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Europa in der atlantischen Welt der Neuzeit

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Mensch, Umwelt, Gesellschaft (1750-1850)

Hatte es in den beiden vergangenen Jahrhunderten genügt, die in den Texten zu Beginn der Neuzeit (1450-1550) vorgestellten gesellschaftlichen Strukturen um Einzelaspekte zu erweitern, da nur graduelle, keine prinzipiellen Veränderungen statthatten, so ließ die beschleunigte gesellschaftliche Veränderung in der „Sattelzeit“ keine Facette des gesellschaftlichen Lebens unberührt.

Wie niemals zuvor in der neuzeitlichen Geschichte wurden der Umgang mit der Umwelt und die Umweltverschmutzung zu einer Problematik, mit der sich die seit Beginn des 19. Jahrhunderts lebenden Menschen in (bis zum heutigen Tage) zunehmenden Maße konfrontiert sahen (Demographie und Klima).

Mit der Aufhebung der Privilegienordnung in der Französischen Revolution (Augustdekrete 1789) war zwar nicht die soziale Ungleichheit abgeschafft, aber doch ein Gesellschaftsmodell endgültig verabschiedet, das immer weniger mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts zu vereinbaren gewesen war. Auch wenn eine Gesellschaft freier und gleicher Bürger – von den Bürgerinnen zu schweigen – noch nicht existierte, kamen vor allem in den, dem napoleonischen Frankreich integrierten und (zwangs-)verbündeten europäischen Ländern Entwicklungen in Gang, die diesen Weg ebneten. Die Entwicklung jedoch ist weniger zielgerichtet und eindeutig von der (alten) ständischen zur (neuen) bürgerlichen Gesellschaft verlaufen, als es der Titel des Buches von Lothar Gall suggeriert. Er ging für die kleineren Bauern und Handwerker und auch für die unterbürgerlichen und unterbäuerlichen Schichten oftmals mit hohen sozialen Folgekosten einher, eröffnete aber auch neue Chancen, wovon die Geschichte der jüdischen Minderheit zeugt (Soziale Formationen).

Das in den einzelnen europäischen Staaten der ländlichen Bevölkerung zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten und Bedingungen zugestandene, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aber – mit der gewichtigen Ausnahme des russischen Zarenreiches – nahezu überall zugestandene Recht über ihre Person und ihr Eigentum frei zu verfügen (sog. Bauernbefreiung), bildet eine der maßgeblichen Voraussetzungen der Urbanisierungsprozesse. Der Zuzug in die Städte, der im Vereinigten Königreich (England, Schottland, Irland) aufgrund der andersartigen Agrarverfassung schon im 18. Jahrhundert erheblich an Dynamik gewann, ermöglichte neue Formen der Ökonomie und brachte ein neues ökonomisches Denken hervor (siehe: Wirtschaft), veränderte aber auch die altüberkommene Lebenswelt, trennte das Private-Häusliche vom Öffentlichen-Ökonomischen/Politischen und konnotierte beide Sphären zugleich geschlechterspezifisch: das Private und Häusliche wurde der Frau, das Öffentlich-Ökonomisch/Politische dem Mann zugeordnet (Lebensformen und Lebenswelten).

Die Gesellschaft war – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – in Bewegung gekommen, binnen- wie transnationale Migrationsbewegungen nie gekannten Ausmaßes kamen in Gang. Armut, die zu einem immer drängenderen gesellschaftlichen Problem wurde, weil die alten (unzulänglichen) Mechanismen der sozialen Fürsorge mit der ständischen Gesellschaft abgeschafft worden waren und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in ersten Ansätzen) durch neue (Sozialversicherungen) ersetzt wurden, war oftmals das zentrale Movens, sich in Bewegung zu setzen. Wurde das Leben in vielerlei Hinsicht für die gesellschaftlichen Unterschichten in dem Maß schwieriger, in dem sie an Freiheit gewannen, so zeitigte das neue, der Idee des menschlichen Fortschritts verpflichtete aufklärerische Denken, neue Formen sozialer Vergemeinschaftung, die sog. Sozietäten, von denen heutzutage die Geheimgesellschaft der Freimaurer sicherlich die bekannteste ist. Die Sozietäten waren Orte ständeübergreifender gesellschaftlicher Kommunikation der Eliten und stehen damit am Anfang der für das 19. Jahrhundert charakteristischen Form gesellschaftlicher Selbstorganisation – des Vereinswesens. In vielfältigen Selbstorganisationsformen (Freundschaftsbünde, Zirkel, Clubs, Geheimgesellschaften, Freimaurerlogen, Lesegesellschaften) und in ausgeprägter Briefkultur kanalisierte sich öffentliche Meinung. Diese jedoch war nicht grundrechtlich verankert, sondern wurde – besonders nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 – durch eine strenge Zensur gesteuert. Der Fortschrittsgedanke brachte nicht nur neue Formen gesellschaftlicher Kommunikation hervor, sondern auch das, womit Sie sich jetzt und hier beschäftigen – ein neues Verständnis von Geschichte und in dessen Folge die Geschichtswissenschaft (Diskurse und Praktiken).

GHM, MR