Phaedr. 1,04 Phaedrus Förderreihe Sparkling Science, BMBWF Ursula Gärtner Herausgeberin Peggy Klausnitzer Erarbeitung Textgrundlage Lukas Spielhofer Encoding Alexander Praxmarer Ersterarbeitung Korrektur fachdidaktisch Christopher Poms Korrektur Ulrike Kaliwoda Korrektur Nora Kohlhofer Korrektur Simone Feinig Korrektur Institut für Antike, FB Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System Creative Commons BY-NC 4.0 Zentrum für Informationsmodellierung, Karl-Franzens-Universität Graz Graz Austria 2017-2019 o:graf.5313 Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Ursula Gärtner Projektleitung Herausgeberin 1st century AD Classical Antiquity Roman Empire Mediterranean Born Digital-Aufarbeitung antiker Textquellen für den Schulunterricht, deren Endprodukt eine wissenschaftliche Schul-Ausgabe, also sozusagen ein wissenschaftlich fundiertes und produziertes, 'digitales Schulbuch' ist. Die Primärtexte sind aus den zitierten Quellen bezogen. Phaedrus Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone A. Guaglianone Torino 1969 Phaedri Augusti Liberti Liber Fabularum. Recensuit A. Guaglianone, Torino 1969 Gärtner, U. Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln München 2015 (Zetemata 149) Gärtner, U.: Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln, München 2015 (Zetemata 149) Lessing,G.E. Gotthold Ephraim Lessing. 4 Bd. Werke 1758-1759, hrsg. v. G.E. Grimm Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 148) Lessing, G.E.: Gotthold Ephraim Lessing. 4 Bd. Werke 1758-1759, hrsg. v. G.E. Grimm, Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 148) Oberg,E. Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen Stuttgart 2000 Oberg, E.: Phaedrus-Kommentar. Mit 18 Abbildungen, Stuttgart 2000 Aisop. 133 P. Babr. 79 Syntipas 28 La Fontaine 6,17 Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 5. Semester – Kompetenzmodul 5 Heiteres und Hintergründiges Lateinvierjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 6. Semester – Kompetenzmodul 6 Der Mensch in seinem Alltag Lateinsechsjährig 6. Klasse (10. Schulstufe), 4. Semester – Kompetenzmodul 4 Witz, Spott, Ironie Lateinsechsjährig 7. Klasse (11. Schulstufe), 6. Semester – Kompetenzmodul 6 Der Mensch in seinem Alltag Tier-Objekt-Fabel Recht/Gerechtigkeit Gier Eigentum Missgunst Dummheit

Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.

longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura Fabel-Text
Graz, Austria German Latin Ancient Greek

Hund

Canis per fluvium fluvius,-i m.: Fluss. carnem caro,-nis f.: Fleisch(-stück). ferens.
Promythion Amittit amittit: ergänze: is. merito merito (Adv.): zurecht. proprium proprium,-i n.: Eigentum. qui alienum appetit. appetere 3, appetivi, appetitum: erstreben.
Exposition canis per flumen carnem cum ferret natans, natare 1,-avi,-atum: schwimmen. lympharum lymphae,-arum f.: Wasser. in speculo speculum,-i n.: Spiegel. vidit simulacrum simulacrum,-i n.: Abbild. suum, aliamque praedam praeda,-ae f.: Beute. ab alio cane ferri putans
Actio eripere eripere M, eripui, ereptum: entreißen. voluit; verum verum (Adv.): aber. decepta decipere M, decepi, deceptum: betrügen, täuschen. aviditas aviditas,-tatis f.: Gier.
Reactio/Folge et et: hier: einerseits. quem tenebat ore os, oris n.: Mund, Maul. dimisit dimittere 3, dimisi, dimissum: wegschicken; hier: fallen lassen. cibum, cibum,-i n.: Speise, Essen.
Ergebnis/Schluss nec nec ... adeo: und noch dazu. quem petebat potuit adeo attingere. attingere 3, attigi, attactum: berühren, erreichen.
Der Hund, der ein Stück Fleisch über einen Fluss trägt

Zurecht verliert derjenige sein Eigentum, der Fremdes erstrebt.

Als der Hund ein Stück Fleisch schwimmend über einen Fluss trug, sah er im Spiegel des Wassers sein Abbild.

Weil er glaubte, dass eine andere Beute von einem anderen Hund getragen werde, [5] wollte er sie ihm entreißen;

aber die getäuschte Gier ließ einerseits das Essen fallen, das sie im Maul hatte, und konnte noch dazu das, was sie erstrebte, nicht erreichen.

Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!

Wenn man sich fremden Besitz aneignen will, dann verliert man zurecht sein Eigentum. Ein Hund sieht, während er mit einem Stück Fleisch im Maul durch einen Fluss schwimmt, sein Spiegelbild im Wasser. Er denkt, dass da ein anderer Hund ist, und will dessen Fleischstück für sich erbeuten. So reißt er sein Maul auf, um das andere Stück Fleisch zu schnappen, verliert aber nun sein eigenes Fleisch, während das andere ja gar nicht existiert hat. So geht er wegen seiner Gier ganz leer aus.

Gliedern Sie den Text nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Nennen Sie auffällige Unterschiede!

Promythion: 1

Exposition: 2-4

Actio: 5a

Reactio/Folge: 5b-6

Ergebnis/Schluss: 7

Erläutern Sie, welche Deutung durch das Promythion nahegelegt wird!

Das Promythion legt nahe, dass ein Akteur der Fabel durch seine Gier nicht nur das nicht erreichen wird, was er begehrt, sondern außerdem sein Eigentum verlieren wird. Die Fabel erhält dadurch von Beginn an einen negativen Beigeschmack, der sich im Laufe der Geschichte verstärkt. Ebenso kann das Thema „Gier“ durch das Promythion vorausgeahnt werden.

Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel: Alliteration, Hyperbaton, Chiasmus! Welche Bedeutung haben diese für die Interpretation der Fabel?

Alliteration: v.3, simulacrum suum: Zusammen mit dem ebenfalls in diesem Vers vorkommenden speculo häuft sich der Anfangslaut insgesamt dreimal innerhalb eines Verses. Dies könnte zum Ausdruck bringen, dass Phaedrus den Leser auf diese Stelle aufmerksam machen wollte. Eventuell war es ihm wichtig hervorzuheben, dass der Hund sein eigenes Spiegelbild im Wasser sieht. Bei näherer Betrachtung fällt auch auf, dass das suum in diesem Fall nicht notwendig wäre und somit allein der Betonung dienen dürfte. Die spitzen und pfeifenden s-Laute der Alliterationen könnten das Aufmerksam-Werden des Hundes auf sein Spiegelbild nachahmen.

Hyperbaton: v.2, canis […] natans: Diese beiden zusammengehörigen Wörter haben eine sehr weite Sperrung, genauer gesagt rahmen sie den Vers geradezu ein. Durch diese Stellung wird dem Leser die Vorstellung der Situation vereinfacht, da er zuerst den Hauptcharakter der Fabel, den Hund, kennenlernt, danach bemerkt, was er vorhat (nämlich das Fleisch über den Fluss zu tragen) und schließlich liest, wie er dies tut (nämlich schwimmend).

Chiasmus: v.1, amittit proprium […] alienum appetit: Dass der Chiasmus das Promythion einrahmt, kann kein Zufall sein, da Phaedrus komplexere Stilfiguren meistens an ihm wichtig erscheinenden Stellen verwendet. Der Chiasmus weist schon am Anfang der Fabel auf ihren Ausgang hin. Außerdem akzentuiert er die komplementären Wortpaare (amittit/appetit bzw. proprium/alienum), wobei die Verben durch Anfangs- und Endposition im Vers stärker betont sind. Am stärksten ist dabei das Verb amittit betont, da es im Handlungsverlauf nach dem Verb appetit kommen müsste. Man kann hier also ebenfalls von einem Hysteron-Proteron sprechen.

Welche Wörter im Schlusssatz in den Zeilen 5b bis 7 nehmen Wörter aus den Zeilen 1 und 2 synonym wieder auf? Welche Bedeutung könnte diese Besonderheit in der sprachlichen Gestaltung der Fabel durch den Dichter haben? Zeilen 1-2 amittit appetit proprium, alienum, carnem canis ferret Zeilen 5b-7 dimisit petebat cibum aviditas tenebat

Die Wörter in den Zeilen 5b–7 sind die Konkretisierungen bzw. die konkreten Ausführungshandlungen der Ankündigungen aus 1–2: amittere bezeichnet allgemein das Verlieren des Besitzes, dimittere das Verlieren durch Loslassen (hier aus dem Maul). appetere ist das Trachten nach etwas, petere bezeichnet das sich-bereits-in-gezielte-Bewegung-gesetzt-Haben. cibum konkretisiert das Fremde, das Eigene und das Fleisch für diese Fabel als Nahrungs- bzw. Lebensmittel im direkten Wortsinn. aviditas steht für den Hund, womit auf die ihn einzig antreibende Eigenschaft fokussiert wird. tenere zeigt, dass der Hund seine Nahrung vor dem Verlust nicht einfach nur getragen, sondern eben auch festgehalten haben dürfte, damit er sie gerade nicht verliert.

Beschreiben und bewerten Sie die affektive Struktur der Handlung in der Fabel. Wie gestaltet Phaedrus das sprachlich und insbesondere metrisch (Verse 2-5a)?

Vers 2 ist äußerst langsam, er enthält keine einzige Doppelkürze. Gemächlich und entspannt schwimmt der Hund mit seinem Fleisch durch den Fluss. Durch die c- und f-Alliterationen kommt mit der Gleichförmigkeit der Wortanlautung noch mehr Ruhe in den Vers. Vers 3 verläuft bei zwei Doppelkürzen schon mit etwas erhöhter Geschwindigkeit. Der Alliterationsanlaut ist das aufhorchen lassende, drohende stimmlose S, wodurch die Spannung erhöht wird, zumal das suum inhaltlich unnötig wäre und nur der Betonung dient. Vers 4 wird nun mit drei Doppelkürzen geradezu „hektisch“, die Wiederholung „eine andere Beute“, „ein anderer Hund“ bringen den eben noch ruhig schwimmenden Hund schwer in Bewegung (putans am Ende des Verses wirkt wie eine kleine Erinnerung an das Wort simulacrum für den Leser/Hörer). An der Stelle, an der der Leser/Hörer nun die eigentliche Handlung erwartet, gewährt ihm Phaedrus ganze zwei in höchster Geschwindigkeit herausgeschleuderte Worte (nämlich eripere voluit), die allerdings beim Leser/Hörer sofort ein Bild hervorrufen, das das widerspiegelt, was passiert, wenn ein Hund, der ein Fleischstück im Maul trägt, einem anderen dessen Fleischstück entreißen will.

Die Fabel ist auch in drei griechischen Versionen überliefert, in der collectio Augustana, bei Babrios und Syntipas. Vergleichen Sie den Ausgangstext mit den Vergleichstexten (Aisop. 133 P. [=136 I Hsr.], Aisop. 133 P. (=136 II Hsr.), Babr. 79, Syntipas 28) und nennen Sie hierbei jeweils formale und inhaltliche Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen? Gemeinsamkeiten beide Fabeln Aussage der Geschichten ist ähnlich. Unterschiede Aisop. 133 P.: Prosa, Phaedrus: Versfabel Aisop. 133 P.: Epimythion, Phaedrus: Promythion Aisop. 133. P.: andere Beute, Phaedrus: größeres Fleischstück

Im Vergleich zum Phaedrustext agiert der Hund in der Fabel der collectio Augustana augenscheinlich eher zielgerichtet als gierig, da er ja sein vermeintlich kleineres Stück Fleisch für das offensichtlich größere aufgibt. Somit wirkt sein Vorhaben eher rational und weniger affektgesteuert. Dies eröffnet einen völlig neuen Ansatz.

Gemeinsamkeiten beide Versfabeln Aussage der Geschichten ist ähnlich. Unterschiede Babr. 79: Epimythion (falls echt), Phaedrus: Promythion Babr. 79: Fleischstück vom Hund gestohlen, Phaedrus: -

Die Fabel des Babrios bringt einen völlig neuen Aspekt ein, da der Hund seine Beute vorher jemandem gestohlen hat. Somit ist das Stück Fleisch von Anfang an nicht sein Eigentum, weshalb das Promythion aus der Phaedrus-Fabel auf diese Geschichte nicht anwendbar ist. Die gerechte Strafe des Verlusts wäre somit durch den vorhergehenden Raub betonter, der Verlust beider Fleischstücke am Ende gemildert, da keines jemals wirklich sein Eigentum war.

Gemeinsamkeiten beide Fabeln Aussage der Geschichten ist ähnlich. Unterschiede Syntipas 28: Prosa, Phaedrus: Versfabel Syntipas 28: -, Phaedrus: Promythion Syntipas 28: Rabe als weiterer handelnder Charakter, Phaedrus: -

Die Einführung des Raben bei Syntipas verstärkt die Aussage der Fabel, da dem Hund am Ende genau das widerfährt, was er mit seinem vermeintlichen Gegenüber im Spiegelbild des Wassers vorhatte. Somit verliert er nicht nur seine Beute, sondern muss die Schmach seines geplanten Raubes erleiden.

Welchen Charakter würden Sie dem Hund in der Fabel bescheinigen? Finden und kennzeichnen Sie fünf Wörter innerhalb der Fabel, die diesen Charakter beschreiben!

Der Hund in der Fabel besitzt eindeutig einen habgierigen Charakter. Diesen unterstreicht Phaedrus mit Worten wie appetit, eripere, aviditas, petebat und attingere.

Diese Fabel von Phaedrus ist auch von La Fontaine (6,17) bearbeitet worden. Lesen Sie sich die Fabel durch und streichen sie alle Unterschiede zwischen dem Inhalt der beiden Fabeln heraus! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht der Texte/der Phaedrusfabel gewinnen?

La Fontaine bemerkt am Beginn der Fabel, dass er den Inhalt von Aesop, nicht aber von Phaedrus übernimmt. Außerdem werden in La Fontaines Moral am Beginn der Fabel törichte Menschen genannt, wobei der Hund in Phaedrusʼ Fabel zwar als gierig, nicht aber explizit als dumm bezeichnet wird. Des Weiteren vertauscht La Fontaine das Stück Fleisch mit einem Knochen und lässt den Hund nicht den Fluss überqueren, sondern vom Ufer aus in das Wasser hineinschauen, in dem er das Spiegelbild mit dem vergrößerten Knochen sieht. Vielleicht erschien ihm diese Variante realistischer. Ein weiterer großer Gegensatz zu Phaedrusʼ Geschichte ist die anscheinende Todesgefahr, in der sich der Hund am Ende der Fabel befindet, da er nur mit Mühe das rettende Ufer erreicht und beinahe ertrinkt. Außerdem erkennt er am Ende explizit, dass es sich hierbei um ein Trugbild im Wasser gehandelt haben muss.

Schon Lessing kritisiert die Fabel so: „Es ist unmöglich; wenn der Hund durch den Fluss geschwommen ist, so hat er das Wasser um sich her notwendig so getrübt, dass er sein Bildnis unmöglich darin sehen kann.“ (Lessing 1997, 426) Finden Sie je ein Argument, um Lessing zuzustimmen und ihm zu widersprechen. Achten Sie besonders auf die affektive Struktur der Fabel!

Lessing ist insofern zuzustimmen, da ein Hund, der hektisch versucht, einen Fluss zu überqueren, natürlicherweise das Wasser um ihn herum durch seine Schwimmbewegungen trübt. Allerdings ist mit keinem Wort beschrieben, wie schnell der Hund sein Fleisch über den Fluss trägt. Ist es wahrscheinlich, dass er, von keinem Feind verfolgt, den Fluss so schnell wie möglich überqueren möchte? Viel sinnvoller erscheint die Vorgehensweise, seine Beute langsam und behutsam auf die andere Seite zu bringen, um sie nicht zu verlieren. Das ruhige und langsame Versmaß am Beginn der Fabel scheint dies (vom Autor intendiert oder nicht) zu bestätigen.