Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

TEI DownloadPermalink: http://gams.uni-graz.at/o:reko.calv.1978

Die Ebenen der Wirklichkeit in der Literatur, 1978

Italo Calvino

Quelle

Italo Calvino: "Die Ebenen der Wirklichkeit in der Literatur", in: Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Susanne Schoop. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1984, S. 140-156. ISBN 3-446-13942-7.

Erstausgabe

Vortrag anlässlich des internationalen Kongresses I livelli della realtà in Florenz (September 1978). "I livelli della realtà in letteratura", in: Una pietra sopra: discorsi di letteratura e società. Turin: Giulio Einaudi 1980. (= Gli struzzi. 219.). ISBN 88-06-49874-6 [Die deutsche Ausgabe wurde vom Autor neu zusammengestellt].

Genre

Vortrag

Medium

Literatur

[140] Die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit gibt es auch in der Literatur, ja, die Literatur stützt sich sogar auf die Unterscheidung zwischen verschiedenen Wirklichkeitsebenen und wäre undenkbar ohne das Bewußtsein von dieser Unterscheidung. Das literarische Werk könnte als eine Operation in der geschriebenen Sprache definiert werden, die mehrere Wirklichkeitsebenen gleichzeitig einbezieht. Von diesem Blickwinkel aus kann eine Reflexion über das literarische Werk für den Wissenschaftler und den Wissenschaftsphilosophen von einigem Nutzen sein.

In einem literarischen Werk können sich verschiedene Wirklichkeitsebenen treffen und doch getrennt und einzeln erkennbar bleiben – oder sie können verschmelzen, zusammenwachsen, sich mischen und dabei entweder eine Harmonie ihrer Widersprüchlichkeiten finden oder eine explosive Mischung bilden. Shakespeares Theaterwerk kann uns einige unmittelbar einsichtige Beispiele liefern. Bei der Trennung unterschiedlicher Ebenen denken wir an den Mittsommernachtstraum, in dem die Kreuzungspunkte der Verknüpfung aus den Überschneidungen dreier Wirklichkeitsebenen bestehen, die jedoch klar getrennt bleiben: 1) die hochstehenden Persönlichkeiten am Hofe von Theseus und Hyppolite; 2) die übernatürlichen Figuren Titania, Oberon, Puck; 3) die komischen plebejischen Figuren, Bottom und seine Kameraden. Diese dritte Ebene grenzt an das Tierreich an, das man als vierte Ebene betrachten könnte, in die Bottom während seiner Eselsmetamorphose eintritt. Und noch eine Ebene muß berücksichtigt werden, die der Theateraufführung des Dramas von Pyramos und Tisbe, also das Theater im Theater.

Hamlet dagegen stellt eine Art Kurzschluß oder einen Sog dar, der die verschiedenen Wirklichkeitsebenen aufsaugt, aus deren Unvereinbarkeit das Drama entsteht. Da ist der Geist von Hamlets Vater mit seinem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, das heißt die Ebene der archaischen Werte, der ritterlichen Tugenden mit [141] ihrem Ehrenkodex und ihrem Glauben an Übernatürliches; da ist die Ebene, die wir „realistisch“ in Anführungszeichen nennen könnten, die des Es ist etwas faul im Staate Dänemark, also die Ebene des Hofes von Elsinore; da ist die Ebene der Innerlichkeit Hamlets, also des modernen psychologischen und intellektuellen Bewußtseins, die die große Neuigkeit dieses Stückes darstellt. Um diese drei Ebenen zusammenzuhalten, versteckt sich Hamlet hinter einer vierten, hinter einer sprachlichen Barriere, dem simulierten Wahnsinn. Aber der simulierte Wahnsinn bringt wie durch Induktion den echten Wahnsinn hervor, und die Ebene des Wahnsinns verschluckt und beseitigt eines der wenigen positiven Elemente, die verblieben sind, die Verzeihung Ophelias. Auch in diesem Stück finden wir Theater im Theater, die Darstellung der Schauspieler, die eine eigene, von den anderen getrennte Ebene bildet, die aber auch in einer Wechselbeziehung zu ihnen steht. Bis hier habe ich mich darauf beschränkt, verschiedene Wirklichkeitsebenen innerhalb des Kunstwerkes zu unterscheiden, das als ein Universum für sich gesehen wird. Aber dabei können wir nicht stehenbleiben. Das Werk muß auch in seiner Eigenschaft als Produkt gesehen werden, in seiner Beziehung zum Draußen, zum Augenblick der eigenen Fertigung und zum Moment, in dem es von uns empfangen wird. In allen Epochen und allen Literaturen finden wir Werke, die in einem gewissen Augenblick auf sich selbst zurückfallen, sich selbst in ihrem Schöpfungsprozeß beobachten, Bewußtsein erlangen von den Materialien, aus denen sie erschaffen sind. Um bei Shakespeare zu bleiben, stellt sich Kleopatra im letzten Akt von Antonius und Kleopatra vor, bevor sie sich umbringt, wie ihr Los als Gefangene aussehen würde, nach Rom gebracht und im Triumphzug Cäsars von der Menge verhöhnt, und sie malt sich aus, daß ihre Liebe zu Antonius das Thema von Theaterstücken sein wird:

… the quick comedians

Extemporally will stage us, and present

Our Alexandrian revels, Antony

Shall be brought drunken forth, and I shall see

Some squeaking Cleopatra boy my greatness

I' the posture of a whore.

[142] Der Kritiker Middleton Murry hat eine schöne Beschreibung dieser schwindelerregenden Akrobatik des Geistes geliefert: auf der Bühne des Globe Theater stellt ein kreischender, als Kleopatra verkleideter Junge die wirkliche, majestätische Königin Kleopatra dar, wie sie sich vorstellt, von einem als Kleopatra verkleideten Jungen dargestellt zu werden.

Dies sind die Schnittpunkte, die Ausgangspunkt sein müssen für jede Betrachtung über die Wirklichkeitsebenen des literarischen Werkes: Wir können die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, daß diese Ebenen einem geschriebenen Universum angehören.

„Ich schreibe.“ Diese Feststellung ist die erste und einzige Wirklichkeit, von der ein Schriftsteller ausgehen kann. „In diesem Augenblick schreibe ich gerade.“ Das wäre das gleiche, wie zu sagen: „Du, der Du liest, mußt nur eines glauben: daß das, was Du liest, etwas ist, was jemand zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben hat; das, was Du liest, spielt sich in einem besonderen Universum ab, dem des geschriebenen Wortes. Es kann sein, daß sich zwischen dem Universum des geschriebenen Wortes und anderen Erfahrungswelten Entsprechungen verschiedener Art herstellen und daß Du aufgefordert wirst, Dein Urteil über diese Entsprechungen zu fällen, aber Dein Urteil wäre auf jeden Fall falsch, wenn du beim Lesen meintest, in direkte Beziehung zur Erfahrung anderer Welten zu treten, die nicht die des geschriebenen Wortes sind.“ Ich habe von „Erfahrungswelten“ gesprochen und nicht von „Wirklichkeitsebenen“, weil man innerhalb des Universums des geschriebenen Wortes – wie auch in jeder anderen Erfahrungswelt – viele Wirklichkeitsebenen ausmachen kann.

Halten wir also fest, daß die Feststellung „Ich schreibe“ dazu dient, eine erste Wirklichkeitsebene festzulegen, die ich implizit oder explizit bei jeder Operation berücksichtigen muß, die die unterschiedlichen Ebenen der geschriebenen Wirklichkeit zueinander oder auch geschriebene mit nicht geschriebenen Dingen in Beziehung setzt. Diese erste Ebene kann mir als Plattform dienen, auf der ich eine zweite Ebene errichten kann, die einer völlig andersartigen Wirklichkeit angehören kann als die erste, genauer gesagt auf eine andere Erfahrungswelt verweisen kann.

[143] Ich kann zum Beispiel schreiben: „Ich schreibe, daß Odysseus dem Gesang der Sirenen lauscht“, eine unbestreitbare Behauptung, die eine Brücke schlägt zwischen zwei nicht angrenzenden Welten: der unmittelbaren und empirischen, in der ich schreibe, und der mythischen, in der es seit ewig geschieht, daß Odysseus den Sirenen lauscht, an den Mast des Schiffes gefesselt.

Dasselbe kann man auch so schreiben: „Odysseus lauscht dem Gesang der Sirenen“, indem man das „Ich schreibe, daß“ voraussetzt. Aber um das vorauszusetzen, müssen wir das Risiko eingehen, daß Du, der Leser, die beiden Wirklichkeitsebenen verwechselst und glaubst, daß das Ereignis des Hörens von Seiten Odysseus‘ auf derselben Wirklichkeitsebene stattfindet wie meine Handlung, diesen Satz zu schreiben.

Ich habe den Ausdruck „der Leser glaubt“ benutzt, aber es ist gut, sofort zu klären, daß die Glaubwürdigkeit des Geschriebenen auf sehr unterschiedliche Art und Weise aufgefaßt werden kann, von denen jede zu mehr als einer Wirklichkeitsebene in Beziehung stehen kann. Nichts steht dem entgegen, daß jemand die Begegnung zwichen [sic] Odysseus und den Sirenen als eine historische Begebenheit sieht, genauso wie man an die Landung von Christoph Columbus am 12. Oktober 1492 denkt. Oder man kann daran glauben und sich erfüllt fühlen von der Offenbarung einer übernatürlichen Wahrheit, die im Mythos enthalten ist, aber hier betreten wir ein Terrain religiöser Phänomenologie, auf dem das geschriebene Wort nur eine Vermittlungsfunktion hätte. Aber die Glaubwürdigkeit, die uns hier interessiert, ist weder das eine noch das andere, sondern es ist jene besondere Glaubwürdigkeit des literarischen Textes, die dem Lesen innewohnt, eine Glaubwürdigkeit in Klammern sozusagen, der auf Seiten des Lesers die Haltung entspricht, die Coleridge als „Suspension of disbelief“ bezeichnet hat. Diese „Suspension of disbelief“ ist Bedingung für den Erfolg jeder literarischen Erfindung, auch wenn sie erklärtermaßen im Reich des Wunderbaren und des Unglaublichen angesiedelt ist.

Wir haben die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß die Ebene des „Odysseus lauscht“ der Ebene des „ich schreibe“ gleichgesetzt wird. Aber die Verflachung der beiden Ebenen kann auch [144] umgekehrt passieren, wenn Du, der Leser, nämlich glaubst, daß auch die Feststellung „ich schreibe“ einer literarischen oder mythischen Wirklichkeit angehört. Das Ich, das Subjekt des „Ich schreibe“, würde dann zum Ich einer Romanfigur oder eines mythischen Autors. Wie Homer eben. Zur besseren Verdeutlichung sprechen wir unseren Satz jetzt so aus: „Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus den Sirenen lauscht.“ Die Feststellung „Homer erzählt“ kann auf einer mythischen Wirklichkeitsebene angesiedelt werden, in diesem Fall hätten wir dann zwei Ebenen mythischer Realität – die des erzählten Märchens und die des legendären blinden Sängers, der von den Musen inspiriert war. Aber derselbe Satz kann auch auf einer historischen oder besser philologischen Wirklichkeitsebene seinen Platz haben; in diesem Fall versteht man unter „Homer“ jenen individuellen oder kollektiven Autor, mit dem sich die Gelehrten der „homerischen Frage“ beschäftigen; die Wirklichkeitsebene wäre dann die gleiche oder eine angrenzende zu der des „ich schreibe“. (Sie werden feststellen, daß ich weder „Homer schreibt“ noch „Homer singt“, sondern „Homer erzählt“ geschrieben habe, um mir beide Möglichkeiten offen zu lassen.)

Es ist ganz natürlich, aus meiner Formulierung des Satzes zu schließen, daß ich und Homer zwei getrennte Personen sind, aber dieser Eindruck könnte falsch sein. Der Satz bliebe der gleiche, wenn ihn Homer persönlich schriebe oder jedenfalls der wahre Autor der Odyssee, der sich im Moment des Schreibens in zwei verschiedene Subjekte spaltet: in sein empirisches Ich, das physisch die Buchstaben aufs Papier setzt (oder sie demjenigen diktiert, der sie schreibt), und die mythische Figur des blinden Sängers, der von der göttlichen Inspiration unterstützt wird und mit dem er sich identifiziert.

Genausowenig würde sich ändern, wenn „ich“ ich wäre, der zu Ihnen spricht und auch der Homer, von dem ich schreibe, ich wäre, das heißt, wenn das, was ich Homer zuschreibe, meine Erfindung wäre. Der Vorgang wäre sofort einleuchtend, wenn der Satz so lautete: „Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus entdeckt, daß die Sirenen stumm sind.“ In diesem Fall schreibe ich Homer apokryph meine Umkehrung oder Verzer[145]rung oder Interpretation der homerischen Erzählung zu, um einen bestimmten literarischen Effekt zu erzielen. (In Wirklichkeit ist die Idee von den stummen Sirenen von Kafka; tun wir so, als sei das Ich-Subjekt des Satzes Kafka.) Aber auch ohne Umkehrung – die unzähligen Autoren, die unter Berufung auf einen früheren Autor eine mythische oder jedenfalls traditionelle Geschichte neu geschrieben oder interpretiert haben, haben es getan, um etwas Neues mitzuteilen und gleichzeitig dem Bild der Tradition treu zu bleiben, und bei ihnen allen kann man im Ich des schreibenden Subjekts eine oder mehrere Ebenen subjektiver individueller Wirklichkeit und eine oder mehrere Ebenen mythischer oder epischer Wirklichkeit erkennen, die Stoff aus der kollektiven phantastischen Bildwelt ziehen.

Kehren wir zum Satz zurück, mit dem wir angefangen haben. Jeder Leser der Odyssee weiß, daß er genauer so geschrieben werden müßte:

„Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus sagt: ich habe dem Gesang der Sirenen gelauscht.“

In der Odyssee nämlich enthalten die Erlebnisse des Odysseus in der dritten Person andere Erlebnisse des Odysseus in erster Person, die er Alkinoos, dem König der Phäaken, erzählt. Wenn wir sie miteinander vergleichen, sehen wir, daß sie sich nicht nur grammatikalisch unterscheiden. Die in der dritten Person erzählten Erlebnisse haben eine psychologische und gefühlsmäßige Dimension, die den anderen fehlt. Und in ihnen besteht die Präsenz des Übernatürlichen aus Erscheinungen der olympischen Götter, die sich den Menschen in Gestalt gewöhnlicher Sterblicher zeigen. Hingegen scheinen die Erlebnisse Odysseus‘, die in der ersten Person erzählt sind, einem primitiveren mythologischen Repertoire anzugehören, in dem sich gewöhnliche Sterbliche und übernatürliche Wesen Aug in Aug gegenüberstehen, eine von Monstren, Zyklopen, Sirenen und Männer in Schweine verwandelnden Zauberinnen bevölkerte Welt, eben die Welt des Übernatürlichen, Heidnischen, Prä-Olympischen. Wir können sie also als zwei verschiedene Ebenen mythischer Wirklichkeit bezeichnen, denen zwei Geographien entsprechen; eine, die der historischen Erfahrung jener Epoche entspricht (die der [146] Reise des Telemachos und der Rückkehr nach Ithaka) und eine märchenhafte, die aus der Nebeneinanderstellung heterogener Traditionen hervorgeht (die der von Odysseus erzählten Reisen des Odysseus). Wir können hinzufügen, daß sich zwischen diesen beiden Ebenen die Insel der Phäaken ansiedelt, das heißt, der ideale Ort, aus dem die Erzählung entsteht, Utopie menschlicher Perfektion, außerhalb der Geschichte und außerhalb der Geographie.

Ich habe mich so lange bei diesem Punkt aufgehalten, weil er mir als Beispiel dafür dient, wie den verschiedenen Ebenen auch unterschiedliche Ebenen der Glaubwürdigkeit, oder besser, eine unterschiedliche „Suspension of disbelief“ entsprechen können: vorausgesetzt, daß ein Leser an die von Homer erzählten Erlebnisse des Odysseus „glaubt“, kann derselbe Leser Odysseus für einen Schwätzer halten wegen all dessen, was Homer ihn in der ersten Person sagen läßt. Aber achten wir darauf, nicht Wirklichkeitsebenen (innerhalb des Werkes) mit Wahrheitsebenen (in Bezug zum „Draußen“) zu verwechseln. Daher müssen wir uns immer den ganzen Satz vor Augen halten:

„Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus sagt: ich habe dem Gesang der Sirenen gelauscht“.

Dies ist die Formel, die ich als das vollständigste und gleichzeitig das synthetischste Schema der Verbindungen von Wirklichkeitsebenen im Literarischen vorschlage.

Mit jedem Teil dieses Satzes können verschiedene Problematiken zusammenhängen. Ich werde dafür einige Beispiele angeben, indem ich noch einmal an den Anfang des Satzes zurückgehe.

Ich schreibe

Mit dem „ich schreibe“ verbindet sich die in unserem Jahrhundert sehr komplexe Problematik der Metaliteratur und ähnlicher Problemkreise wie Metatheater, Metamalerei usw. Am Beispiel Shakespeares haben wir bereits vom Theater im Theater gesprochen, und ähnliche Beispiele sind auch in der Geschichte der Theaterliteratur zu finden, von der Illusion comique Corneilles bis [147] hin zu Sechs Personen auf der Suche nach einem Autor von Pirandello. Aber erst in den letzten Jahrzehnten haben diese metatheatralischen und metaliterarischen Vorgehensweisen eine neue Bedeutung moralischer oder epistemologischer Natur erhalten: gegen den Illusionismus der Kunst, gegen den naturalistischen Anspruch, den Leser oder Zuschauer vergessen zu lassen, daß er es mit einer Operation zu tun hat, die mit sprachlichen Mitteln vollzogen wird, mit einer Fiktion, die erdacht ist für eine Strategie der Effekte.

Die moralische, besser: pädagogische Motivation ist vorherrschend bei Brecht und in seiner Theorie vom epischen Theater und von der Entfremdung: der Zuschauer soll sich nicht passiv und emotional der szenischen Illusion hingeben, sondern soll angeregt werden, nachzudenken und Partei zu ergreifen.

Eine Theoretisierung auf der Grundlage der strukturellen Linguistik liefert dagegen den Hintergrund für die Untersuchungen der französischen Literatur in den letzten fünfzehn Jahren, die sowohl in der kritischen Reflexion als auch in der kreativen Praxis die Körperlichkeit des Geschriebenen, des Textes in den Vordergrund stellen. Man denke dabei nur an Roland Barthes.

Ich schreibe, daß Homer erzählt

Hier begeben wir uns in einen sehr weitläufigen Bereich, die Verdoppelung oder Vervielfältigung des Subjekts des Schreibens, und das ist ein Bereich, in dem eine erschöpfende Theoretisierung noch stattfinden muß.

Wir können beginnen bei der Gewohnheit der Autoren der Ritterromane, sich auf ein hypothetisches Manuskript zu berufen, das als Quelle dient. Auch Ariost gibt vor, sich auf die Autorität des Turpinus zu berufen. Und sogar Cervantes stellt zwischen sich und Don Quichote die Figur eines arabischen Schriftstellers, Cide Hamete Benengeli.

Nicht nur das: Cervantes setzt auch eine Art Synchronie zwischen der erzählten Handlung und der Niederschrift des arabischen Manuskripts voraus, weswegen Don Quichote und Sancho [148] sich der Tatsache bewußt sind, daß die Abenteuer, die sie erleben, die von Benengeli geschriebenen sind und nicht die, die Avellaneda in seinem apokryphen zweiten Teil des Don Quichote verfaßt hat.

Noch einfacher ist die Methode, von der Annahme auszugehen, daß das Buch vom Protagonisten in erster Person geschrieben wird. Der erste Roman, den wir als gänzlich modern bezeichnen können, wird nicht unter dem Namen des Autors Daniel Defoe veröffentlicht, sondern als Memoiren eines zwielichtigen Matrosen aus York, Robinson Crusoe.

All das bringt mich nach und nach dem Kern des Problems näher: die fortschreitenden Schichtungen von Subjektivität und Fiktion, die wir unter dem Namen des Autors erkennen können, die verschiedenen Ichs, aus denen sich das schreibende Ich zusammensetzt. Das ist die Vorbedingung für jedes literarische Werk: die Person, die schreibt, muß jene erste Figur erfinden, die der Autor des Werkes ist. Daß ein Mensch sich ganz in ein Werk hineingibt, das er schreibt, ist ein Satz, der häufig gesagt wird, aber nie der Wahrheit entspricht. Es ist immer nur eine Projektion seiner selbst, die der Autor im Schreiben ins Spiel bringt, und es kann genausogut die Projektion eines wahren Teils seiner selbst sein wie die Projektion eines fiktiven Ich, einer Maske. Schreiben setzt jedesmal die Auswahl einer psychologischen Haltung voraus, einer Beziehung zur Welt, einer Stimmlage, eines gleichmäßigen Ganzen aus sprachlichen Mitteln und Erfahrungswerten und Gespenstern der Phantasie, eben eines Stils. Der Autor ist insofern Autor, als er in eine Rolle schlüpft wie ein Schauspieler und sich mit dieser Projektion seiner selbst, in dem Augenblick, in dem er schreibt, identifiziert.

Verglichen mit dem Ich des Individuums als empirisches Subjekt, ist diese Autor-Figur etwas weniger und etwas mehr. Etwas weniger, weil zum Beispiel Gustave Flaubert als Autor der Madame Bovary die Sprache und die Visionen des Gustave Flaubert als Autor von Die Versuchung des Hl. Antonius oder Salambô ausschließt, eine strenge Reduktion seiner inneren Welt auf die Dinge vornimmt, die die Welt der Madame Bovary ausmachen. Und er ist auch etwas mehr, weil der Gustave Flaubert, der nur [149] in Beziehung zum Manuskript von Madame Bovary existiert, einer sehr viel kompakteren und definierteren Existenz teilhaftig ist als der Gustave Flaubert, der, während er Madame Bovary schreibt, weiß, daß er der Autor der Versuchung gewesen ist und der Autor von Salambô sein wird, und der weiß, daß er ständig zwischen dem einen Universum und dem anderen hin- und herschwingt, und weiß, daß sich letztendlich alle diese Welten in seinem Geist vereinigen und auflösen.

Das Beispiel Flauberts eignet sich, um die von mir vorgeschlagene Formel zu überprüfen, indem sie in eine Reihe von Projektionen umgesetzt wird. Der Gustave Flaubert, der der Autor des Gesamtwerkes von Gustave Flaubert ist, projiziert den Gustave Flaubert, der der Autor der Madame Bovary ist, aus sich selbst heraus, der aus sich selbst die Figur einer bürgerlichen Dame aus Rouen, Emma Bovary, herausprojiziert, die aus sich selbst die Emma Bovary herausprojiziert, die sie zu sein träumt. Abbildung

Jedes projizierte Element reagiert seinerseits auf das projizierende Element, verändert und bedingt es, weshalb die Pfeile nicht nur in eine, sondern in beide Richtungen gehen: Abbildung

Nun bleibt uns nur noch, den letzten Begriff mit dem ersten zu verbinden, das heißt die Dynamik dieser Kreisförmigkeit der Projektionen herzustellen. Mit seiner berühmten Feststellung: „Madame Bovary c'est moi“ hat uns Flaubert selbst einen genauen Hinweis in diese Richtung gegeben. Abbildung

[150] Wieviel vom Ich, das den Figuren Form verleiht, ist in Wirklichkeit ein Ich, dem die Figuren Form verliehen haben? Je weiter wir fortschreiten in der Unterscheidung der unterschiedlichen Schichten, aus denen sich das Ich des Schriftstellers zusammensetzt, desto stärker werden wir uns der Tatsache bewußt, daß viele dieser Schichten nicht dem Individuum Schriftsteller, sondern der kollektiven Kultur, der geschichtlichen Epoche oder den tiefsitzenden Ablagerungen der Spezies zugehörig sind. Der Ausgangspunkt der Kette, das wahre erste Subjekt des Schreibens erscheint uns immer ferner, immer verdünnter, immer undeutlicher: vielleicht ist es ein Ich-Gespenst, ein leerer Ort, eine Abwesenheit.

Um eine konkretere Substanz zu erreichen, kann das Ich versuchen, zu einer Figur zu werden, sogar zur Hauptfigur des geschriebenen Werkes. Aber ich brauche mich nur der Feinsinnigkeit dessen zu erinnern, was Gianfranco Contini über das „Ich“ der Göttlichen Komödie schreibt, um zu wissen, daß auch es in mehreren Personen zerlegt werden kann, ähnlich wie das Ich, das in der Recherche Prousts spricht.

Mit dem Ich, das zur Figur wird, verlagern wir uns vom „Ich schreibe, daß Homer erzählt“ zum „Homer erzählt, daß Odysseus…“

Homer erzählt, daß Odysseus

Mit der Hauptfigur kommt eine innere Subjektivität der geschriebenen Welt ins Spiel, eine Figur, die eine eigene Deutlichkeit besitzt – und oft handelt es sich um eine visuelle, bildliche Deutlichkeit –, die sich der Vorstellungskraft des Lesers aufdrängt und die wie eine Vorrichtung funktioniert, um die unterschiedlichen Ebenen der Wirklichkeit zu verbinden oder sie sogar zum Leben zu erwecken, um es ihnen zu ermöglichen, im Geschriebenen Form anzunehmen.

Die Figur Don Quichotes ermöglicht die Auseinandersetzung und die Begegnung zwischen zwei antithetischen Sprachen, ja zwischen zwei literarischen Welten ohne Gemeinsamkeiten: das [151] Wunderbare des Ritterromans und das Komische des Schelmenromans, und eröffnet eine neue Dimension, sogar zwei: eine extrem komplexe mentale Wirklichkeitsebene und eine Umweltdarstellung, die wir realistisch nennen können, allerdings in einer völlig neuen, anderen Bedeutung als dem pikaresken „Realismus“, der ein Repertoire stereotyper Bilder von Armut und Häßlichkeit war. Die sonnenheißen, staubigen Straßen, auf denen Don Quichote und Sancho Mönchen mit Sonnenschirm, Mauleseln, Damen auf Sänften und Schafherden begegnen, sind eine Welt, die vorher noch nie geschrieben worden war. Sie war nie vorher geschrieben worden, weil es keinen Grund gab, sie zu schreiben, während sie hier einer Notwendigkeit entspricht, da sie die Umkehrung der inneren Wirklichkeit Don Quichotes ist, oder besser der Hintergrund, auf den Don Quichote seine kodifizierte Lesart der Welt projiziert.

Don Quichote ist eine Figur, die eine unverwechselbare Bildhaftigkeit und einen unerschöpflichen inneren Reichtum besitzt. Aber es ist nicht gesagt, daß eine Figur notwendigerweise eine solche Dichte haben muß, um die Funktion des Protagonisten eines Werkes wahrzunehmen. Die Funktion der Figur kann mit der eines Operators verglichen werden, in der Bedeutung, den dieser Begriff in der Mathematik hat. Wenn ihre Funktion gut definiert ist, kann sich seine Existenz auf einen Namen, ein Profil, eine Hieroglyphe, ein Zeichen beschränken.

Nach der Lektüre von Gullivers Reisen wissen wir sehr wenig über Doktor Lemuel Gulliver, Arzt auf den Schiffen Ihrer Majestät: seine Konsistenz als Hauptfigur ist unendlich viel magerer als die von Don Quichote; und doch ist es diese Präsenz, die wir das ganze Buch hindurch verfolgen und die das Buch zum Leben erweckt. Das geschieht, weil – auch wenn es uns schwerfällt, Lemuel Gulliver in seiner Psychologie oder seinen Gesichtszügen festzuhalten – seine Funktion als Operator doch sehr deutlich ist: vor allem als großer Mann unter den Zwergen und kleiner Mensch unter den Riesen – und dieses Arbeiten mit Größenordnungen ist die einfachste Lesart, weswegen Gulliver auch für die Kinder, die die Adaptionen des Buches von Swift lesen, als Figur funktioniert; aber die wahre Operation, die er verdeutlicht (hier [152] verweise ich auf einen sehr überzeugenden Essay eines italienischen Gelehrten, Giuseppe Sertoli), ist die der Gegenüberstellung der Welt des logisch-mathematischen Verstandes und der Welt der Körper, der physiologischen Materialität mit ihren unterschiedlichen Erkenntniserfahrungen und unterschiedlichen ethisch-theologischen Auffassungen.

Odysseus sagt:

Doppelpunkt. Dieser Doppelpunkt ist eine sehr wichtige Artikulation, ich würde sagen, der Schlüssel der Erzählkunst aller Zeiten und aller Länder. Nicht nur deshalb, weil Erzählungen innerhalb einer Erzählung, die als Rahmen dient, immer eine der verbreitesten Strukturen der geschriebenen Erzählkunst gewesen sind, sondern weil wir uns auch dort, wo es keinen Rahmen gibt, einen unsichtbaren Doppelpunkt vorstellen können, der die Rede eröffnet und das ganze Werk einleitet.

Ich beschränke mich darauf, die Hauptaspekte des Problems zu erwähnen. Im Westen entsteht der Roman im hellenistischen Griechenland und stellt sich als eine Haupterzählung dar, in die sekundäre Erzählungen eingefügt sind, die von den Figuren erzählt werden. Diese Vorgehensweise ist charakteristisch für die alte indische Erzählkunst, in der jedoch die Struktur der Erzählung im Verhältnis zum Blickwinkel des Erzählenden sehr viel komplizierteren Regeln folgt als im Westen. Ich verweise hier auf eine Untersuchung des Indologen F. Lacôte, Sur l‘origine indienne du roman grec aus dem Jahre 1911. Einem indischen Modell sind auch die Novellensammlungen nachgebildet, die in eine Rahmenerzählung eingebettet sind – in der islamischen Welt wie auch im Europa des Mittelalters und der Renaissance.

Wir kennen alle Tausendundeine Nacht, in der alle Geschichten in einem allgemeineren Rahmen enthalten sind, der Geschichte vom persischen König Shahriyàr, der seine Gemahlinnen nach der ersten Hochzeitsnacht umbringt, und der Gemahlin Scheherezade, der es gelingt, dieses Los aufzuschieben, indem sie wunderbare Geschichten erzählt und diese auf dem Höhepunkt [153] unterbricht. Außer den von Scheherezade erzählten Geschichten gibt es auch noch Geschichten, die von Personen in diesen Geschichten erzählt werden, die Geschichten sind also – bis zu fünf Mal – ineinander verschachtelt. Ich erwähne hier den Essay Les hommes-récits von Tzvetan Todorov, der das enchâssement der Erzählungen in Tausendundeiner Nacht und in der Handschrift von Saragossa von Jan Potocki untersucht hat (Poétique de la prose, Seuil, Paris 1971).

Borges spricht von einer der Tausendundeine Nacht, der 602., der magischsten von allen, in der Scheherezade Shahriyàr eine Geschichte erzählt, in der Scheherezade Shahriyàr undsoweiter undsoweiter. In den Übersetzungen von Tausendundeine Nacht, die mir vorliegen, konnte ich diese 602. Nacht nicht finden. Aber selbst wenn Borges sie erfunden hätte, hätte er gut daran getan, weil sie die natürliche Krönung des enchâssement der Geschichten darstellt.

Von unserem Blickpunkt der Wirklichkeitsebenen aus gesehen, ist zu sagen, daß das enchâssement von Tausendundeiner Nacht wohl eine perspektivische Struktur bedingt, aber daß in unserer Lektüre – jedenfalls so, wie wir diese Geschichte lesen können – diese Geschichten alle auf derselben Ebene liegen. Wir können dabei zwei sehr unterschiedliche Arten der Erzählkunst erkennen: die wunderbare Erzählweise indischen und persischen Ursprungs mit Flaschengeistern, fliegenden Pferden und Metamorphosen, und die novellistische, arabisch-islamische des Bagdad-Zyklus mit dem Kalifen Harun-al-Raschid und dem Wesir Dschafar. Aber die Erzählungen des einen und des anderen Typs liegen auf derselben strukturellen und stilistischen Ebene, und unsere Lektüre verläuft von den einen zu den anderen wie auf der Oberfläche eines ausgebreiteten Wandteppichs.

Im Prototyp der literarischen Novellistik des Westens, dem Dekameron des Giovanni Boccaccio hingegen, gibt es zwischen Rahmen und Novellen einen deutlichen stilistischen Unterschied, der die Distanz zwischen den beiden Ebenen unterstreicht. Der Rahmen für jeden Tag des Dekameron ist ein Bild des glücklichen Lebens, das die sieben Frauen und drei Männer der fröhlichen Erzählerbrigade in ihrem ländlichen Domizil führen.

[154] Wir befinden uns auf einer Ebene stilisierter Wirklichkeit, einheitlich angenehm, raffiniert manieristisch, ohne Kontraste ohne Charakterisierungen, vollständig aus Klima- und Landschaftsbeschreibungen, Zeitvertreib und Gesprächen der spielerischen höfischen Gesellschaft bestehend, die jeden Tag eine Königin wählt und den Tag mit einem Lied in Versen beschließt. Die erzählten Novellen hingegen stellen einen Katalog der erzählerischen Möglichkeiten dar, die sich der Sprache und der Kultur einer Epoche eröffnen, in der die Vielfalt der Lebensformen einen neuen Wert darstellt, der gerade dort seine Bedeutung bekommt. Jede Novelle besitzt eine eigene Intensität des Geschriebenen und der Darstellung in einem Fächer unterschiedlicher Richtungen, so daß sie sozusagen aus dem Rahmen hervorgehoben wird. Heißt das, daß der Rahmen lediglich ein dekoratives Element ist? Dies zu behaupten, würde bedeuten, daß man vergißt, daß der Rahmen der Novellen, dieses irdische Paradies des galanten höfischen Lebens innerhalb eines anderen tragischen, dem Tode verhafteten, höllischen Rahmens steht: dem der Pest von 1348 in Florenz, die in der Einleitung zum Dekameron beschrieben wird. Es ist die fahle Wirklichkeit einer Endzeitwelt, die Pest als biologische und gesellschaftliche Katastrophe, die der Utopie einer idyllischen Gesellschaft, die von der Schönheit, der Anmut und vom Geist regiert wird, Sinn verleiht. Die vorrangige Produktion dieser Gesellschaft ist die Erzählung, und die Erzählung reproduziert die Vielfältigkeit und die Intensität der verlorenen Welt, deren Lachen und Weinen bereits ausgelöscht ist vom einebnenden Tod. Schauen wir nun, was sich in diesem Rahmen befindet.

ich habe dem Gesang der Sirenen gelauscht.

Ich hätte auch sagen können: ich habe den Zyklopen Polyphem geblendet, oder: ich habe mich dem Zauber Circes entzogen, aber ich habe die Episode mit den Sirenen gewählt, weil sie es mir ermöglicht, eine weitere perspektivische Passage innerhalb von Odysseus‘ Erzählung zu eröffnen, eine weitere Wirklichkeitsebene, enthalten im Gesang der Sirenen.

[155] Was singen die Sirenen? Eine denkbare Hypothese ist die, daß ihr Gesang nichts anderes ist als die Odyssee. Die Versuchung der Dichtung, sich sich selbst einzuverleiben, sich selbst wie in einem Spiegel zu reflektieren, taucht in der Odyssee mehrfach auf, vor allem bei den Banketten, wo die Sänger auftreten; und wer besser als die Sirenen könnte dem eigenen Gesang diese Funktion als magischer Spiegel verleihen?

In diesem Fall hätten wir es mit jener literarischen Form zu tun, die André Gide la mise en abyme genannt hat. Diese mise en abyme liegt vor, wenn ein literarisches Werk ein anderes Werk enthält, das dem ersten ähnelt, also wenn ein Teil seiner selbst das Ganze darstellt. Wir haben schon auf die Vorführung der Schauspieler im Hamlet verwiesen, auf die 602. Nacht nach Borges. Die Beispiele lassen sich auch auf die Malerei ausdehnen, man denke nur an die Spiegeleffekte in den Bildern Van Eycks. Ich verweile nicht länger bei der mise en abyme und verweise nur noch auf eine erschöpfende Untersuchung dazu: Le récit spectaculaire von Lucien Dällenbach (Seuil, Paris 1977).

Aber das, was uns der Text der Odyssee über den Gesang der Sirenen erzählt, ist, daß die Sirenen sagen, daß sie singen, daß sie gehört werden wollen, und daß ihr Gesang das Beste ist, was gesungen werden kann. Die letztliche Erfahrung, über die die Erzählung von Odysseus Zeugnis ablegen will, ist eine lyrische, musikalische Erfahrung an den Grenzen des Unsagbaren. In einer seiner schönsten Schriften interpretierte Maurice Blanchot den Gesang der Sirenen als ein Jenseits des Ausdrucks, von dem sich Odysseus, nachdem er dessen Unsagbarkeit erfahren hat, zurückzieht und vom Gesang auf die Erzählung über den Gesang ausweicht.

Wenn ich mich bis jetzt zur Überprüfung meiner Formel erzählerischer Beispiele der Klassiker der Prosa oder der Dichtung oder des Theaters bedient habe, die jedoch alle eine Geschichte zu erzählen haben, müßte ich jetzt, beim Gesang der Sirenen angekommen, meinen ganzen Diskurs erneut aufrollen, um zu verifizieren, ob er sich, wie ich glaube, Punkt für Punkt der lyrischen Dichtung anpassen kann, und die verschiedenen Wirklichkeitsebenen hervorheben, die die dichterische Vorgehens[156]weise durchläuft. Ich bin davon überzeugt, daß diese Formel mit minimalen Änderungen angewendet werden könnte, wenn man statt Homer Mallarmé als Beispiel nähme. Eine derartige Neuformulierung würde es uns vielleicht ermöglichen, den Gesang der Sirenen zu verfolgen, den äußersten Zielpunkt des Geschriebenen, den letztendlichen Kern der Poetik, und auf den Spuren Mallarmés kämen wir vielleicht zum weißen Blatt, zum Schweigen, zur Abwesenheit.

Die vom Geschriebenen hervorgerufenen Wirklichkeitsebenen, wie wir sie beschrieben haben, die Abfolge von Schleier und Trennwänden, entfernen sich vielleicht ins Unendliche, öffnen vielleicht ein Fenster auf das Nichts. Wie wir das Ich, das erste Subjekt des Schreibens, verschwinden sahen, so ist uns auch dessen letztes Objekt entglitten. Vielleicht liegt es an dem Spannungsfeld, das sich zwischen einer Leere und einer anderen Leere bildet, daß die Literatur die Dichte einer an Formen und Bedeutungen unerschöpflich reichen Wirklichkeit noch steigert.

Am Ende dieses Vortrages merke ich, daß ich immer von „Wirklichkeitsebenen“ gesprochen habe, während das Thema dieses Kongresses (zumindest im Italienischen) „Die Ebenen der Wirklichkeit“ lautet. Der zentrale Punkt meines Vortrages liegt vielleicht gerade darin: die Literatur kennt nicht die Wirklichkeit sondern nur die Ebenen.

Ob es die Wirklichkeit gibt, von der die verschiedenen Ebenen nur Teilaspekte sind, oder ob es nur die Ebenen gibt, das kann die Literatur nicht entscheiden. Die Literatur kennt die Wirklichkeit der Ebenen und das ist eine Wirklichkeit, die sie vielleicht besser kennt, als man sie durch andere Erkenntnismethoden kennenlernen könnte. Das ist schon sehr viel.

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Italo Calvino: Die Ebenen der Wirklichkeit in der Literatur, 1978

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