Eine provisorische Edition von Franz Brentanos Logik

Vorwort des Herausgebers

Der vorliegende Text besteht aus Aufzeichnungen, die Brentano für seine Logik-Vorlesungen benutzt hat. Der größte Teil des Textes stammt aus dem Manuskript EL 80, das schlicht den Titel Logik trägt und das er seinen Würzburger Vorlesungen zugrunde legte, die er im Wintersemester 1869/70 unter dem Titel Deduktive und Induktive Logik vortrug. Einige Teile der Aufzeichnungen wurden jedoch für die Vorlesungen, die er in Würzburg unter demselben Titel im Wintersemester 1870/71 hielt, durch neue ersetzt. Weitere Revisionen dieser Aufzeichnungen wurden für die Vorlesungszyklen in Wien in den Sommersemestern 1875 und 1877 vorgenommen. In beiden Semestern wurde die Vorlesung unter dem Titel Alte und neue Logik angekündigt. Im Sommersemester 1878 begann Brentano dann stark veränderte Aufzeichnungen vorzutragen, die er – wiederum revidiert – im Wintersemester 1884/85 unter dem Titel Die elementare Logik und die in ihr nötigen Reformen (EL 72) vortrug. (Es ist nicht feststellbar, welche Aufzeichnungen Brentano für seine Logikvorlesung im Sommersemester 1880 benutzt hat.) Hier werden also die Logik betitelten Aufzeichnungen präsentiert und nicht jene späteren, die unabhängig zu edieren sind.

In seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte (Leipzig: Duncker & Humblot 1874, S. 302 fn.) kündigte Brentano seine Absicht an, die Vorlesungsaufzeichnungen, die er im Wintersemester 1870/71 benutzt hatte, zu veröffentlichen. Das kann als Hinweis aufgefasst werden, dass Brentano das Manuskript, das als Grundlage für die vorliegende Edition dient, nicht nur für seine Vorlesungen revidiert hat, sondern auch für eine mögliche zukünftige Publikation (die nie realisiert wurde). Wenn dem so ist, besteht die Möglichkeit, dass Brentano auch noch nach dem Sommersemester 1877 an der Logik gearbeitet hat. Die Einfügung von Blättern, die spätere Datumsangaben tragen, kann als Bestätigung dieser Hypothese gesehen werden, obwohl in diesem Punkt keine volle Sicherheit gewonnen werden kann.

Da Brentano die Logik über einen erheblichen Zeitraum für seine Vorlesungen benutzt hat, weist das Manuskript verschiedene Bearbeitungsschichten auf. Es gibt ebenso Blätter in anderen Manuskriptkonvoluten Brentanos (z. B. EL 81), die zumindest zeitweise dem Material in EL 80 angehört haben. Diese unterschiedlichen Schichten der Bearbeitung stellen den Herausgeber vor die größten Probleme. Ursprünglich war geplant, die Edition nach den Prinzipien einer „Ausgabe letzter Hand“ durchzuführen, also die späteste Version der Logik als Haupttext zu präsentieren. Es ist jedoch oft extrem schwierig, die Entstehungszeit der einzelnen Manuskriptseiten festzustellen. Darüber hinaus besteht natürlich immer die Möglichkeit, dass, auch wenn eine Version der Aufzeichnungen als später als eine andere identifiziert werden konnte, Brentano selbst für eine Publikation die frühere verwendet haben würde. Ein Beispiel dafür ist die erste Seite des Originalmanuskripts von 1869/70. Diese Seite wurde durch zwei Seiten für den Vorlesungszyklus von 1875 ersetzt. Da EL 80 aber statt dieser beiden Ersatzseiten die ursprüngliche erste Seite enthält, ist es möglich, dass Brentano die Absicht hatte, genau diese für die Publikation zu verwenden. Außerdem unterscheidet sich die Version von 1875 von der früheren in so gut wie jeder Hinsicht, außer einer beiläufigen Erwähnung von Hegel.

Das Problem einer Edition der Logik wird noch dadurch erschwert, dass Brentano den Text oft nicht durch Einfügung neuer Seiten (die möglicherweise alte ersetzen) revidiert, sondern indem er ausführlich auf die alten Blätter schreibt, was immer wieder dazu führt, dass die neue Textschicht die alte direkt überlagert. Es gibt in der Tat einige Manuskriptseiten für die Logik, die auf diese Weise so dicht bearbeitet sind, dass sie nicht mehr auf sinnvoll ediert werden können. Dazu kommt, dass Brentanos üblicherweise leicht zu entziffernde Handschrift diese Qualität nicht überall besitzt, da er manchmal den Text so in die verbliebenen Ränder hineinzwängt, dass er sich jedem Leseversuch verweigert. Dann wieder bezieht er sich auf verschiedene Philosophen, Wissenschaftler oder andere Autoren, indem er ihre bloßen Initialen anführt. Auch fehlt Brentanos Handschrift aus der Wiener Zeit oft jene Sauberkeit und Klarheit, die seine Handschrift während der Würzburger Jahre auszeichnete. Aber auch wenn seine Handschrift klar und lesbar ist, schreibt Brentano oft in unvollständigen Sätzen und manchmal wenig mehr als Schlagworte. (Alle vom Herausgeber eingefügten Worte wurden durch braune Textfarbe ausgezeichnet, um einerseits die Lesbarkeit zu verbessern und sie andererseits klar von Brentanos eigenen Worten abzugrenzen.)

Trotz dieser enormen Schwierigkeiten und trotz der Tatsache, dass die textkritischen Anmerkungen noch fehlen, ist Brentanos Logik von so großer Wichtigkeit und haben interessierte Forscher so lange auf diesen Text gewartet, dass entschieden wurde, eine provisorische Edition der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wie sich zeigt ist das Resultat ein Text, der sich nur an manchen Stellen flüssig liest. An anderen Stellen wiederum ist sein notizenhafter Charakter nur zu offensichtlich. Auch wird Brentanos Gliederung des Textes unter Verwendung sowohl von Buchstaben des lateinischen und griechischen Alphabets als auch von arabischen und römischen Ziffern oft so komplex und verwirrend, dass sie ein echter Stolperstein für den Leser werden kann, besonders dann, wenn auch Brentano selbst den Überblick verliert. Übergänge von der Behandlung eines Themas zu der eines anderen können ebenfalls sehr abrupt sein. Dennoch wurde entschieden, dass es besser ist, die Logik mit all ihren Fehlern und Mängeln zu präsentieren, als ihren Entwurfscharakter zu unterdrücken. Obwohl also der Leser hier mit dieser Art von Text konfrontiert wird, scheint dies eine bessere Lösung zu sein als ein leicht lesbares Buch vorzulegen, das so weit von Brentanos Manuskript abweicht, dass er nur noch in einem Sinn als sein Autor zu bezeichnen ist, der sich der Dichtung annähert (wie das zuvor schon von einigen seiner Herausgeber gemacht wurde). Die vorliegende Edition ist also kurz und bündig ein Versuch, Brentanos Logik so zu präsentieren, wie sie wirklich geschrieben wurde.

Sobald weitere relevante Dokumente in Brentanos Manuskripten identifiziert und transkribiert sind, werden sie an dieser Stelle verfügbar gemacht. Textkritische Anmerkungen müssen warten, bis das gesamte Material in vollem Umfang verfügbar ist. Das bedeutet auch, dass der Haupttext der Logik Gegenstand weiterer editorischer Arbeit sein wird. Um es zu wiederholen: Die vorliegende Edition ist aus den angeführten Gründen notwendigerweise von provisorischem Charakter.

Der Text wurde von Thomas Binder in TEI-XML kodiert, der auch wertvolle Hinweise für die Edition gab. Die Edition ist das Ergebnis des Projektes P 19157-G08, das unter der Leitung von Johannes Brandl vom österreichischen Fond für wissenschaftliche Forschung (FWF) finanziert wurde.

Robin D. Rollinger
Salzburg, Dezember 2010