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Europa in der atlantischen Welt der Neuzeit

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Politik (1750-1850)

Das Europa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war ein Europa der Reformen, die keinen menschlichen Lebensbereich unberührt ließen, und demzufolge einer wachsenden Präsenz des Staates, der sich von der persönlichen Herrschaft des Monarchen in dem Maß immer mehr ablöste wie sich die sich stets vergrößernden bürokratischen und militärischen Apparate zu zentralen politischen Akteuren entwickelten.

Vor allem die umfangreichen gesetzgebenden Maßnahmen (am wichtigsten Code Civil) bestimmten den Weg vom Untertan zum Bürger. Der bereits von Kant verwendete Begriff der „Mündigkeit“, oft synonym verwendet als „Emanzipation“, wurde in der Spätaufklärung zu einer politischen Forderung, die über den Vormärz bis in die Revolution von 1848 hinein wirkte.

Die lang andauernde militärische Konfrontation Europas (Ausnahme: Skandinavien) mit dem revolutionären und napoleonischen Frankreich (1792-1814/15 – mit Unterbrechungen) (siehe Kriegsverdichtung und Friedensutopie) beschleunigten diesen Prozess erheblich und ließen den modernen Staat entstehen wie ihn die Juristen des 19. Jahrhunderts definierten – als eine Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatshoheit (innerer und äußerer Souveränität).

Vor dem Entstehen der Europäischen Union seit Mitte der 1950er Jahre ist dies der fundamentalste Wandel in der politischen Verfasstheit Europas. Der Staat stand nun einer Gesellschaft von (allerdings nicht in jedem Land in gleichem Maße) rechtsgleichen Bürgern gegenüber. Damit aber kam die große, da das 19. Jahrhundert prägende, Frage auf die Tagesordnung, auf welche Art und Weise die politische Teilhabe der Bürger am Staat gewährleistet werden sollte (Konstitutionalismus), nachdem die alten, auf ständischen Vorrechten ruhenden Formen gesellschaftlicher Partizipation nicht mehr resp. nur in modifizierter Form wieder aufgegriffen werden konnten (Repräsentation) (Herrschaft und Staatsbildung).

Das berühmte Diktum des amerikanischen Soziologen und Politikwissenschaftlers Charles Tilly (1929-2008), „war made the state and states made war“, leuchtet für wenige historische Zeiten so unmittelbar ein wie für die hier vorgestellte. Beide – der Staat wie der Krieg – veränderten ihr Antlitz grundsätzlich. In den Kriegen der Jahrhundertwende tauchte erstmals am Horizont auf, was für die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts so verheerende Konsequenzen haben sollte. Aus den mit möglichst geringem Einsatz finanzieller und humaner Ressourcen ausgefochtenen Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts, die man zudem durch Tausch und Teilung (v. a. Polen, 1772/93/95) als eine dem Vernunftheitspostulat gehorchende Form außenpolitischen Agierens zu vermeiden suchte, wurde der ideologisch überformte Krieg der ganzen (vor allem natürlich aber männlichen) Nation gegen eine oder mehrere andere.

Der „neue“ Krieg ließ bei den politischen Akteuren aber auch die Einsicht wachsen, dass es neuer Instrumentarien bedurfte, um den Frieden in Europa zu gewährleisten. Auch wenn dieses Bemühen endgültig mit dem Krimkrieg (1853/54-1856) gescheitert war, so bescherte doch diese Einsicht Europa zwischen 1815 und 1853 eine so lange Friedensperiode (im Sinne der Vermeidung einer kriegerischen Konfrontation der nunmehr fünf europäischen Großmächte – England, Russland, Frankreich, Österreich, Preußen) wie sie es niemals zuvor in der europäischen Geschichte gegeben hatte und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr geben sollte (Kriegsverdichtung und Friedensutopie).

Die Entstehung des modernen Staates wie des modernen Krieges sind die unabdingbare Voraussetzungen, dass nun auch ein gedankliches Konstrukt in der gesellschaftlichen Wahrnehmung an Bedeutung gewann und sich transformierte, das schon in der mittelalterlichen europäischen Geschichte nachweisbar ist – das nationale Denken. Bis vor ca. 20 Jahren herrschte in der Forschung die Vorstellung vor, dass der moderne Nationalismus, verstanden als ein Denken, das die eigene Nation über alle anderen säkularen wie religiösen Werte stellt, bereits in der Auseinandersetzung mit und dem Widerstand gegen die napoleonische Expansionspolitik (1803-1814) entstanden sei. Die neuere Nationalismusforschung, maßgeblich stimuliert durch die Auflösungsprozesse der Sowjetunion und die daraus resultierenden Nationalstaatsbildungen, aber setzt mit guten Argumenten auch für diese Thematik den Fokus auf die Jahre um 1850 (Diskurse und Praktiken).

GHM, MR