhalten?
Und doch beruht nur auf solchen Vorurteilen, als ob der eine oder der andere Redner
durch sein Reden dem
Staate irgend einen Schaden zufüge, ihn
gar „umstürzen“ könne, eine Zahl von Gesetzen „zum Schutze des Staates“. Das sind
einfach Gesetze gegen Zauberkünste und Hexereien. Denn ist der Staat wirklich Etwas,
das gegebenen Fales unter Menschen auch
nicht sein könnte:
dann wäre er gewiss schon längst nicht mehr vorhanden, denn derjenigen, die ihm gram
sind, hat es von jeher die bedeutendste Mehrzahl gegeben. Wenn er trotzdem be-
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steht und immer bestehen wird, so liegt die Ursache einfach in einem
socialen Naturgesetze, welches weder der genialste und mächtigste Mensch noch auch
Millionenmassen aufheben oder „umstürzen“ können.
Das ewige Rütteln aber an
bestehenden Einrichtungen hat nie geschadet und kann nie schaden. Im Gegenteil,
dieses ewige Rütteln ist eine naturnotwendige Reflexbewegung
des socialen Körpers, (um uns dieser viel missbrauchten Metapher zu bedienen) um
seine Lage den ihn umgebenden Naturverhältnissen anzupassen
und immer angepasst zu erhalten. Ohne dieses Rütteln tritt
eine Versumpfung der Gesellschaft ein, der sociale Process stagnirt, es tritt eine
Art Fäulniss ein. Dies Rütteln aber besorgen naturnotwendig,
unbewusst und unwillkürlich alle oppositionellen oder wie man sie auch nennt
„umstürzlerischen“ Parteien im Staate. Ein späteres Jahrhundert, das einst auf uns
als „Barbaren“ mitleidsvoll zurückschauen wird, wird darüber lachen, dass wir diese
Wahrheit nicht erkannt und die Rüttler eingesperrt haben,
während sie doch um die naturgemässe Entwicklung des Staates und der Gesellschaft,
um ihre fortschreitende Anpassung an die immer sich ändernden
Bedingungen des Lebens sich mehr Verdienste erworben haben als diejenigen die nicht
rütteln sondern sich ducken. Mag
es nun das 20. oder 21. oder ein noch späteres Jahrhundert sein, es wird uns
auslachen, dass wir die Duckmäuser, die uns dem
Erstickungstode nahe brachten, mit Ehren und Würden überhäuften und die Rüttler, die uns zwangen uns mehr Lebensluft und Freiheit zu
schaffen, allerdings nicht wie Hexen verbrannten, aber doch nach fotgeschrittenster,
vervollkommnetster, ja sogar humanster Methode – quälten. –
* * *
Wenn wir etwas voraus haben vor verflossenen Jahrhunderten,
so ist es die öffentliche Discussion und die durch die Presse ermöglichte
Verbreitung derselben. Denn nur durch diese Mittel, mögen sie in unzähligen
Einzelfällen noch so missbraucht werden, wird die Erkenntniss der Wahrheit gefördert
und werden die Gespenster der Täuschung verscheucht. Jede Maasregel aber ,welche die
öffentliche Discussion beschränken und ihre Verbreitung durch die Presse verhindern
will ist fortschrittsfeindlich. Will man aber solche Maassregeln damit begründen,
dass man auf zahlreiche Missbräuche der Discussion und der Presse und auf die Gefahr
des „Umsturzes“ hinweist, die angeblich durch solche Missbräuche herbeigeführt
werden kann: so liegt dem nur eine sociale Sinnestäuschung zu Grunde. Denn nie und
nimmer kann eine solche Gefahr auch durch die allerunbeschränkteste Discussion
herbeigeführt werden.
Man verwechselt eben noch immer die Ursache mit der
Wirkung. Die Gedanken und Reden der Menschen sind
Wirkungen
der socialen Entwicklung, sind
sociale Thatsachen: nimmer
aber können sie die sociale Entwicklung beeinflussen, weder sie aufhalten noch sie
in ihrem naturgesetzlichen Gange stören. Das Individuum ist nicht der Erreger und
Urheber der socialen Entwicklung sondern ihr
Product. Seine
Gedanken und Strebungen auch des genialsten und mächtigsten Menschen sind immer nur
Zeiger auf dem Zifferblatt der Geschichte, die von dem dahinter unablässig
arbeitenden Uhrwerk der socialen
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Entwicklung bewegt werden. Nicht der
Zeiger bewegt das Uhrwerk sondern umgekehrt.
Das Individuum kann den Gang der Entwicklung nur mehr oder
minder getreu interpretiren, kann mehr oder minder dieser Entwicklung entsprechende
Handlungen vornehmen. Ist seine Interpretation falsch, so verhallt sie im Winde
wirkungslos, ist sie richtig, so bleibt sie als Wahrheit im Gedächtniss der
dankbaren Menschheit. Sind seine Handlungen der Entwicklung entsprechend, so werden
sie als die Entwicklung fördernd angesehen, gehen sie gegen den Strich der
Entwicklung, so werden sie als unangenehme Störungen empfunden, über welche die
natürliche Entwicklung zur Tagesordnung übergeht.
Wie wenig aber der Einzelne die nüatrliche Entwicklung der
Dinge ändern kann, wie wenig er natürliche und naturnotwendige Gestaltungen (und
eine solche ist der Staat mit allem was an ihm naturnotwendig ist) „umstürzen“ kann,
das beweist am besten das Beispiel von gewaltigen „Umstürzlern“, die zufällig auf
Thronen sassen und über Millionen herrschten. Nach ihrer individuellen Veranlagung
waren das gerade die geistreichsten und vom besten Willen beseelten Monarchen. Ein
solcher war ja Kaiser
Joseph II in
Osterreich. Wäre er Privatmann gewesen, und hätte er so manche
in
seiner Zeit gelegene Idee öffentlich ausgesprochen, wie er es vom Throne
aus that: die alten Hofräte an der obersten „Justizstelle“ hätten ihn als
„Umstürzler“ eingesperrt; am Spielberg hätten sie ihn bei Wasser und Brot zu
„bessern“ versucht. Diesem Schicksal entging er nur durch den Zufall seiner Geburt.
Konnte er aber deswegen und trotzdem er ein mächtiger Monarch war, seine
Umsturzpläne durchführen? Was baufällig war und über Nacht von selber eingestürzt
wäre, das hat er umgestürzt und das wird ihm von einer dankbaren Menschheit als
Verdienst angerechnet. Was aber fest stand, was naturnotwendig entstand und im Volke
festgewurzelt war, ihm aber als unvernünftig erschien: das konnte er trotz aller
seiner Macht und aller seiner Anstrengungen nicht umstürzen. Er wollte zum Beispiel
die Vielsprachigkeit in Oesterreich aufheben und alle Völker Oesterreichs zu
Deutschen machen: das konnte er nicht dieser gewaltige Revolutionär. Ja nicht einmal
eine solche Kleinigkeit wie den üblichen Pomp der Begräbnisse, der
ihm unvernünftig schien, und an dessen Stelle er die einfache Bestattung
der Leichen in Leinwandsäcken einführen wollte, nicht einmal diese Kleinigkeit
konnte er umstürzen, dieser Umstürzler auf dem Throne. Wäre er aber Privatmann
gewesen, die alten Hofräte hätten ihn ganz unnötigerweise in den Kasematten des
Spielbergs gequält: denn schliesslich konnte er nichts umstürzen, was naturnotwendig
fest stand, und was er „stürzte“, wäre auch ohne ihn zusammengestürtzt.
Die Leibeigenschaft wäre in Oesterreich aufgehoben worden,
auch wenn es keinen Kaiser
Joseph II. gegeben
hätte; denn sie war unhaltbar geworden und ist ja auch gleichzeitig in andern
europäischen Staaten aufgehoben worden; Klöster aber bestehen noch heutzutage in
Oesterreich, trotzdem Kaiser
Joteph II. [sic]
deren so und so viele aufgehoben hat. Auch die Vielsprachigkeit im öffentlichen
Leben Oesterreichs, die er „abschaffen“ wollte, besteht und entwickelte sich seither
in naturgemässer Weise. Wenn wir nun sehen, dass es auch Umstürzlern auf Thronen
nicht gelingt, das was naturnotwendig, im so-
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cialen Naturprozesse
wurzelnd besteht, zu stürzen, und dass sie höchstens als die Umstürzler
dessen gelten, was auch ohne sie nicht mehr haltbar war; was
sollen wir zu der ewigen Angst und Furcht sagen, dass uns der und jener junge
Weltverbesserer oder Volkstribun den Staat und seine ewigen Ordnungen umstürzen
werde? Es ist die reine Furcht vor den Zauberkünsten der Hexen, und mit welchen
Strafen immer wir diese „Umstürzler“ bedenken, sie stehen ihrem Wesen und ihrer
Bedeutung nach mit dem Verbrennen der Hexen auf einer Stufe und brandmarken uns in
den Augen späterer Jahrhunderte ganz ebenso als ein
unvernünftiges
und unwissendes, blinden und und rohen Trieben folgendes Geschlecht, wie in
unsern Augen die Jahrhunderte der Hexenprozesse und Ketzerverfolgungen gebrandmarkt
sind. -
Das alles wird aber so lange nicht besser werden, bis die
Geschlechter der Menschen den unseligen Wahn nicht aufgeben, dass jedes von ihnen
auf dem Gipfel der Zeiten sich befindet, dass hinter ihm Finsterniss und Barbarei
liegt, es selbst aber auf lichter Höhe der Erkenntniss angelangt sei.
Wird einmal dieser akrochronistische Wahn aufgegeben, dann
wird auch alle Kritik bestehender Einrichtungen ruhiger und unbefangener ertragen
werden, denn man wird die freie Discussion als das anerkennen
was sie ist: als das einzige Mittel, Täuschungen und Irrtümer zu erkennen und
Missbräuche zu beseitigen.
Gegenüber allen Ausschreitungen der Discussion aber wird
man gleichgültig sein, wenn man zu einer naturwissenschaftlichen und sociologischen
Auffassung des socialen Entwicklungspozesses durchgedrungen sein wird: wenn man zur
Erkenntniss gelangt sein wird, das auf socialem Gebiete sich alles
social vollzieht, das heisst durch sociales Thun und sociales Denken,
nicht durch Einzelthun und Einzeldenken. Wir stecken noch viel zu tief in dem
individualistischen Irrtum: dass es der Einzelne ist, der sociale Umwälzungen
hervorrufen kann und sind noch blind dafür, wie alles Thun und Denken des Einzelnen
Produkt seiner Zeit und seiner Umwelt ist: wir sind noch
socialblind und nehmen die Tausend geheimnissvollen Fäden nicht wahr, mit
denen der Einzelne mit seiner Zeit und Umwelt verbunden ist und die seine
individuellen Bewegungen auf Schritt und Tritt bestimmen. Da sich zu diesem Mangel
an sociologischer Erkenntniss die zwei angeborenen Schwächen der Menschennatur
gesellen, der Hang zur Abgötterei einerseits und rachedurstige Bosheit andererseits:
so erklärt es sich, dass wir den einen, die zufällig auf dem Höhepunkt einer
socialen Entwicklung stehen, Statuen stellen und die andern, die ebenso zufällig auf
dem niedern Anfangspunkt einer solchen Entwicklung stehen, einsperren. Braucht es
dafür der Beispiele? Wie viele Hunderte Verkündiger und Vorkämpfer deutscher Einheit
mussten im Gefängniss schmachten oder vom heimatlichen Boden in's Exil flüchten,
weil sie
am Anfang dieser Entwicklung standen, bis man einem
Bismarck Statuen aufrichtet, weil er auf dem Höhepunkt dier Entwicklung zu
stehen kam. Rachedürstige Bosheit verfolgte die ersten, das tiefe Bedürfniss nach
Heroënkultus richtet dem „Begründer der deutsche Einheit“ Statuen auf. Und war es in
Italien anders? Erst kommen die Hunderte und Tausende „Rebellen“ und „Umstürzler“,
und dann steigt auf ihre zermarterten Körper der „Begründer der italienischen
Einheit“, ein lorbeerberkränzter
Cavour.
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Dass sich hier naturgesetzliche sociale
Prozesse vollziehen, an denen die Einen eben so wenig
Schuld
trugen als den Andern ein
individueller Verdienst zukommt:
von dieser sociologischen Einsicht sind wir noch sehr ferne. Wir fahren ruhig fort,
die Einen einzusperren, um einem ihrer glücklichen Nachfolger einst Statuen zu
stellen.
Regt sich irgendwo eine sociale Entwicklung und beginnt
eine neue Ideeströmung, die sich der Geister bemächtigt und sich auf die eine oder
andere Weise Ausdruck verschafft, so zetern wir gegen die Gefahr des „Umsturzes“.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht müssen wacker arbeiten und die „Umstürzler“
zu Paaren treiben. Die Entwicklung aber geht ihren naturgesetzlichen Gang, denn nie
und nirgends hängt sie von Einzelnen ab; sie schafft sich ihre
Leute immer von Neuem, bis sie einmal ihren Höhepunkt erreicht hat: dann
liegen wir einmal wieder auf dem Bauch vor einem Heros. Das thut uns wohl,
ebensowohl wie uns einst die Verfolgungen und Quälereien der Mitmenschen wohl
thaten. Dabei aber thun wir uns immer auf unsere hohe Civilisation etwas zu Gute,
auf unsere hohe Cultur und Humanität und auf unsere grossen Fortschritte im Wissen.
Die Wahrheit aber ist, dass wir allerdings schon manches
wissen, dass uns aber das uns am nächsten Liegende, das Wesen und die Gesetze der
socialen Entwicklung noch immer ein Buch mit sieben Siegeln ist und dass aus Mangel
an Erkenntniss unsere Handlungen auf socialem Gebiete heutzutage ebenso von blinden
Trieben der Furcht und der Rache bestimmt werden, wie zu
Zeiten der Hexenprozesse und Ketzerverfolgungen.
Bis einst gereiftere Erkenntnisse und Einblicke in das
Wesen des socialen Entwicklungsganges die letzten Gespenster der Täuschung
vertrieben und die wahren niedrigen Motive unseres Handelns in die gebührende
Beleuchtung gestellt haben werden: dann vielleicht wird die kindische Umsturzangst
weichen und wird eine erhöhte Einsicht die rohen Triebe primitiver Menschennatur,
als da sind Rachedurst einerseits und Abgötterei andererseits, etwas zurückdrängen.
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