Über das Archiv
Geschichte des Archivs
Als Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts das berühmte Palais Stonborough, das Ludwig Wittgenstein für seine Schwester Margaret entworfen hatte, vom Abbruch bedroht war, schlug der Grazer Philosophieordinarius Rudolf Haller vor, dort ein Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie unterzubringen. Trotz wohlwollender Reaktion von Herta Firnberg, damals Ministerin für Wissenschaft und Forschung, scheiterte das Vorhaben daran, dass die Republik Bulgarien das Haus erwarb und darin ein Kulturinstitut einrichtete. Haller gab seine Pläne freilich nicht auf. 1978/79 erteilte das Wissenschaftsministerium den Forschungsauftrag zu einer Vorstudie zur Errichtung eines Dokumentationszentrums für österreichische Philosophie. Nach einigen weiteren Forschungsaufträgen, die bereits einen kleinen Mitarbeiterkreis beschäftigten, kam es aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem steirischen Landeshauptmann Josef Krainer und Ministerin Firnberg schließlich 1982 zur Gründung der „Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie“. Zweck der Institution sollte es sein, Forschungsprojekte zur Geschichte und Gegenwart der österreichischen Philosophie durchzuführen sowie Literatur von österreichischen Philosophen und zur österreichischen Philosophie zu sammeln und zu dokumentieren; auch die Sammlung und Betreuung von Nachlässen österreichischer Philosophen war von Beginn an ein wichtiger Aufgabenbereich. War die Forschungsstelle zunächst noch ein Gast der steirischen Forschungsgesellschaft Joanneum, konnte sie im Dezember 1983 eigene Räumlichkeiten in einer Villa in Graz-Mariagrün beziehen.
Einer der Höhepunkte der Geschichte der Forschungsstelle fällt zweifellos in den September 1985, als Roderick M. Chisholm, der an seiner Universität, der Brown-University (Providence, Rhode Island), ein Franz Brentano-Archiv eingerichtet hatte, die Bestände dieses Archivs an Hallers Grazer Forschungsstelle übergab. Diese äußerst wertvolle Bestand, der neben Brentanos wissenschaftlicher Handbibliothek, einer vollständigen Sammlung der Mikrofilme von Brentanos wissenschaftlichen Manuskripten und Briefen, den Abschriften dieser Manuskripte aus dem ehemaligen Prager Brentano-Archiv auch den größten Teil von Anton Martys Nachlass enthielt, war die eindrucksvolle Basis für die weitere Sammeltätigkeit der Forschungsstelle. Noch im selben Jahr wurde dieser Bestand durch den Nachlass von Georg Katkov erweitert, der in dem bereits erwähnten Brentano-Archiv in Prag Archivar gewesen war; Teil dieser Sammlung war auch der umfangreiche Nachlass von Oskar Kraus. 1991 zog die Forschungsstelle in neue Räumlichkeiten in der Sparbersbachgasse um; im selben Jahr wurde auch der Verein „Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für österreichische Philosophie“ zur Unterstützung der gleichnamigen Forschungsinstitution gegründet. 1995 kam es zu einer weiteren erfreulichen Vergrößerung des Archivs, als ein Teil des Nachlasses der Innsbrucker Philosophieprofessorin Franziska Mayer-Hillebrand übernommen werden konnte. Im Jänner 1999 legte Rudolf Haller seine Funktion als Leiter der Forschungsstelle zurück; sein Nachfolger wurde Alfred Schramm, ebenfalls Professor für Philosophie an der Grazer Karl-Franzens-Universität.
Im November dieses Jahres erfolgte ein weiterer Höhepunkt in der Geschichte der Forschungsstelle: der erste Besuch im ehemaligen Sommerhaus von Franz Brentano in Schönbühel bei Melk. In den folgenden Jahren konnte der dort aufbewahrte Nachlass von Alfred Kastil erschlossen und zum größten Teil digitalisiert werden. Ab 2005 folgte ein weiteres, noch wesentlich umfangreicheres Digitalisierungsprojekt, nämlich die von der Franz Brentano-Foundation in Boston finanziell unterstützte Digitalisierung des gesamten an der Houghton Library der Harvard University aufbewahrten Originalnachlasses von Franz Brentano. Um der damit neuerlich gewachsenen Bedeutung der Brentano-Sammlung gerecht zu werden, wurde schließlich 2010 das „Franz Brentano-Archiv Graz“ als eine zweite Forschungsinstitution neben der „alten Forschungsstelle“ gegründet. Ende dieses Jahres erfolgte auch der Umzug aus der viel zu eng gewordenen Sparbersbachgasse in neue großzügigere Räumlichkeiten in der Heinrichstraße in unmittelbarer Nähe der Universität. Weniger erfreulich war freilich die Streichung der Basisfinanzierung der „Forschungsstelle“ im Zuge eines radikalen Sparprogramms des Wissenschaftsministeriums ebenfalls 2010. In schwierigen Verhandlungen mit dem Ministerium und der Universität Graz gelang es Schramm schließlich, mit der 2012 erfolgten Eingliederung der „Forschungsstelle“ und des „Franz Brentano-Archivs“ in die Karl-Franzens-Universität Graz das Überleben zweier für die österreichische Wissenschaftslandschaft so wichtiger Institutionen zu sichern. Die „Forschungsstelle“ wurde in das Alexius Meinong-Institut umgewandelt und trägt den alten Namen jetzt im Untertitel; das „Franz Brentano-Archiv“ dagegen ist Teil des Institutes für Philosophie, Abteilung Geschichte der Philosophie. Die Leitung beider Institutionen obliegt nunmehr Udo Thiel, Ordinarius für Philosophie an der Universität Graz.