Phaedr. 2,05 Phaedrus Förderreihe Sparkling Science, BMBWF Ursula Gärtner Herausgeberin Lukas Spielhofer Korrektur fachwissenschaftlich Encoding Alexander Praxmarer Ersterarbeitung Korrektur fachdidaktisch Klara Buchgraber Erarbeitung Grundlage Christopher Poms Korrektur Ulrike Kaliwoda Korrektur Institut für Antike, FB Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System Creative Commons BY-NC 4.0 Zentrum für Informationsmodellierung, Karl-Franzens-Universität Graz Graz Austria 2017-2019 o:graf.5342 Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Ursula Gärtner Projektleitung Herausgeberin 1st century AD Classical Antiquity Roman Empire Mediterranean Born Digital-Aufarbeitung antiker Textquellen für den Schulunterricht, deren Endprodukt eine wissenschaftliche Schul-Ausgabe, also sozusagen ein wissenschaftlich fundiertes und produziertes, 'digitales Schulbuch' ist. Die Primärtexte sind aus den zitierten Quellen bezogen. Phaedrus Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone A. Guaglianone Torino 1969 Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone, Torino 1969 Henderson, J. Telling Tales on Caesar. Roman Stories from Phaedrus New York 2001 Henderson, J.: Telling Tales on Caesar. Roman Stories from Phaedrus, Oxford 2001 (Ndr. 2007) Oberg,E. Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen Stuttgart 2000 Oberg, E.: Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen, Stuttgart 2000 Phaedr. 4,24 Mart. 2,7 Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe, 5. Semester - Kompetenzmodul 5 Heiteres und Hintergründiges Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 6. Semester – Kompetenzmodul 6 Der Mensch in seinem Alltag Lateinsechsjährig 6. Klasse (10. Schulstufe), 4. Semester – Kompetenzmodul 4 Witz, Spott, Ironie Lateinsechsjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 6. Semester – Kompetenzmodul 6 Der Mensch in seinem Alltag Mensch-Mensch-Fabel Gesellschaft Charaktereigenschaften Nichtstuer otium Sklave Aufschneider Kaiser Rang

Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.

longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura Fabel-Text
Graz, Austria German Latin Ancient Greek

Kaiser Tiberius

Sklave

Item item (Adv.): ebenso. Hier ist zuvor wohl eine Fabel verlorengegangen, die ein gleiches Thema behandelte. Caesar Caesar,-aris m.: Kaiser. ad atriensem atriensis,-is m.: Hausdiener, Hausverwalter.
Einleitung/Exposition 1 Est ardalionum ardalio,-onis m.: geschäftigtuender Nichtstuer, Müßiggänger; Gschaftlhuber. quaedam Romae natio, natio,-onis f.: Volk; Menschenschlag. trepide trepidus 3: aufgeregt. concursans, concursare 1,-avi,-atum: hin und her laufen. occupata in otio, gratis gratis (Adv.): umsonst, sinnlos. anhelans, anhelare 1,-avi,-atum: schwer atmen, keuchen. multa agendo nihil agens, sibi molesta molestus 3: lästig, beschwerlich. et aliis odiosissima. odiosus 3: verhasst. hanc emendare, emendare 1,-avi,-atum: bessern, läutern. si tamen possum, volo vera fabella: fabella,-ae f.: kleine Geschichte, Fabel. pretium est operae operae pretium est: es ist der Mühe wert. attendere. attendere 3,-tendi,-tentum: aufpassen, zuhören.
Exposition 2 Caesar Tiberius cum petens Neapolim Neapolis,-is f.: Neapel (Stadt in Italien). in Misenensem Misenensis,-e (Adj.): in Misenum (Stadt in Italien). villam villa,-ae f.: Landgut. venisset suam, quae monte summo posita Luculli Lucullus,-i m.: Lucullus (römischer Senator und Feldherr, bekannt für seinen Reichtum und ausschweifenden Lebensstil). manu prospectat prospectare 1,-avi,-atum (+Akk.): (vorne) auf etwas schauen. Siculum Siculum mare: Das sizilische Meer. et perspicit perspicere 3,-spexi,-spectum: (etwas) deutlich sehen; zurückblicken auf. Tuscum Tuscum mare: Das tyrrhenische Meer. mare:
Actio 1 ex alticinctis alticinctus 3: hoch gegürtet. unus atriensibus, cui tunica tunica,-ae f.: Tunika. ab umeris umerus,-i m.: Schulter. linteo Pelusio linteum Pelusium,-i n.: ägyptisches Leinen. erat destricta, destringere 3,-strinxi,-strictum: abwärts schnüren. cirris cirrus,-i m.: Franse. dependentibus, dependere 2: herabhängen. perambulante perambulare 1,-avi,-atum (+ Akk.): (durch etwas) spazieren. laeta laetus 3: üppig. domino viridia, viridia,-ium n. Pl.: Grünanlagen. alveolo alveolus,-i m.: Schüssel. coepit ligneo ligneus 3: hölzern, aus Holz. conspargere conspargere = conspergere 3,-spersi,-spersum: bespritzen. humum humus,-i f.: Boden. aestuantem, aestuare 1,-avi,-atum: vor Hitze glühen, heiß sein. come comis,-e: zuvorkommend. officium officium,-i n.: Pflicht; hier: Dienst, Gefälligkeit. iactitans: iactitare = iactare 1,-avi,-atum: werfen; hier: rühmen.
Reactio 1 sed deridetur. deridere 2,-risi,-risum: auslachen, verspotten. inde notis flexibus flexus,-us m.: Biegung; hier: Umweg.
Actio 2 praecurrit praecurrere 3,-curri,-cursum: vorauslaufen. alium in xystum, xystus,-i m.: Terrasse. sedans pulverem sedare 1,-avi,-atum: den Staub binden. pulverem.
Reactio 2 agnoscit agnoscere 3,-novi,-nitum: erkennen. hominem Caesar remque intellegit. id ut putavit esse nescio quid nescio quid: irgendetwas. boni: „heus!“ heus!: Hallo! (Ausruf). inquit dominus. ille enimvero enimvero (Adv.): natürlich. assilit, assilire 4,-ui: herbeispringen, -stürmen.
Actio 3 donationis donatio,-onis f.: Geschenk. alacer alacer,-cris,-cre: feurig, entschlossen. certae certus 3: sicher. gaudio.
Reactio 3/Schluss tum sic iocata est iocari 1, iocatus sum: einen Witz machen. tanta maiestas maiestas,-atis f.: Hoheit, Würde. ducis: dux, ducis m.: Führer; hier: Kaiser. „non multum egisti et opera opera,-ae f.: Mühe. nequiquam nequiquam perire: vergeblich vertan werden. perit: multo maioris maioris venire 4 (Gen. pretii): mehr kosten. alapae alapa,-ae f.: Ohrfeige. mecum mecum: mit mir; hier: bei mir. veneunt“. Der Vers heißt wörtlich übersetzt: „Viel teurer werden bei mir Ohrfeigen verkauft“. alapa bedeutet Ohrfeige; möglich ist, dass hier darauf Bezug genommen wird, dass einem Sklaven bei der Freilassung von seinem Herrn angeblich eine solche gegeben wurde. Der Vers wäre dann so zu verstehen, dass Tiberius merkt, dass der Sklave sich anbiedern will, und daher sagt, bei ihm werde die Freilassung viel teurer verkauft.
Ebenso der Kaiser zu seinem Hausdiener

In Rom gibt es einen gewissen Menschenschlag von Gschaftlhubern, der aufgeregt hin und her läuft, beschäftigt in der Muße, sinnlos keuchend, indem er viel tut, doch nichts tuend, sich selbst lästig und anderen aufs Äußerste verhasst. [5] Diesen <Menschenschlag> will ich bessern, wenn ich es denn kann, durch eine wahre Geschichte: Es ist der Mühe wert zuzuhören.

Nachdem Kaiser Tiberius auf dem Weg nach Neapel auf sein Landgut bei Misenum gekommen war, das, durch die Hand des Lucullus auf die Spitze des Berges gesetzt, [10] vorne auf das Sizilische Meer schaut und zurück auf das Tyrrhenische blickt, begann einer von den hoch gegürteten Hausdienern, dem die Tunika aus ägyptischem Leinen von den Schultern her mit nach unten hängenden Fransen abwärts geschnürt war, während der Herr durch die üppigen Grünanlagen spazierte, [15] aus einer hölzernen Schüssel den Boden zu bespritzen, der vor Hitze glühte, und rühmte seine zuvorkommende Arbeit: Aber er wurde verlacht. Von dort aus lief er auf <ihm> bekannten Umwegen auf eine andere Terrasse voraus und band den Staub.

Der Kaiser nahm den Mann wahr und erkannte die Situation: [20] Als <der Diener> glaubte, dies sei irgendetwas Gutes, sagte der Herr: „He!“ Jener sprang natürlich herbei, entschlossen durch die Freude auf ein sicheres Geschenk. Darauf scherzte so die so große Majestät des Kaisers: „Du hast nicht viel getan und die Mühe ist umsonst vertan: Bei mir kosten Ohrfeigen viel mehr.“

Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!

Den Menschen in Rom, die gleichzeitig viel und nichts tun und anderen nur lästig sind, will das Ich mit einer Fabel helfen: Kaiser Tiberius besucht sein Landgut in Misenum. Dabei tut sich ein Haussklave hervor. Dieser versucht sich, in der Hoffnung auf Lob, durch hervorragende Leistungen, die jedoch im Moment nicht sinnvoll und recht überflüssig sind, besonders anzupreisen. So ruft er anstelle des Lobs eine gegenteilige Reaktion des Kaisers hervor, der seine Antwort mit dem Witz beschließt, dass bei ihm Ohrfeigen teurer verkauft werden.

Gliedern Sie den Ausgangstext nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel und nennen Sie auffällige Gemeinsamkeiten und Unterschiede! Inwiefern unterscheidet sich die Fabel vom ‚klassischen Modell‘ einer Phaedrusfabel?

Exposition/Einleitung 1: 1–6

Exposition 2: 7–10

Actio 1: 11–16

Reactio 1: 17a

Actio 2: 17b–18

Reactio 2: 19–21a

Actio 3: 21b–22

Reactio 3/Schluss: 23–25

Typisch an der Fabel ist der Wechsel von Actio/Reactio, der hier verdreifacht ist. Vieles ist aber untypisch: Die Fabel weist kein ausgeformtes Pro- oder Epimythion auf. Außerdem gibt es sozusagen zwei Expositionen, welche zudem eine auffällige Länge aufweisen. In der ersten, ungewöhnlich langen Exposition bzw. Einleitung, die Züge eines Promythions aufweist, wird das „Volk der ardaliones“ vorgestellt, gegen die sich der Autor in der folgenden Fabel richten will. Generell ist die Fabel sehr lang. Der größte Unterschied besteht wohl darin, dass in dieser Fabel keine Tiere oder Pflanzen sprechen, wie Phaedrus am Beginn seines Werks ankündigt (1 prol., 6). Er behauptet sogar, dass es sich um eine wahre Geschichte handle (vera fabella, 6). Diese Behauptung kann allerdings nicht beweisen, dass der Autor die Anekdote nicht doch selbst erfunden hat.

Erläutern Sie, welche Deutung durch die ausführliche Einleitung der Fabel (vv.1–6) nahegelegt wird!

Die Exposition/Einleitung der vv.1–6 erfüllt gewissermaßen die Funktion eines Promythions: Die Fabel sei wegen der Menschen geschrieben, die zwar stets beschäftigt wirken, aber dennoch wahre Nichtstuer sind. Außerdem seien diese Menschen jedem verhasst, sogar sich selbst. Somit wird bereits auf ein nicht allzu glimpfliches Ende für diese Personengruppe vorausgewiesen, was sich in der folgenden Fabel in Form des sich rühmenden Sklaven auch bestätigt. Dieser ist als Akteur der Fabel ein atriensis, wird aber durch die Einleitung als dem „Volk der ardaliones“ zugehörig dargestellt; das passt eigentlich nicht, denn der atriensis ist ein Sklave und kann damit nicht occupatus in otio sein.

Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel: Alliteration, Hyperbaton, Polyptoton, Parallelismus! Legen Sie dar, inwiefern diese das Verständnis der Fabel beeinflussen!

Alliteration: v.8, villam venisset: Durch die v-Alliteration wird der Ort der Handlung, die villa des Kaisers, zusätzlich zu ihrer Position in der Mitte des Verses betont. Der Kaiser ist am Landgut angekommen, nun kann sich die Geschichte entwickeln.

Hyperbaton: v.10, Siculum […] mare: Die Sperrung zwischen Siculum und mare, die auch das Tuscum mare miteinschließt, stellt den Ausblick vom Landgut in alle Richtungen dar, sie drückt also die Blickweite des Betrachters aus.

Polyptoton: v.3, multa agendo nihil agens: Das Polyptoton agendoagens, verbunden mit der Antithese multanihil in paralleler Bauweise, dient der Charakterisierung der Menschengruppe, an die die Fabel adressiert scheint. Dadurch, dass dasselbe Verb völlig konträre Ergebnisse liefert, wird hier die Wirkung betont, die diese Personen auf andere haben – sie scheinen einerseits hektisch und geschäftig, tun andererseits aber doch nichts Bedeutsames.

Parallelismus: v.4, sibi molesta et aliis odiosissima: Ebenso wie das Polyptoton in v.3 wird durch den Parallelismus in v.4 die Wirkung der ardaliones auf sich selbst und andere beschrieben: Die parallele Bauweise zeigt, dass sie gleichsam sich selbst als auch anderen – und damit allen gemeinsam – negativ erscheinen.

Die Überschrift hat BearbeiterInnen vor Probleme gestellt: Sie ist in der vorliegenden Form kaum verständlich. Statt item hat man beispielsweise Tiberius konjiziert (so Riese). Argumentieren Sie, welche Erklärungsmöglichkeiten sich für dieses Problem finden lassen!

Folgende Ansätze zur Erklärung der Überschrift lassen sich finden: 1.) Die Textstelle ist verderbt und somit unverständlich. 2.) Eine Abkürzung wurde falsch aufgelöst – so beispielsweise ITĒ (item) statt ¯TIB(Tiberius), wie Havet argumentiert. Auf diesen Umstand ist es auch zurückzuführen, dass Tiberius konjiziert wurde. 3.) Eine vorausgehende Fabel, die von Kaiser Tiberius handelte, ist verloren – dann würde eine folgende Fabel, die ‚ebenfalls‘ vom Kaiser handelt, Sinn ergeben.

Vergleichen Sie die vorliegende Fabel mit den Vergleichstexten bei Phaedrus (Phaedr. 4,24) und Martial (Mart. 2,7)! Wie werden die ardaliones in den drei Texten dargestellt? Auf welche Berufsgruppe könnten sich Phaedrus und Martial hier beziehen?

Alle Gedichte haben die zentrale Figur des ardalio bzw. entsprechendes Handeln gemeinsam. Sie versuchen, diese Bevölkerungsgruppe in einen negativen Kontext zu setzen. Dabei ist die Beschreibung dieser Menschen immer gleich: Obwohl es aussieht, als würden sie viel tun und mit Wichtigem beschäftigt sein, tun sie doch stets nur unnütze Dinge, also gar nichts. Diese Nichtstuer hatten wohl einen sehr schlechten Ruf. Phaedrus und Martial könnten sich auf Dichterkollegen beziehen, die zwar ständig mit der Produktion neuer Texte beschäftigt waren, jedoch nichts qualitativ Hochwertiges hervorbringen konnten. Kritik an Dichterkollegen ist vor allem bei Phaedrus ein gängiges Thema.

Die vorliegende Fabel ist eine der seltenen Fabeln, in der kein eindeutiges Pro- oder Epimythion vorliegt. Formulieren Sie selbst ein Pro- oder Epimythion und erläutern Sie, inwiefern dieses zur restlichen Fabel passt!

Individuelle Antworten.

„Manche Menschen versuchen, durch simulierte Arbeit Schmeichelei oder Belohnungen zu erhalten. Vorgetäuschte Mühe führt jedoch am Ende ins Unglück und bringt nicht den erwarteten Erfolg. Nur durch ehrliche, harte Arbeit kann man zu Ruhm gelangen.“

Das Promythion deckt sich großteils mit den Aussagen der ersten Exposition. Die Person, die Mühen vortäuscht und sich dadurch Belohnungen erhofft, findet sich in der Fabel in der Person des Sklaven wieder. Die Tatsache, dass diese Strategie nicht den erwünschten Erfolg bringt, zeigt sich wiederum in der Antwort des Kaisers. Somit bezieht sich das Promythion auf die Fabel bzw. wird durch diese an einem Beispiel dargestellt.

Häufig ist in der Literatur über Phaedrus zu lesen, dass er aus der Sicht der unterdrückten niederen Stände spreche. Stellen Sie dar, welches Bild in Phaedr. 2,5 von dem Kaiser, dem Sklaven und der Herrschaftsform gezeichnet wird!

Auffallend ist, dass die Regierungsform des Prinzipats hier in keiner Weise hinterfragt wird, die Positionen zwischen dominus und atriensis klar verteilt sind und es der Sklave ist, der sich unangemessen verhält. Als Sprachrohr des ‚Kleinen Mannes‘ wird man Phaedrus hier also nicht bezeichnen können.