[…] Berlin, Springer, 1889. XI u. 419 S. gro. 80. M. 8.
Wer des
Verfs. akademische Antrittsrede über die Entwicklung der Statstheorie in
Schmollers
Jahrbuch XIII gelesen hat, muss demselben ein günstiges Horoskop stellen. Er ist
ein geistreicher, für seinen Gegenstand begeisterter Forscher, der sich auf
fortschrittlicher Bahn bewegt. Sein vorliegendes Werk sit eine Ausführung des in
jener Rede kurz entwickelten statsrechtlichen Porgramms. Die Grundidee des
Verfs. wurzelt in der Genossenschaftstheorie, und der vertritt die Ansicht, dass
die menschlichen „Verbände“, da sie eine aufsteigende Evolution darstellen
(Familie, Gemeinde, Stat, Reich, Weltverein), auch entwicklungsgeschichtlich
erklärt werden müssen.
In dem ersten dogmengeschichtlichen Teil versucht nun
Verf. den Nachweis, dass die bisherige
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deutsche Statstheorie trotz
„zahlreicher und manigfacher Consctructionsversuche nur ein negatives Resultat“
erzielte. Den Grund dieses Misgeschickes scheint Verf. in dem Umstande finden zu
wollen, dass die bisherige Statstheorie den Souveränetätsbegriff zum
Ausgangspunkt nahm;
der müsse ganz eliminiert werden (S.
99). Den zweiten Teil widmet Verf. der Analyse der Begriffe: Souvernänetät, Stat
und Herschaft, wobei er wider gegen die bisherigen Theorien polemisiert und
nachzuweisen sucht, wie aus dem „germanischen Recht sich das Grundprincip des
modernen Rechtsstat entwickelt, welches berufen ist den
romanischen Begriff und das romanische Wort: Souveränetät ganz
zuverdrängen“ (S. 136). Im dritten Teil folgt die
Synthese des Verfs., welche darin gipfelt, dass „nicht nur begrifflich,
sondern auch
historisch die Gemeinde das Primäre, der
Stat das Secundäre, das Reich das Tertiäre ist“ (S. 207). „Dermaleinst“ aber
wird sich „vielleicht“ auch „der umfassende Organismus der Völkergemeinschaft
vollenden“ (208). Ref. glaubt damit den Standpunkt und die Grundidee des Buches
angedeutet zu haben. Verf. scheint der Ansicht zu sein, dass er uns eine
„juristische“ Statsconstruction bietet; Ref. dagegen ist der Ansicht, dass wir
es mit einer mehr geschichtsphilosophischen (stark an Hegel erinnernden)
Construction zu tun haben. Große Begabung, Geist und Scharfsinn gesteht Ref. dem
Verf. gerne zu; leider aber steht Ref. auf einem schnurstracks entgegengesetzten
Standpunkt. Wenn, wie das Verf. in seiner Antrittsrede sagte, „Theorie“ so viel
heißt wie „sehen dessen,
was wirklich ist“: so hält Ref.
die hier aufgestellt Theorie des Verfs. für unrichtig, weil die hier
dargestellte Evolution
der Wirklichkeit nicht entspricht.
Verf. nennt sein Buch einen „Versuch einer
deutschen
Statsconstruction“. Damit hat er wol selbst angedeutet, dass diese Construction
für die gegenwärtige Situation des deutschen Reiches passt, dieselbe als eine
notwendige historische Erscheinung erklärt. Das mag richtig sein. Von einem
allgemeineren Standpunkte aus aber kann Ref. diese
Construction als richtig nicht acceptieren; auf andere Staten der Welt,
auf den Stat als solchen passt sie keineswegs. Es gab in
Deutschland schon sehr viele Statsconstructionen, welcher immer den Zweck
hatten, den gegebenen Zustand begrifflich zu begründen; die älteste dieser
Constructionen lautete: „römisches Reich deutscher Nation“. Jede solche
Construction ist ein Versuch, das momentan Bestehende, soweit es eben geht, als
das historisch Notwendige und allein Berechtigte darzustellen. In der Geschichte
dieser Versuche wird einst der des Verfs. als einer der glänzendsten figurieren.
Wie aber Deutschland tatsächlich nie ein „römisches Reich“ war, trotzdem diese
Construction einst ihre große Bedeutung und Berechtigung hatte, so ist der Stat
tatsächlich keineswegs eine Zwischenstufe zwischen
Gemeinde und Reich. Wenn aber eine befriedigende Erklärung und „Construction“
der gegenwärtigen statsrechtlichen Verhältnisse zwischen den Staten und dem
Reiche in Deutschland bisher nicht gelungen ist, was Verf. mit Recht behauptet:
so ist's ja möglich, dass die Ursache dieser Constructionsschwierigkeit ganz wo
anders liegt, als wo sie Verf. sucht; sie kann ja auch darin liegen, dass, wie
Joseph v.
Held 345
meinte: „alle sogenannten Statenverbindungen
in der Tat
Etappen auf dem Einigungs- oder Enteinigungswege der Völker, also
Uebergangsstationen sind“. Ref. neigt mehr zur Ansicht v.
Helds.