Ovis, cervus et lupus.
Promythion
Fraudator
fraudator,-is m.: Betrüger.
homines cum
cum
+Indikativ: immer wenn.
advocat sponsum
spondere 2, spopondi, sponsum: sich verbürgen, sich
verpflichten; sponsum: um zu verpflichten/verbürgen
(Supinum).
improbos,
non rem expedire,
expedire 4, -ivi, -itum: erledigen, abwickeln.
sed mala videre expetit.
expetere 3,
-petivi, -petitum: nach etwas
streben.
Exposition und Actio
ovem rogabat cervus modium
modius,-i m.: Scheffel ist ein antikes Maß für Trockenes, vor allem
aber für Getreide. In modernen Maßen entspricht ein Scheffel ca. 8,75 l mit
regionalen Abweichungen oder als Flächenmaß ca. 840 m2. Mit modius wird auch ein offenes, auf Füßen stehendes und nach oben schmal
werdendes Maßgefäß aus Holz oder Metall bezeichnet. Der modius als Getreidemaß entspricht ca. 6,6 kg Weizen und 5,5 kg Gerste
(vgl. Schulzki 2000, 316–317).
tritici
triticum,-i n.: Weizen.
lupo sponsore.
sponsor,-is m.: Bürge.
„Das röm<ische> Recht kennt drei rechtsgeschäftliche Formen der
B<ürgschaft>, sponsio, fidepromissio sowie die fideiussio. Der Bürge
verspricht dabei jeweils dem Gläubiger […], für die Verbindlichkeit eines
Dritten (=des Hauptschuldners) einzustehen. […] Während die sponsio lediglich röm[ischen] Bürgern zugänglich ist, steht die fidepromissio auch Peregrinen <Anm.: Fremden> offen.
Die fideiussio hingegen kann jede Art von
Vertragsobligation sowie Naturobligationen […] sichern und ist vererblich.“
(Meissel 1997, 823).
at illa praemetuens
praemetuere 3, -ui,
-: im Voraus fürchten.
dolum:
Reactio
„rapere atque abire semper assuevit
assuescere
3, -suevi, -suetum: sich gewöhnen; im Perfekt: gewohnt
sein.
lupus,
tu de conspectu
conspectus,-us m.: (An-)Blick;
Anmerkung: Hier ist damit möglicherweise der Anblick vor Gericht bzw. vor einem
Richter gemeint, dem sich der Hirsch als vermeintlicher Täter entziehen möchte.
Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass die ganze Fabel einer
(Gerichts-)Verhandlung ähnelt.
fugere
fugere: ergänze: assuevisti.
veloci
velox,-cis:
schnell.
impetu;
impetus,-us
m.: Ansturm, Angriff; hier: Lauf, Andrang.
ubi vos requiram
requirere 3, -quisivi, -quisitum: suchen.
cum
cum…advenerit: cum+Indikativ: wenn, sobald
als.
dies
dies,-ei
m./f.: Tag; hier: Termin, Frist; dies bezeichnet im
römischen Recht einen Tag oder ein Datum, der bzw. das in einer Klausel eines
Rechtsgeschäfts oder einer testamentarischen Verfügung, angegeben ist und der
bzw. das den Beginn oder das Ende der Gültigkeit davon mit einem bestimmten
Datum verbindet (vgl. Berger 1953, 435). Um diese Definition von dies in einem Wort wiederzugeben, kann man auch sagen,
dass dies eine Frist bzw. einen bestimmten Termin bezeichnet. In dieser
Verwendung ist dies weiblich, wobei in dieser Fabel
nicht geklärt werden kann, welches Geschlecht dies
besitzt.
advenerit?“
Das Schaf, der Hirsch und der Wolf.
Immer wenn ein Betrüger schlechte Menschen zum Bürgen
herbeiruft, strebt er nicht <danach>, eine Sache zu erledigen, sondern, Unheil zu
sehen.
Von dem Schaf erbat sich der Hirsch einen Scheffel Weizen
mit dem Wolf als Bürgen. Aber jenes fürchtete <schon> im Voraus eine List <und
sagte>:
[5]„Der Wolf ist <es> gewohnt, immer zu rauben
und wegzugehen, du <bist es gewohnt>, dem Anblick in schnellem Lauf zu entfliehen.
Wo soll ich euch suchen, wenn die Frist gekommen ist?“
Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!
Die Fabel sagt aus, dass Betrüger,
wenn sie schlechte Menschen als Bürgen hinzuziehen, Unheil sehen wollen. Ein Hirsch
bittet ein Schaf um Getreide. Der Hirsch darf einen Bürgen hinzuziehen, wofür er den
Wolf vorschlägt. Das Schaf erahnt den möglichen Betrug und ist deshalb mit der Wahl
des Bürgen nicht zufrieden. Folglich antwortet es dem Hirsch mit einer Frage: „Wo soll
ich euch suchen, wenn der Tag der Rückgabe gekommen ist?“
Gliedern Sie den Ausgangstext nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Nennen Sie
auffällige Unterschiede!
Promythion: 1-2
Exposition und Actio: 3-4a
Reactio: 4b-7
Einerseits folgt die Fabel dem
üblichen Aufbau, da auch sie ein Promythion, eine Exposition, eine Actio und eine
Reactio besitzt. Andererseits hebt sich diese Fabel in ihrem Aufbau von anderen ab, da
in ihr die Expositio mit der Actio zusammenfällt. Die Reactio wird durch das stark
trennende at abgegrenzt.
Erläutern Sie, inwiefern die Metrik bestimmte Aussagen der Fabel unterstreicht wie
zum Beispiel:
v.7:
fugere: Die drei Kürzen, die
Auflösung in der Hebung und die Abtrennung durch Zäsuren betonen die
Schnelligkeit.
Nennen Sie drei weitere Beispiele!
v.3: cervus
steht in der Mitte durch Zäsuren abgetrennt, wodurch die Rolle des Hirsches durch die
Stellung und durch die Metrik hervorgehoben wird.
v.4: at
illa: Durch die Mittelstellung und die Abtrennung durch eine Zäsur davor und
danach wird der Gegensatz, den at ausdrückt, zusätzlich
betont.
v.6: rapere:
Die Auflösungen und die zwei darauffolgenden Elisionen verstärken die rasche und
hastige Handlungsweise.
Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel: Hyperbaton, Parallelismus,
Enjambement, Assonanz, Alliteration, Chiasmus! Erklären Sie, wie sie sich auf die
Textinterpretation auswirken!
Hyperbaton: v.1, homines […] improbos: Das Hyperbaton betont zum
einen improbos, das eine Verbindung zu vorhergehenden Fabeln
mit ähnlichen Fragestellungen herstellt (vgl. 1,1 und 1,8), in denen der Wolf jeweils
der Bösewicht war, zum anderen auch das an zweiter Stelle gesetzte Wort homines.
Parallelismus: v.2: rem expedire […] mala videre: Durch den
Parallelismus wird die Spannung, die in v.1 durch fraudator
erzeugt wird, bis expetit aufrechterhalten. Ferner wird
dadurch auch mala, das somit in die Mitte des zweiten Verses gestellt werden kann,
stark betont.
Enjambement: vv.3–4: Da lupo / sponsore als Enjambement in
Vers 4 rutscht, wird lupo betont an die erste Stelle gestellt
und bildet somit einen Gegensatz zu ovem am Beginn von
v.3.
Assonanz: v.4: lupo sponsore: Die negative Charakterisierung des Wolfes, die in v.5 folgt,
wird hier durch die Häufung langer o-Laute vorweggenommen und betont.
Alliteration: v.5: atque abire: Die Alliteration in Kombination mit der Metrik betont in v.5 die
negativen Eigenschaften des Wolfes.
Chiasmus: vv.5-6: abire […] assuevit lupus, tu […] fugere: Durch diese Stilfigur wird einmal mehr der Gegensatz zwischen Wolf
und Hirsch betont.
Nehmen Sie Stellung zu dem textkritischen Problem!
mala videre ist in den Handschriften einheitlich überliefert;
da die Formulierung ungewöhnlich ist, haben moderne Herausgeber Konjekturen
vorgeschlagen:
mala indere Guyetus,
mala
inferre Zorn,
malum inferre Müller.
Lässt sich die überlieferte Lesart halten oder sollte man konjizieren? Wenn ja, welche Konjektur
ließe sich am besten begründen?
mala videre
ist zwar eine ungewöhnliche Formulierung; doch vereinfachen die angebotenen
Konjekturen den Text zu stark. Es besteht daher keine Notwendigkeit den überlieferten
Text zu ändern. Die Konjekturen bieten alle gut belegte lateinische Formulierungen zu
einem Ausdruck wie ‚Übel zufügen‘; ein Unterschied ist hier nicht auszumachen.
Erklären Sie, wie ein ‚Bürge‘ bei Gaius (Gai. inst. 3,115,1–3; Gai. inst. 3,
117,1–4) beschrieben wird, welche drei Arten von Bürgen er unterscheidet und was eine
wichtige Eigenschaft eines Bürgen zu sein scheint!
Sehen Sie sich an, welche Art
des Bürgen Phaedrus verwendet, und erläutern Sie, was dies für die Interpretation der
Fabel bedeutet!
Ein Bürge wird von jemandem
hinzugezogen, der sich zu etwas verpflichtet (z.B. die Rückgabe von Getreide). Das
bedeutet, dass ein Bürge verspricht, die Einstellung dessen, für den er bürgt, zu
teilen bzw. seine Handlungen und Intentionen zu unterstützen. Es werden drei Arten von
Bürgen unterschieden: sponsores, fidepromissores und fideiussores. In der Fabel des
Phaedrus wird sponsor für ‚Bürge‘ verwendet, was insofern
interessant ist, als nur ein römischer Bürger ein sponsor
werden konnte. Zu fidepromissores können auch Zugewanderte
werden und fideiussores können jede Art von
Vertragsobligationen oder Naturobligationen sichern. Zudem ist diese Art der
Bürgschaft vererblich (vgl. Meissel 1997, 822–823). Für die Interpretation der Fabel
bedeutet die Wahl des Wortes sponsor als Bezeichnung des
Bürgen, dass damit der römische Aspekt der Fabel betont wird.
Für die Person, für die gebürgt wird,
ist die Zuverlässigkeit des Bürgen von großer Bedeutung. Das hier dargestellte
Rechtssystem ist klar als ein Rechtssystem römischer Prägung zu erkennen, da das
römische Recht eindeutig als genuin römische und von anderen Rechtssystemen klar
unterscheidbare Errungenschaft definiert werden kann (vgl. Gärtner 2015, 186). Im
Umkehrschluss bedeutet dies, dass, wenn der Wolf in dieser Fabel zum sponsor wird, er nach römischem Recht auch ein römischer Bürger
sein muss, da dies die Voraussetzung für die Bezeichnung als sponsor ist. Damit wird das ‚Römische‘ in dieser Fabel nur noch stärker
unterstrichen.
Beschreiben Sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in formaler und inhaltlicher
Hinsicht, die sich zwischen der Version des Romulus (Rom 40 Th.) und der Fabel des
Phaedrus finden lassen!
Vergleich Romulus – Phaedrus 1,16
Gemeinsamkeiten |
beide Fabeln |
jeweils drei Tiere, in beiden Bitte um einen
Scheffel Weizen |
Unterschiede |
Romulus: Prosa, Phaedrus: Dichtung |
Romulus: keine besondere Betonung des Römischen;
Phaedrus: starke Betonung des Römischen (Wahl des Ausdrucks für Bürge etc.) |
Romulus: Schaf gibt Forderung des Hirsches nach;
Phaedrus: Ausgang offen |
Das Römische wird in der Version des
Romulus nicht so stark unterstrichen, da hier das Wort fidedictor für ‚Bürge‘ verwendet wird und nicht sponsor. fidedictor wird selten verwendet (vgl.
Thiele 1985 [1910], 123), überzeugender wäre hier der Ausdruck fideiussor für ‚Bürge‘, da durch diesen jede Vertrags- und Naturobligation
gesichert werden kann (vgl. Sachangabe zu sponsor, is m.:
Bürge). Der große Unterschied zur Version des Phaedrus ist, dass das Schaf in der
Romulus-Version der Forderung des Hirsches aus Angst nachgibt (vgl. Gärtner 2015,
186, Anm. 18). Während bei Phaedrus offenbleibt, ob das Schaf mit seiner schlauen Frage
durchkommt, wird dies bei Romulus bereits vorweggenommen, indem erwähnt wird, dass
dieses der Bitte des Hirsches nachkommt, obwohl es nicht überzeugt ist.
Nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sich zwischen den Fabeln 1,16 und
1,17 finden lassen! Legen Sie dar, inwiefern der Vergleich mit der Parallelfabel die
Interpretation der Ausgangsfabel beeinflusst!
Vergleich Phaedrus 1,16 – Phaedrus 1,17
Gemeinsamkeiten |
beides Versfabeln |
gleicher Aufbau |
jeweils drei Tiere |
Schaf und Wolf in beiden Fabeln |
Wolf in beiden Fabeln Bürge/Zeuge |
Unterschiede |
1,16: Hirsch, 1,17: Hund |
1,16: Bitte um Scheffel Weizen, 1,17: Bitte um
Brot |
In beiden Fabeln wird Nahrung
verlangt, es kommen ein Schaf und ein Wolf vor und die Ähnlichkeit zu einer
Gerichtsverhandlung ist beide Male deutlich zu erkennen. In 1,17 geht ein Hund mit
einem Wolf das gleiche Bündnis ein wie der Hirsch mit dem Wolf in 1,16. Das bedeutet,
die Figur des Hirsches in 1,16 wird in 1,17 durch die eines Hundes ersetzt. Es
überrascht nicht, dass in beiden Fabeln der Wolf als Bürge bzw. Zeuge eingesetzt wird,
da er doch als gefräßiges, gieriges und nicht vertrauenswürdiges Tier, wie man ihn aus
anderen Fabeln kennt, das genaue Gegenteil eines idealen
Bürgen und Zeugen darstellt. Somit entsteht durch die Wahl des Wolfes als Zeuge oder
Bürge eine gewisse Ironie. 1,17 ist pointierter als 1,16, da der Wolf in 1,17 nicht
nur als stiller Bürge fungiert, sondern behauptet, dass das Schaf dem Hund nicht nur
ein Stück Brot, sondern zehn schulde. 1,17 geht in einem Punkt über 1,16 hinaus, da
dort beschrieben wird, wie das Schaf den in einer Grube liegenden Wolf sieht, der für
seine Falschaussage eine gerechte Strafe bekommen zu haben scheint.
Nehmen Sie zu folgender Charakterisierung des Schafes und Wolfes in den Fabeln
1,16 und 1,17 durch Oberg Stellung!
„Das Schaf [...] wird in den übrigen
Gedichten eher als selbstbewußt und aufsässig vorgestellt: I 16 empört es sich gegen
die Zumutung, den Wolf als Bürgen anzuerkennen; I 17 duldet es zwar, triumphiert aber
über die Bestrafung des Wolfes“. (Oberg 2000, 21–22)
„I 16 gilt […] <der
Wolf> als unzuverlässiger Bürge, I 17 im Komplott mit dem Hund als falscher Zeuge.“
(Oberg 2000, 22)
Charakterisierung von Schaf und Wolf
durch Oberg: Die Charakterisierung des Schafes als selbstbewusstes Tier ist auf alle
Fälle zutreffend, wobei fraglich ist, ob die Eigenschaft der Aufsässigkeit nicht zu
weit geht. In 1,16 beschreibt das Schaf den „typischen“ Charakter des Wolfes, der in
anderen Fabeln in ähnlicher Form geschildert wird, und macht von seinem Recht
Gebrauch, einen nicht zuverlässigen Bürgen abzulehnen. Die Frage, ob es mit dieser
Forderung Erfolg hat, bleibt offen. Es ist auch fraglich, ob man in 1,17 von einem
„Triumph“ des Schafes sprechen kann, da der Wolf ganz ohne Zutun des Schafes bestraft
wurde.
Die Charakterisierung des Wolfes in 1,16 und 1,17 durch Oberg ist durchaus
überzeugend, da in 1,16 bereits im Promythion von „schlechten Menschen“ als Bürgen
gesprochen wird und auch das Schaf den Wolf als Räuber charakterisiert, was mit der
Beobachtung von Oberg übereinstimmt. In 1,17 wird bereits zu Beginn des Gedichts von
„bösen Lügnern“ gesprochen und in der Folge wird auch eine „falsche Zeugenaussage“ des
Wolfes erwähnt. Als ein „böser Lügner“ und „falscher Zeuge“ bekommt der Wolf am Ende
seine „gerechte“ Strafe, was abermals mit der Charakterisierung gemäß Oberg
übereinstimmt.