Canis per
fluvium
fluvius,-i m.: Fluss.
carnem
caro,-nis f.:
Fleisch(-stück).
ferens.
Promythion
Amittit
amittit: ergänze: is.
merito
merito
(Adv.): zurecht.
proprium
proprium,-i n.: Eigentum.
qui alienum appetit.
appetere 3, appetivi, appetitum:
erstreben.
Exposition
canis per flumen carnem cum ferret
natans,
natare
1,-avi,-atum: schwimmen.
lympharum
lymphae,-arum f.: Wasser.
in
speculo
speculum,-i n.: Spiegel.
vidit simulacrum
simulacrum,-i n.:
Abbild.
suum,
aliamque praedam
praeda,-ae f.:
Beute.
ab alio cane ferri putans
Actio
eripere
eripere M, eripui, ereptum: entreißen.
voluit; verum
verum
(Adv.): aber.
decepta
decipere M,
decepi, deceptum: betrügen,
täuschen.
aviditas
aviditas,-tatis f.: Gier.
Reactio/Folge
et
et: hier: einerseits.
quem
tenebat ore
os,
oris n.: Mund, Maul.
dimisit
dimittere
3, dimisi, dimissum:
wegschicken; hier: fallen lassen.
cibum,
cibum,-i n.:
Speise, Essen.
Ergebnis/Schluss
nec
nec ... adeo:
und noch dazu.
quem petebat potuit adeo attingere.
attingere 3, attigi, attactum: berühren,
erreichen.
Der Hund, der ein Stück Fleisch über einen Fluss trägt
Zurecht verliert derjenige sein Eigentum, der Fremdes
erstrebt.
Als der Hund ein Stück Fleisch schwimmend über einen
Fluss trug, sah er im Spiegel des Wassers sein Abbild.
Weil er glaubte, dass eine andere Beute von einem
anderen Hund getragen werde, [5] wollte er sie ihm entreißen;
aber die getäuschte Gier ließ einerseits das Essen
fallen, das sie im Maul hatte, und konnte noch dazu das, was sie erstrebte, nicht
erreichen.
Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!
Wenn man sich fremden Besitz
aneignen will, dann verliert man zurecht sein Eigentum. Ein Hund sieht, während er
mit einem Stück Fleisch im Maul durch einen Fluss schwimmt, sein Spiegelbild im
Wasser. Er denkt, dass da ein anderer Hund ist, und will dessen Fleischstück für
sich erbeuten. So reißt er sein Maul auf, um das andere Stück Fleisch zu schnappen,
verliert aber nun sein eigenes Fleisch, während das andere ja gar nicht existiert
hat. So geht er wegen seiner Gier ganz leer aus.
Gliedern Sie den Text nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Nennen Sie
auffällige Unterschiede!
Promythion: 1
Exposition: 2-4
Actio: 5a
Reactio/Folge: 5b-6
Ergebnis/Schluss: 7
Erläutern Sie, welche Deutung durch das Promythion nahegelegt wird!
Das Promythion legt nahe, dass ein
Akteur der Fabel durch seine Gier nicht nur das nicht erreichen wird, was er
begehrt, sondern außerdem sein Eigentum verlieren wird. Die Fabel erhält dadurch von
Beginn an einen negativen Beigeschmack, der sich im Laufe der Geschichte verstärkt.
Ebenso kann das Thema „Gier“ durch das Promythion vorausgeahnt werden.
Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel: Alliteration, Hyperbaton,
Chiasmus! Welche Bedeutung haben diese für die Interpretation der Fabel?
Alliteration: v.3, simulacrum suum: Zusammen mit dem ebenfalls in diesem Vers
vorkommenden speculo häuft sich der Anfangslaut insgesamt
dreimal innerhalb eines Verses. Dies könnte zum Ausdruck bringen, dass Phaedrus den
Leser auf diese Stelle aufmerksam machen wollte. Eventuell war es ihm wichtig
hervorzuheben, dass der Hund sein eigenes Spiegelbild im Wasser sieht. Bei näherer
Betrachtung fällt auch auf, dass das suum in diesem Fall
nicht notwendig wäre und somit allein der Betonung dienen dürfte. Die spitzen und
pfeifenden s-Laute der Alliterationen könnten das Aufmerksam-Werden des Hundes auf
sein Spiegelbild nachahmen.
Hyperbaton: v.2, canis […] natans: Diese beiden zusammengehörigen
Wörter haben eine sehr weite Sperrung, genauer gesagt rahmen sie den Vers geradezu
ein. Durch diese Stellung wird dem Leser die Vorstellung der Situation vereinfacht,
da er zuerst den Hauptcharakter der Fabel, den Hund, kennenlernt, danach bemerkt,
was er vorhat (nämlich das Fleisch über den Fluss zu tragen) und schließlich liest,
wie er dies tut (nämlich schwimmend).
Chiasmus: v.1, amittit proprium […] alienum appetit: Dass der
Chiasmus das Promythion einrahmt, kann kein Zufall sein, da Phaedrus komplexere
Stilfiguren meistens an ihm wichtig erscheinenden Stellen verwendet. Der Chiasmus
weist schon am Anfang der Fabel auf ihren Ausgang hin. Außerdem akzentuiert er die
komplementären Wortpaare (amittit/appetit bzw. proprium/alienum), wobei die Verben durch Anfangs- und Endposition im Vers stärker
betont sind. Am stärksten ist dabei das Verb amittit
betont, da es im Handlungsverlauf nach dem Verb appetit
kommen müsste. Man kann hier also ebenfalls von einem Hysteron-Proteron
sprechen.
Welche Wörter im Schlusssatz in den Zeilen 5b bis 7 nehmen Wörter aus den Zeilen
1 und 2 synonym wieder auf? Welche Bedeutung könnte diese Besonderheit in der
sprachlichen Gestaltung der Fabel durch den Dichter haben?
Zeilen 1-2 |
amittit
|
appetit
|
proprium, alienum,
carnem
|
canis
|
ferret
|
Zeilen 5b-7 |
dimisit
|
petebat
|
cibum
|
aviditas
|
tenebat
|
Die Wörter in den Zeilen 5b–7 sind
die Konkretisierungen bzw. die konkreten Ausführungshandlungen der Ankündigungen aus
1–2: amittere bezeichnet allgemein das Verlieren des
Besitzes, dimittere das Verlieren durch Loslassen (hier aus
dem Maul). appetere ist das Trachten nach etwas, petere bezeichnet das
sich-bereits-in-gezielte-Bewegung-gesetzt-Haben. cibum
konkretisiert das Fremde, das Eigene und das Fleisch für diese Fabel als Nahrungs-
bzw. Lebensmittel im direkten Wortsinn. aviditas steht für
den Hund, womit auf die ihn einzig antreibende Eigenschaft fokussiert wird. tenere zeigt, dass der Hund seine Nahrung vor dem Verlust
nicht einfach nur getragen, sondern eben auch festgehalten haben dürfte, damit er
sie gerade nicht verliert.
Beschreiben und bewerten Sie die affektive Struktur der Handlung in der Fabel.
Wie gestaltet Phaedrus das sprachlich und insbesondere metrisch (Verse 2-5a)?
Vers 2 ist äußerst langsam, er
enthält keine einzige Doppelkürze. Gemächlich und entspannt schwimmt der Hund mit
seinem Fleisch durch den Fluss. Durch die c- und f-Alliterationen kommt mit der
Gleichförmigkeit der Wortanlautung noch mehr Ruhe in den Vers. Vers 3 verläuft bei
zwei Doppelkürzen schon mit etwas erhöhter Geschwindigkeit. Der Alliterationsanlaut
ist das aufhorchen lassende, drohende stimmlose S, wodurch die Spannung erhöht wird,
zumal das suum inhaltlich unnötig wäre und nur der Betonung
dient. Vers 4 wird nun mit drei Doppelkürzen geradezu „hektisch“, die Wiederholung
„eine andere Beute“, „ein anderer Hund“ bringen den eben noch ruhig schwimmenden
Hund schwer in Bewegung (putans am Ende des Verses wirkt
wie eine kleine Erinnerung an das Wort simulacrum für den
Leser/Hörer). An der Stelle, an der der Leser/Hörer nun die eigentliche Handlung
erwartet, gewährt ihm Phaedrus ganze zwei in höchster Geschwindigkeit
herausgeschleuderte Worte (nämlich eripere voluit), die
allerdings beim Leser/Hörer sofort ein Bild hervorrufen, das das widerspiegelt, was
passiert, wenn ein Hund, der ein Fleischstück im Maul trägt, einem anderen dessen
Fleischstück entreißen will.
Die Fabel ist auch in drei griechischen Versionen überliefert, in der collectio
Augustana, bei Babrios und Syntipas. Vergleichen Sie den Ausgangstext mit den
Vergleichstexten (Aisop. 133 P. [=136 I Hsr.], Aisop. 133 P. (=136 II Hsr.), Babr.
79, Syntipas 28) und nennen Sie hierbei jeweils formale und inhaltliche
Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die
Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen?
Gemeinsamkeiten |
beide Fabeln |
Aussage der Geschichten ist ähnlich. |
Unterschiede |
Aisop. 133 P.: Prosa, Phaedrus: Versfabel |
Aisop. 133 P.: Epimythion, Phaedrus:
Promythion |
Aisop. 133. P.: andere Beute, Phaedrus:
größeres Fleischstück |
Im Vergleich zum Phaedrustext
agiert der Hund in der Fabel der collectio Augustana
augenscheinlich eher zielgerichtet als gierig, da er ja sein vermeintlich kleineres
Stück Fleisch für das offensichtlich größere aufgibt. Somit wirkt sein Vorhaben eher
rational und weniger affektgesteuert. Dies eröffnet einen völlig neuen Ansatz.
Gemeinsamkeiten |
beide Versfabeln |
Aussage der Geschichten ist ähnlich. |
Unterschiede |
Babr. 79: Epimythion (falls echt), Phaedrus:
Promythion |
Babr. 79: Fleischstück vom Hund gestohlen,
Phaedrus: - |
Die Fabel des Babrios bringt einen
völlig neuen Aspekt ein, da der Hund seine Beute vorher jemandem gestohlen hat.
Somit ist das Stück Fleisch von Anfang an nicht sein Eigentum, weshalb das
Promythion aus der Phaedrus-Fabel auf diese Geschichte nicht anwendbar ist. Die
gerechte Strafe des Verlusts wäre somit durch den vorhergehenden Raub betonter, der
Verlust beider Fleischstücke am Ende gemildert, da keines jemals wirklich sein
Eigentum war.
Gemeinsamkeiten |
beide Fabeln |
Aussage der Geschichten ist ähnlich. |
Unterschiede |
Syntipas 28: Prosa, Phaedrus: Versfabel |
Syntipas 28: -, Phaedrus: Promythion |
Syntipas 28: Rabe als weiterer handelnder
Charakter, Phaedrus: - |
Die Einführung des Raben bei
Syntipas verstärkt die Aussage der Fabel, da dem Hund am Ende genau das widerfährt,
was er mit seinem vermeintlichen Gegenüber im Spiegelbild des Wassers vorhatte.
Somit verliert er nicht nur seine Beute, sondern muss die Schmach seines geplanten
Raubes erleiden.
Welchen Charakter würden Sie dem Hund in der Fabel bescheinigen? Finden und
kennzeichnen Sie fünf Wörter innerhalb der Fabel, die diesen Charakter
beschreiben!
Der Hund in der Fabel besitzt
eindeutig einen habgierigen Charakter. Diesen unterstreicht Phaedrus mit Worten wie
appetit, eripere, aviditas, petebat und attingere.
Diese Fabel von Phaedrus ist auch von La Fontaine (6,17) bearbeitet worden.
Lesen Sie sich die Fabel durch und streichen sie alle Unterschiede zwischen dem
Inhalt der beiden Fabeln heraus! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die
Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen?
La Fontaine bemerkt am Beginn der
Fabel, dass er den Inhalt von Aesop, nicht aber von Phaedrus übernimmt. Außerdem
werden in La Fontaines Moral am Beginn der Fabel törichte Menschen genannt, wobei
der Hund in Phaedrusʼ Fabel zwar als gierig, nicht aber explizit als dumm bezeichnet
wird. Des Weiteren vertauscht La Fontaine das Stück Fleisch mit einem Knochen und
lässt den Hund nicht den Fluss überqueren, sondern vom Ufer aus in das Wasser
hineinschauen, in dem er das Spiegelbild mit dem vergrößerten Knochen sieht.
Vielleicht erschien ihm diese Variante realistischer. Ein weiterer großer Gegensatz
zu Phaedrusʼ Geschichte ist die anscheinende Todesgefahr, in der sich der Hund am
Ende der Fabel befindet, da er nur mit Mühe das rettende Ufer erreicht und beinahe
ertrinkt. Außerdem erkennt er am Ende explizit, dass es sich hierbei um ein Trugbild
im Wasser gehandelt haben muss.
Schon Lessing kritisiert die Fabel so: „Es ist unmöglich; wenn der Hund durch
den Fluss geschwommen ist, so hat er das Wasser um sich her notwendig so getrübt,
dass er sein Bildnis unmöglich darin sehen kann.“ (Lessing 1997, 426) Finden Sie
je ein Argument, um Lessing zuzustimmen und ihm zu widersprechen. Achten Sie
besonders auf die affektive Struktur der Fabel!
Lessing ist insofern zuzustimmen,
da ein Hund, der hektisch versucht, einen Fluss zu überqueren, natürlicherweise das
Wasser um ihn herum durch seine Schwimmbewegungen trübt. Allerdings ist mit keinem
Wort beschrieben, wie schnell der Hund sein Fleisch über den Fluss trägt. Ist es
wahrscheinlich, dass er, von keinem Feind verfolgt, den Fluss so schnell wie möglich
überqueren möchte? Viel sinnvoller erscheint die Vorgehensweise, seine Beute langsam
und behutsam auf die andere Seite zu bringen, um sie nicht zu verlieren. Das ruhige
und langsame Versmaß am Beginn der Fabel scheint dies (vom Autor intendiert oder
nicht) zu bestätigen.