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VERFOLGUNG UND WIDERSTAND
IM NATIONALSOZIALISMUS
DOKUMENTIEREN UND VERMITTELN

Digitale Erinnerungslandschaft



Geisteswissenschaftliches Asset Management System



Jaklinplatz/Toni Schruf-Gasse 11, 8680 Mürzzuschlag
Beschreibung: Die SchülerInnen setzen sich vertieft mit der Biografie einer im Nationalsozialismus Verfolgten auseinander und erarbeiten sich dadurch eine weitere Perspektive auf den Kontext der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.
Ort: Mürzzuschlag (8680)
Zeitbedarf: 30–45 Minuten, eignet sich für Supplierstunde
Alter: 16–18 Jahre
Vermittlungsort: Klassenraum


Verbundene Orte:




Textquellen

Passagen aus den Lebenserinnerungen von Herta Reich zu den einzelnen Stationen ihres Lebens. Herta Reich erinnert sich an ihr Leben: „Ich war zwanzigeinhalb Jahre alt, als meine Jugend und Zukunft zerbrachen. Vor dem Krieg hatte ich eine äußerst glückliche Kindheit und Jugend voll Lebensfreude. Aufgewachsen bin ich in den Bergen und herrlicher Landschaft. 1938 dann der Zusammenbruch meiner Welt, meiner Jugend und Zukunft. So plötzlich auf grausame Weise allein. Zwei Tage Zeit, um 20 Jahre meines jungen Lebens zurückzulassen, um nie mehr wiederzukehren, einfach so unglaublich, alles zurückzulassen, was Glück, was Heimat war – nichts als Tränen und Trauer mitnehmend. Während des Krieges bis 1944 auf der Flucht. Nach dem Krieg die Erkenntnis, dass Leben etwas Großes ist, dass Überleben alles ist, und äußere Güter und Besitz für mich keinen Wert mehr haben.“ Erinnerungen and das bescheidene jüdische Leben in Mürzzuschlag: „Wir hatten mit der Familie Haas freundschaftliche Beziehungen. Sonst kannte ich keine Juden außer Dr. Neumann im Krankenhaus, der mein Knie zusammennähte nach einem Schiunfall. Das jüdische Leben beschränkte sich auf einen Sederabend gemeinsam mit Familie Haas und am Jom Kippur fuhren wir nach Wien in die Synagoge. Das Geschäft war am Sabbat geöffnet, so wie alle anderen Geschäfte. Am Sonntag mussten wir Religion lernen bei einem Lehrer, der aus Leoben kam. Mein Bruder, meine Schwester und ich waren in der ganzen Schule die einzigen Juden.“ (Brief von Herta Reich an Heimo Gruber, 16.8.1995.) Erinnerungen an den Antisemitismus und die Verfolgung: „Wir haben nichts vom Antisemitismus gespürt. Bis knapp vor 1938. Es gab Geschäftsleute, welche Nazis waren, aber wir hatten nie irgendwelche Konflikte. Wir spürten leider nicht die Gefahr vor 1938. Und danach konnten wir es nicht fassen, erst bis die Gestapo mich im Sommer verhaftete und nach Graz brachte und ich dann binnen zwei Tagen Österreich verlassen musste und sie meinen Vater und Bruder am 10. November 1938 nach Dachau brachten, da haben wir endlich gewusst und begriffen.“ (Brief von Herta Reich an Heimo Gruber, 16.8.1995.) Herta Reich zu ihrer jüdischen Identität: „Ich hatte nie das Gefühl des Andersseins; nicht vor und nicht nach 1938. In der Schule habe ich nie gelitten und habe die ausgezeichneten Lehrerinnen geliebt. Ich war da geboren, habe die Stadt, die Menschen und die Natur geliebt. Ich war so assimiliert, dass es unmöglich zu verstehen war, was da passierte – bis zu meiner Ausweisung. Binnen zweier Tage Österreich zu verlassen. Da habe ich so einigermaßen verstanden.” (Brief von Herta Reich an Heimo Gruber, 3.8.1998.) Zu den Verhältnissen in Kladovo: „Wir überwinterten auf den primitiven Schiffen, die in der Donau einfroren. Das Wasser in den paar Duschen fror ebenfalls ein. Das Trinkwasser holte man aus dem Eis der Donau. Fast alle bekamen Dysenterie, Läuse und Skabies. Das Essen bekamen wir vom Land gebracht. Es wurde von den jugoslawischen Juden irgendwie organisiert. Jeden Tag dasselbe. Zweimal täglich Tee mit Schnaps, einmal Nudeln mit Powidl, abwechselnd mit faschiertem Fleisch. Die Menschen bekamen Skorbut, ich hatte eine schwere Furunkulose am ganzen Körper aus Vitaminmangel. Wir warteten. Aufs Frühjahr, auf ein bisschen Sonne und Wärme.“ (Herta Reich, „Zwei Tage Zeit“, 15.“ Zur Situation in Italien nach der Landung der alliierten Truppen 1943: „Es waren aufregende Tage. Jeden Tag verfolgten wir auf der Landkarte das Vorrücken der Engländer vom Süden nach Norden, und das der Deutschen vom Norden nach Süden. Wir in der Mitte hatten keinen anderen Ausweg, als zu den Engländern zu gelangen. [...] Nach dem Sturz Mussolinis betrachteten wir uns nicht mehr als Kriegsinternierte, gingen Mitte September zur Polizei, die ratlos war nach dem politischen Durcheinander, und verlangten eine Bestätigung mit Bild, dass wir in Bomba von August 1941 bis September 1943 interniert waren. Sie gaben uns die Bestätigung sofort. [...] Am selben Tag kam Hugo aufgeregt mit der Nachricht, dass die Deutschen im nächsten Dorf sind. Wir müssten weg, nur weg, so schnell als möglich. Bei den Engländern wären wir gerettet. Bei den Deutschen verloren.“ (Herta Reich, „Zwei Tage Zeit“, S. 30.) Zur Rückkehr nach Österreich 1950: „Der Besuch 1950 bei meinen Eltern in Mürzzuschlag war deprimierend, es fällt mir schwer darüber zu schreiben, viel schwerer als über die fünfeinhalb Fluchtjahre. Sie lebten so ärmlich und bescheiden, und es tat mir sehr weh. Ich war sehr scheu und traf nur einmal ein paar alte Freunde – darunter Karl Lotter – in einem Kaffeehaus. An andere Begegnungen erinnere ich mich nicht. Vielleicht haben manche sich geschämt, mich anzusprechen. Geblieben ist nur Trauer und das Gefühl des Verlustes – bis heute.“ (Brief von Herta Reich an Heimo Gruber, 3.8.1998.)


Quellenzitat

Herta Reich, „Zwei Tage Zeit, um zwanzig Jahre meines jungen Lebens zurückzulassen“, in: Heimo Gruber, Heimo Halbrainer (Hrsg.), Zwei Tage Zeit. Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag, Graz 1999, S. 11–68.;Heimo Gruber, Heimo Halbrainer (Hrsg.), Zwei Tage Zeit. Herta Reich und die Spuren jüdischen Lebens in Mürzzuschlag, Graz 1999.