Aisop. 027 P. Unknown Förderreihe Sparkling Science, BMBWF Ursula Gärtner Herausgeberin Lukas Spielhofer Korrektur fachwissenschaftlich Encoding Sophie Hollwöger Grundlage und Ersterarbeitung Ulrike Kaliwoda Korrektur Christopher Poms Korrektur Institut für Antike, FB Klassische Philologie, Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System Creative Commons BY-NC 4.0 Zentrum für Informationsmodellierung, Karl-Franzens-Universität Graz Graz Austria 2017-2019 o:graf.5276 Grazer Repositorium antiker Fabeln (GRaF) Ursula Gärtner Projektleitung Herausgeberin possibly between 6th century BC and 3rd century AD Classical Antiquity Mediterranean Born Digital-Aufarbeitung antiker Textquellen für den Schulunterricht, deren Endprodukt eine wissenschaftliche Schul-Ausgabe, also sozusagen ein wissenschaftlich fundiertes und produziertes, 'digitales Schulbuch' ist. Die Primärtexte sind aus den zitierten Quellen bezogen. Aesop Aesopica. A series of texts relating to Aesop or ascribed to him or closely connected with the literary tradition that bears his name. Collected and critically edited, in part translated from oriental languages, with a commentary and historical essay by B.E. Perry Perry, B.E. Urbana/Chicago 1952 Aesopica. A series of texts relating to Aesop or ascribed to him or closely connected with the literary tradition that bears his name. Collected and critically edited, in part translated from oriental languages, with a commentary and historical essay by B.E. Perry, Urbana. Chicago 1952 Gärtner, U. Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln München 2015 (Zetemata 149) Gärtner, U.: Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln, München 2015 (Zetemata 149) Thiele, G. Der Lateinische Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Kritischer Text mit Kommentar und einleitenden Untersuchungen Heidelberg 1910 (Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1985) Thiele, G.: Der Lateinische Äsop des Romulus und die Prosa-Fassungen des Phädrus. Kritischer Text mit Kommentar und einleitenden Untersuchungen, Heidelberg 1910 (Ndr. Hildesheim/Zürich/New York 1985) Aisop. 12 P. Phaedr. 1,7 Rom. 44 Th. (r. g.) Iuv. 10,356 Lessing, Fabeln 2,14 Griechisch vierjährig 6. Klasse (10. Schulstufe), 4. Semester – Kompetenzmodul 4 Spott und Satire als Phänomene einer kritischen Gesellschaft Tier-Gegenstand-Fabel Dichtung Theater Drama Tragödie Maske Verstand Vernunft Gehirn Unvernünfitgkeit Schönheit Äußerlichkeiten Fassade

Das Sparkling-Science-Projekt 'Grazer Repositorium antiker Fabeln' setzt sich zum Ziel, in direkter Einbindung von Partnerschulen, ein wissenschaftlich fundiertes und fachdidaktisch aufbereitetes Textportal zu antiken Fabeln zur Verfügung zu stellen.

longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura longa brevis end of foot anceps caesura Fabel-Text
Graz, Austria German Latin Ancient Greek

Maske

Fuchs

Ἀλώπηξ ἡ ἀλώπηξ,-εκος: Fuchs. πρὸς μορμολύκειον τὸ μορμολύκειον,-ου: Schreckgespenst, albtraumhafte Figur; hier: Maske. Im antiken Theater trugen die Schauspieler Masken.
Exposition

Ἀλώπηξ εἰσελθοῦσα εἰς πλάστου ὁ πλάστης,-ου: Bildhauer. ἐργαστήριον τὸ ἐργαστήριον,-ου: Werkstatt. καὶ ἕκαστον τῶν ἐνόντων ἐνόντων: Partizip Präsens Gen. Pl. v. ἐν-ειμί: darin sein, sich in etw. befinden. διερευνῶσα, δι-ερευνάω: durchsuchen, durchforsten.

Actio

ὡς περιέτυχε περι-τυγχάνω + Dat.: auf jmdn./etw. stoßen, (zufällig) jmdn./etw. finden. τραγῳδοῦ ὁ τραγῳδός,-οῦ: Tragödienschauspieler. προσωπείῳ, τὸ προσωπεῖον,-ου: Maske (vgl. μορμολύκειον). τοῦτο ἐπάρασα ἐπάρασα: Partizip Aorist aktiv feminin v. ἐπ-αίρω: auf-, hochheben. εἶπεν „οἵα οἵα: als Ausruf zu lesen: „Welch ein …!“ κεφαλὴ ἐγκέφαλον ὁ ἐγκέφαλος,-ου: Gehirn (vgl. ἐν + κεφαλή). οὐκ ἔχει.“

Epimythion

Πρὸς ἄνδρα μεγαλοπρεπῆ μεγαλο-πρεπής,-ές: großartig, vortrefflich. μὲν σώματι, σώματι: wie ein Accusativus Graecus zu übersetzen. κατὰ ψυχὴν δὲ ἀλόγιστον ἀ-λόγιστος,-ον: unbesonnen, unüberlegt, unvernünftig. ὁ λόγος εὔκαιρος. εὔ-καιρος,-ον: passend.

Der Fuchs zu einer Maske

Der Fuchs kam in die Werkstatt eines Bildhauers und durchsuchte jeden der darin befindlichen Gegenstände. Als er auf die Maske eines Tragödienschauspielers stieß, hob er diese hoch und sagte: „Was für ein Kopf – Gehirn hat er keines!“ Für einen Mann, der im Hinblick auf seinen Körper zwar großartig, hinsichtlich der Seele aber unvernünftig ist, ist diese Fabel passend.

Paraphrasieren Sie den Ausgangstext!

Der Fuchs durchstöbert die Werkstatt eines Bildhauers und stößt dabei auf die Maske eines Tragödienschauspielers. Er betrachtet diese und stellt fest, dass diese einen ansehnlichen Kopf darstelle, dem jedoch das Gehirn fehle. Die Fabel ist auf Menschen gemünzt, die zwar äußerliche Schönheit besitzen, denen es aber an Verstand mangelt.

Gliedern Sie den Ausgangstext nach dem (typischen) Aufbau einer Fabel! Welche Besonderheiten fallen Ihnen auf?

Gliederung:

Ἀλώπηξ […] διερευνῶσα: Exposition

ὡς […] ἔχει: Actio

Πρὸς […] εὔκαιρος: Epimythion

Es handelt sich um eine auffallend kurze Fabel mit minimaler Exposition und nur einem Akteur, wodurch es nicht zum fabeltypischen Wechsel zwischen Actio und Reactio kommt – vielmehr liegt eine einseitige Kommunikation mit einem unbelebten Gegenstand vor. Handlungsauslösendes Element ist nämlich die Maske, die den Fuchs zu seinem Kommentar inspiriert; dieser Kommentar stellt gleichzeitig die einzige Actio dar. Es folgt das Epimythion, das eine allgemeine Interpretation für den Ausspruch des Fuchses bietet.

Finden und kennzeichnen Sie folgende Stilmittel: Chiasmus, Paronomasie! (Bei der Paronomasie handelt es sich um ein Wortspiel mit verwandten oder zufällig ähnlich klingenden Wörtern bzw. Wortformen, z.B. ‚das Buch der Bücher‘, aber auch ‚Wer rastet, der rostet‘). Welchen Effekt hat der Einsatz dieser Stilmittel im Text?

Chiasmus: μεγαλοπρεπῆ μὲν σώματι – κατὰ ψυχὴν δὲ ἀλόγιστον

Durch den Chiasmus (und zusätzlich durch die Verwendung der Korrelativpartikeln μὲν – δὲ) wird die Gegenüberstellung des Gegensatzpaares Körper/Geist, die den zentralen Gedanken der Fabel darstellt, mit den dazugehörigen Adjektiven wunderschön/unvernünftig sprachlich realisiert.

Paronomasie: κεφαλὴ ἐγκέφαλον

Dieses Wortspiel erzeugt eine sehr einprägsame Formulierung: Der Fuchs spottet über einen Kopf (κεφαλή), dem gerade das fehlt, was ‚im Kopf‘ (ἐγ-κέφαλος) enthalten ist bzw. sein sollte. So wird dieser Widerspruch besonders pointiert dargestellt.

Die Handschrift G überliefert statt des Adjektivs ἀλόγιστον im Epimythion ὀλιγοστὸς (ὀλιγοστός,-ή,-όν: ‚einer, -e, -es von wenigen‘). Erläutern Sie, was für oder gegen diese Lesart spricht! Inwiefern ist die Entscheidung hier bedeutungstragend?

Die in G überlieferte Lesart ὀλιγοστὸς ist mit dem grammatischen wie auch mit dem inhaltlichen Kontext nicht vereinbar: Das Adjektiv mit der Nominativendung -ος stimmt im Gegensatz zu ἀλόγιστον nicht mit ἄνδρα (Akkusativ) überein, sondern könnte sich nur auf ὁ λόγος beziehen – wodurch sich nicht nur ein fragwürdiger Sinnzusammenhang ergeben, sondern vor allem auch dasjenige Wort fehlen würde, das beschreibt, wie der durch die Maske repräsentierte Menschentypus ‚hinsichtlich der Seele‘ beschaffen ist. So lässt sich weder syntaktisch noch inhaltlich ein vollständiger Satz konstruieren, und das für die Deutung der Fabel zentrale Element der Unvernünftigkeit geht überdies verloren. Es handelt sich wohl um einen Abschreibfehler.

Vergleichen Sie Aisop. 27 P. mit der Vergleichsstelle Aisop. 12 P. und nennen Sie formale sowie inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Fabeln! Legen Sie dar, welches Ideal der Leopard und der Fuchs jeweils vertreten und welche Schlüsse im Epimythion daraus gezogen werden! Inwiefern ähneln sich die Aussagen der beiden Fabeln, inwiefern weichen sie voneinander ab? Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht des Ausgangstextes gewinnen? Gemeinsamkeiten beide Prosafabeln Kürze Epimythion ähnliche Thematik: körperliche/äußere Schönheit und Verstand Unterschiede Aisop. 27 P.: nur eine Actio, Aisop. 12 P.: je eine Actio und eine Reactio Aisop. 27. P.: Fuchs als einziger Akteur und Theatermaske, Aisop. 12 P.: Fuchs und Leopard

In beiden Fabeln der collectio Augustana tritt als Protagonist der Fuchs auf, der als verständig charakterisiert wird. Die oberflächliche Schönheit, die vom Fuchs kommentiert und in Opposition zum Verstand gesetzt wird, ist aber in Aisop. 12 P. nicht durch einen unbelebten Gegenstand wie die Maske symbolisiert. Stattdessen tritt mit dem Leoparden ein zweiter Akteur auf, der sich aufgrund seines prächtigen Fells für überlegen hält. Formal ähneln sich die beiden Prosafabeln hinsichtlich ihrer Kürze, insbesondere der sehr knappen Exposition, auch schließen beide mit einem Epimythion. Allerdings weist Aisop. 12 P. im Gegensatz zu 27 P., wenn auch in komprimiertester Form, die typische Actio-Reactio-Struktur auf (Actio: das Argument des Leoparden; Reactio: die Entgegnung des Fuchses). Die beiden Tiere stehen in einer Art Wettbewerb, in dem der Fuchs den Sieg davonträgt. Insofern geht Aisop. 12 P. mit seiner Aussage einen Schritt weiter, da in der Erwiderung des Fuchses sowie im Epimythion innere Werte im Vergleich mit körperlichen Vorzügen ausdrücklich als ‚schöner‘ (καλλίων) und ‚edler‘ (ἀμείνων) bezeichnet werden. Während Aisop. 27 P. zwar einen Kommentar über ‚leere Köpfe‘ enthält – die Vorstellung einer schönen äußeren Hülle ‚ohne etwas dahinter‘ ist durch die Maske anschaulich illustriert –, wird dennoch die Schönheit nicht ausdrücklich abgewertet. Aisop. 27 P. nimmt also, wie anhand dieses Vergleichs besonders deutlich wird, keine moralische oder sonstige Beurteilung menschlicher Eigenschaften vor, sondern äußert sich lediglich über einen Status quo: Die Feststellung des Fuchses im Hinblick auf eine Theatermaske lässt sich auf einen bestimmten Menschentypus umlegen. Diese Feststellung lässt sich als spöttisch interpretieren – man möchte meinen, ein Kopf, der von außen so schön aussieht, müsse auch innerlich etwas zu bieten haben, dies ist aber offenkundig nicht der Fall. Als Verhaltensrichtlinie könnte man daraus ableiten, dass man sich von einem schönen Äußeren nicht täuschen lassen sollte, da die ‚Hülle‘ nichts über den ‚Inhalt‘ aussagt. Dies wird jedoch nicht explizit zum Ausdruck gemacht; das Epimythion von Aisop. 27 P. beschränkt sich auf die nüchterne Beobachtung, dass es Menschen gibt, die beschaffen sind wie eine Maske, eine Wertung wie in Aisop. 12 P. bleibt aus.

Paraphrasieren Sie das Iuvenal-Zitat (Iuv. 10,356) und setzen Sie es in Beziehung zum Epimythion des Ausgangstextes! Finden Sie Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede: Wären Iuvenal und der aesopische Fuchs einer Meinung?

Es ist wünschenswert, neben einem gesunden Körper auch einen gesunden Geist zu haben. Obwohl bei Aesop nicht direkt von körperlicher und geistiger Gesundheit, sondern von körperlicher Schönheit im Gegensatz zum Verstand die Rede ist, zielt Iuvenals Aussage in dieselbe Richtung wie das Epimythion von Aisop. 27 P.: Ein gesunder Körper (ein schönes Äußeres) sollte im Idealfall einen gesunden, also vernünftigen Geist beherbergen. Der Fuchs würde Iuvenal wohl zustimmen.

Vergleichen Sie Aisop. 27 P. mit der Parallelstelle bei Phaedrus (Phaedr. 1,7) und nennen Sie formale sowie inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede! Stellen Sie fest, in welchen Worten die Maske jeweils charakterisiert wird, und vergleichen Sie insbesondere die in den beiden Epimythien gebotenen Deutungen! Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht des Ausgangstextes gewinnen? Vergleich Aisop. 27 P. – Phaedr. 1,7 Gemeinsamkeiten beide Fabeln Kürze Epimythion Fuchs als einzelner Akteur wird durch Theatermaske zu Aussage inspiriert Paronomasie κεφαλή/ἐγκέφαλος und Gegenüberstellung species/cerebrum Unterschiede Aisop. 27 P.: Prosafabel, Phaedr. 1,7: Versfabel Aisop. 27 P.: Exposition mit Angabe des Schauplatzes, Phaedr. 1,7: direkter Einstieg in die Handlung Aisop. 27 P.: Maske symbolisiert körperliche Schönheit, Phaedr. 1,7: Maske symbolisiert unverdientes Ansehen

Die Phaedrus-Fabel unterscheidet sich formal vor allem durch die Versform von der Prosabearbeitung in der collectio Augustana. Hinsichtlich Struktur und Prägnanz sind sich die beiden Versionen ähnlich. Während allerdings in Aisop. 27 P. eine Exposition vorhanden ist, in der die Rahmensituation skizziert wird, steigt Phaedrus direkt in die Handlung ein; so findet der Ort, an dem der Fuchs die Maske findet, keine Erwähnung. Bei Phaedrus sind somit die eigentliche Fabel und das Epimythion mit je zwei Versen genau gleich lang. Auffallend ist darüber hinaus, dass im Lateinischen das Wortspiel mit κεφαλή (‚Kopf‘) und ἐγκέφαλος (‚Gehirn‘) wegfällt und stattdessen durch die Wortwahl species (‚Anblick, Anschein‘) einerseits der schöne Anblick betont wird, den die Maske bietet, andererseits aber auch der leere Schein, für den sie steht (vgl. Gärtner 2015, 131). Die Handlung in beiden Fällen ist im Wesentlichen dieselbe, ein auffallender Unterschied besteht jedoch zwischen den in den Epimythien nahegelegten Deutungen: Phaedrus’ Version bezieht, anders als die aesopische, die Aussage des Fuchses nicht auf äußerlich schöne Menschen, denen es an Vernunft fehlt, sondern auf solche, denen zufällig (durch das Wirken der fortuna), also ohne Eigenleistung, honos und gloria zuteilgeworden sind, ohne dass sie auch nur über gesunden Menschenverstand verfügen würden – von Vernunft im Allgemeinen ist jedoch nicht die Rede. Die aesopische Bearbeitung hingegen stellt durchaus plakativ und daher umso eindrücklicher eine Opposition zwischen körperlichen Vorzügen und geistiger Kapazität her, zwischen dem Äußeren, für das die Maske steht, und dem Inneren (ἐγ-κέφαλος: wörtl. ‚das im Kopf Enthaltene‘) her. Phaedrus thematisiert eine gewisse Ungerechtigkeit des Schicksals, denn Ruhm und Ansehen sollte man sich durch Leistung verdienen, sie sollten nicht nur ‚schöner Schein‘ sein. Aus der aesopischen Fabel lässt sich nichts dergleichen ableiten – diese äußert sich lediglich darüber, dass nicht jeder schöne Kopf (ein solcher ist schließlich die Maske) auch ein kluges Gehirn beinhaltet. Aus dieser Beobachtung kann man eine Warnung herauslesen, nicht vom äußeren Anschein auf innere Werte zu schließen, aber kein moralisches Urteil.

Vergleichen Sie den Ausgangstext mit der Bearbeitung von Gotthold Ephraim Lessing (Fabeln 2,14) und nennen Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in formaler sowie in inhaltlicher Hinsicht! Beachten Sie besonders das Epimythion: Für welchen Menschentypus bzw. welche Charakterschwäche steht die Maske bei Lessing im Gegensatz zur Fabel in der collectio Augustana und bei Phaedrus? Was lässt sich durch diesen Vergleich für die Aussageabsicht des Ausgangstextes gewinnen? Vergleich Aisop. 27 P. – Lessing 2,14 Gemeinsamkeiten beide Fabeln Kürze Epimythion Fuchs als einzelner Akteur wird durch Maske zu Aussage inspiriert Unterschiede Aisop. 27 P.: Exposition mit Angabe des Schauplatzes, Lessing 2,14: Exposition mit Zeitangabe Aisop. 27 P.: Verhältnis von Schönheit und Verstand, Lessing 2,14: Schwätzer Epimythion: Aisop. 27 P.: allgemein/sachlich, Lessing 2,14: Epimythion an Schwätzer gerichtet

Lessings Version ist wie die der collectio Augustana eine Prosafassung, die sich durch ihre Kürze und Prägnanz auszeichnet. Die Exposition ist nur ansatzweise vorhanden, wobei die Fabel nicht wie in der aesopischen Bearbeitung räumlich verortet, sondern nur auf die ‚alten Zeiten‘ verwiesen wird, in denen die Geschichte sich zugetragen habe. Wo der Fuchs die Maske findet, wird also wie bei Phaedrus ausgelassen; die Zeitangabe soll wohl auf die lange Tradition des Stoffes verweisen. Ansonsten ähnelt die Struktur jener der aesopischen Vorlage: Der Fuchs bleibt alleiniger Akteur, dessen einzige Actio darin besteht, dass er die Maske findet, betrachtet und kommentiert, und an den Ausspruch des Fuchses schließt ein Epimythion an. Trotz dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten setzt Lessing in seiner Bearbeitung deutlich eigene Akzente, angefangen von der Beschreibung der Maske: Neben deren fehlendem Gehirn betont Lessing die klaffende Mundöffnung. Letztere ist von Bedeutung, weil Lessing das Bild der Maske statt auf Menschen, die mit Schönheit, aber nicht mit Vernunft begabt sind, auf die ‚Schwätzer‘ bezieht: die Vielredner, die immerzu ohne ‚Hirn‘, also ohne Sinn und Verstand, reden. Bemerkenswert ist, dass diese Übertragung auf die Menschenwelt schon in der Rede des Fuchses stattfindet (‚Sollte das nicht der Kopf eines Schwätzers gewesen sein?‘) und im Epimythion nur noch bestätigt wird (‚Dieser Fuchs kannte Euch‘), was in Aisop. 27 P. nicht der Fall ist. Hier äußert sich der Fuchs lediglich über den Anblick, der sich ihm bietet, die Deutung aber bleibt dem Epimythion vorbehalten. Zudem ist diese Deutung in der aesopischen Version als nüchterne Feststellung formuliert: Die Beobachtung des Fuchses bezüglich der Maske sei anwendbar auf gewisse Menschen. Lessing dagegen richtet in seinem Epimythion direkt das Wort an die schon vom Fuchs thematisierten ‚Schwätzer‘ (Pronomen der 2. P. Pl.: ‚Euch‘, ‚Ihr‘), und zwar in unverkennbar anklagendem Ton. Durch den Vergleich mit der Lessing’schen Version und ihrer Tirade gegen die „Strafgerichte des unschuldigsten unserer Sinne“ wird augenfällig, dass Aisop. 27 P. sich keiner derartigen Anschuldigungen bedient. Vielmehr liegt ein schlichter Kommentar über die Menschen vor, wie sie bzw. manche von ihnen eben sind – möglicherweise mit einer impliziten Warnung, sich nicht von Äußerlichkeiten blenden zu lassen –, aber kein Wunsch, dass die Welt anders sein möge, und keine moralische Be- oder Verurteilung des durch die Maske charakterisierten Menschentypus.

In seiner um 400 n.Chr. entstandenen Bearbeitung der Phaedrus-Version (Rom. 44 Th.) setzt Romulus anstelle des Fuchses einen Wolf als Akteur ein. Erläutern Sie, welche Charakteristika dem Fuchs in der Fabel gewöhnlich zugeschrieben werden und ob ein Wolf als Protagonist gleich gut zur Handlung passt! Thiele (1910, 133–135) führt Romulus’ Abweichung von der Vorlage auf ein Missverständnis zurück: „Hierbei darf fraglich erscheinen, ob persona vom Romulus überhaupt noch als Maske verstanden wurde und nicht als Person. […] Im Zusammenhang hiermit erklärt sich vielleicht auch die Einführung des Wolfes statt des Fuchses. Der Wolf, als Raubtier, das auch Menschenleichen nicht verschmäht, findet die Leiche eines Schauspielers auf dem Felde. Der Vorstellung vom Wolfe liegt also wahrscheinlich die römische, an Wolffabeln reiche Volksanschauung zugrunde […].“ Es spricht also einiges dafür, dass Romulus unter der persona, die der tierische Protagonist vorfindet, einen (toten) Menschen und keine Theatermaske versteht. Erläutern Sie anhand des Vergleichs mit der Romulus-Stelle, wie die Maske bei Aisop. 27 die Aussage illustriert und ob die Leiche eines Schauspielers dieselbe erzählerische Funktion erfüllen kann!

Der Fuchs wird in der Fabel üblicherweise als schlau, oft auch als hinterhältig, aber jedenfalls als mit Verstand begabt dargestellt; er erreicht durch Listen, Vorwände oder geschickte Überredung sein Ziel und erweist sich so meist als überlegen. Der Wolf hingegen gilt nicht unbedingt als Inbegriff der Klugheit. Somit kommt es viel eher der Figur des Fuchses zu, scharfsinnige und pointierte Aussagen über Verstand und Vernunft zu treffen, als dem Wolf. Wie Thiele (1910, 133–135) vermutet, dürfte Romulus aber unter persona die Leiche eines Schauspielers verstehen, wozu der Wolf als ein dem Menschen gefährliches Raubtier offenkundig besser passt. Trotz dieser Abweichungen in der Handlung übernimmt Romulus aber das Epimythion fast unverändert von Phaedrus, sodass dieses sich mit seiner Bearbeitung der Fabel nicht mehr vereinbaren lässt: Während eine Maske den schönen äußeren Anschein sehr anschaulich illustriert, erscheint es wenig sinnvoll, dass ein toter Schauspieler unverdienten Ruhm in Kombination mit mangelndem Verstand symbolisieren soll. In dieser verzerrten Rezeption verliert die Fabel also vollständig den Sinn, der in der aesopischen Version vorliegt.