Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Der Hyperrealismus der Simulation, 1976

Jean Baudrillard

Quelle

Jean Baudrillard: "Der Hyperrealismus der Simulation", in: Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Französischen von Gerd Bergfleth (Kapitel I), Gabriele Ricke und Ronald Voullié (Kapitel II-VI). Anhang: Baudrillard und die Todesrevolte von Gerd Bergfleth. München: Matthes & Seitz 1982. (= Batterien. 14.), S. 112-119. ISBN 3-88221-215-2.

Erstausgabe

L’échange symbolique et la mort. Paris: Gallimard 1976.

Genre

Buch

Medium

Bild, Kunst

[112] All das definiert einen digitalen Raum, ein magnetisches Feld des Codes, mit Polarisierungen, Brechungen, Gravitationen von Modellen und dem ständigen Strom der kleinsten disjunktiven Einheiten (der Frage/Antwort-Zelle, die so etwas wie ein kybernetisches Atom der Signifikation ist). Man muß den Unterschied beachten, der zwischen diesem Kontrollfeld und dem traditionell repressiven Bereich der Polizei bestand, der noch einer signifikativen Gewalt entsprach. Dies war der Bereich für eine Konditionierung von Reflexen, der sich nach der Pawlowschen Versuchsanordnung der programmierten repetitiven Aggression richtete, und dem man, in vielfältigen Abstufungen, im ständigen Hämmern der Werbeslogans und in der politischen Propaganda der dreißiger Jahre wiederbegegnete. Eine handwerkliche und industrielle Gewalt, die den Zweck verfolgte, ein verschrecktes und tierisch gehorsames Verhalten zu erzeugen. Das alles hat keinen Sinn mehr. Die totalitäre, bürokratische Konzentration ist ein Schema, das auf die Epoche des Marktgesetzes des Wertes zurückgeht. Das System der Äquivalenzen indessen macht ein allgemeines Äquivalent erforderlich, und damit auch die Zentralisation eines globalen Prozesses. Eine archaische Rationalität im Vergleich zur Rationalität der Simulation: dort gibt es kein allgemeines Äquivalent mehr, sondern eine Auffächerung in Modelle übernimmt die regulierende Funktion – es gibt auch nicht mehr die Form des allgemeinen Äquivalents, sondern die Form der distinktiven Oppositionen. Vom ausdrücklichen Befehl geht man zur Programmierung durch den Code über, vom Ultimatum zum permanenten Druck, von der erzwungenen Passivität zu Modellen, die von vornherein auf die „aktive Reaktion“ des Subjekts hin konstruiert worden sind, auf seine Einbeziehung, auf seine „spielerische“ Partizipation etc. berechnet sind, bis hin zum Modell eines totalen „Environments“ aus pausenlosen, spontanen Antworten, aus begeisterten feed-backs und weitgefächerten Kontakten. Das ist, nach Nicolas Schöffer, „die Konkretisierung der allgemeinen Stimmung“. Das ist das große Fest der Partizipation: es besteht aus Myriaden von Stimuli, aus Miniaturtests, aus unbegrenzt teilbaren Frage/Antwort-Paaren, die alle von irgendwelchen großen Modellen im Feld des Codes magnetisiert werden.

Die große Kultur der taktilen Kommunikation steht vor der Tür, im Zeichen des techno-luminös-kinetischen Raumes und des totalen räumlich-dynamischen Theaters!

Der ganze imaginäre Bereich des Kontakts, der sensorischen [113] Anpassung, des taktilen Mystizismus, letzten Endes auch die ganze Ökologie läßt sich auf dieses Universum der operationalen Simulation übertragen. Man wird sich diesen ständigen Test der erfolgreichen Anpassung durch eine Assimilierung des animalischen Mimetismus zur Gewohnheit machen: „Die Anpassung der Tiere an die Farben und Formen ihrer Umgebung ist auch ein für den Menschen gültiges Modell“ (Nicolas Schöffer), auch bei den Indianern mit ihrem „angeborenen Sinn für Ökologie“! Tropismen, Mimikry, Empathie: das ganze ökologische Evangelium der offenen Systeme, mit negativem oder positivem feed-back, drängt sich in diese Lücke – ihre Ideologie ist die Steuerung durch Information, die aber, einer flexibleren Rationalität angepaßt, doch nichts weiter als eine Umwandlung des Pawlowschen Reflexes ist. So ist man auch bei der Konditionierung der geistigen Gesundheit vom Elektroschock zur Ausdrucksschulung des Körpers übergegangen. Die Dispositive der Macht und des direkten Zwangs machen überall den diffuseren Dispositiven des Ambientes Platz, die durch eine Operationalisierung der Vorstellungen, der Bedürfnisse, der Wahrnehmung, des Begehrens etc. wirken. Eine universelle Ökologie, ein Mystizismus der „Nischen“ und Gesamtzusammenhänge, eine Simulation von Milieus, die sogar bis zu „Zentren für ästhetische und kulturelle Impulse“ geht, die im VII. Plan (warum nicht?) vorgesehen sind, und auch bis zum „Zentrum für sexuelle Freizeitgestaltung“, das in Form eines Busens gebaut ist und „eine überwältigende Euphorie in anregender Atmosphäre verspricht... Dem Arbeiter aller Klassen werden diese Zentren zugänglich sein“. Die gleiche räumlich-dynamische Faszination wie in jenem „totalen Theater“, das wie ein kreisförmiges, hyperbolisches, um eine zylindrische Achse kreisendes Dispositiv konzipiert wurde: es gibt keine Bühne, keinen Abstand, keinen „Blick“ mehr: dies ist das Ende des Spektakels, des Spektakulären, es gibt nur noch das totale, fusionierende, taktile, ästhesische (und nicht mehr ästhetische) Environment. Nur noch mit schwarzem Humor kann man dabei an das totale Theater von Artaud, an sein Theater der Grausamkeit denken, dessen räumlich-dynamische Simulation eine scheußliche Karikatur ist. Die Grausamkeit wird darin durch minimale und maximale „Stimulationsschwellen“ und durch die Erfindung von „auf der Basis von Sättigungsschwellen kalkulierten Wahrnehmungscodes“ ersetzt. Sogar die gute alte „Katharsis“ aus dem klassischen Theater der Leidenschaften ist heute durch Simulation homöopathisch geworden. So weit kommt es mit dem Schöpferischen.

Die Realität geht im Hyperrealismus unter, in der exakten Verdoppelung des Realen, vorzugsweise auf der Grundlage eines anderen reproduktiven Mediums – Werbung, Photo etc. – und von [114] Medium zu Medium verflüchtigt sich das Reale, es wird zur Allegorie des Todes, aber noch in seiner Zerstörung bestätigt und überhöht es sich: es wird zum Realen schlechthin, Fetischismus des verlorenen Objekts – nicht mehr Objekt der Repräsentation, sondern ekstatische Verleugnung und rituelle Austreibung seiner selbst: hyperreal.

Der Realismus hatte diese Tendenz schon angekündigt. Schon die Rhetorik des Realen signalisiert, daß sein Status erheblich verändert ist (das goldene Zeitalter ist das der Unschuld der Sprache, die nichts verdoppeln muß, was sie über einen Eindruck der Realität sagt). Der Surrealismus ist noch solidarisch mit dem Realismus, den er verachtet, doch er verdoppelt schon durch sein Eindringen in das Imaginäre. Das Hyperreale ist ein viel weiter fortgeschrittenes Stadium, in dem sogar der Widerspruch zwischen dem Realen und dem Imaginären ausgelöscht ist. Die Irrealität ist nicht mehr die eines Traums oder Phantasmas, eines Diesseits oder Jenseits, es ist die Irrealität einer halluzinierenden Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst. Um die Krise der Repräsentation zu überwinden, muß man das Reale in der reinen Wiederholung einschließen. Diese Tendenz zeigt sich, noch ehe sie in Pop-Art und neorealistischer Malerei auftaucht, im „nouveau roman“. Schon dort besteht die Intention, um das Reale herum eine Leere zu schaffen, die ganze Psychologie, die ganze Subjektivität zu eliminieren und alles der reinen Objektivität zu überlassen. Tatsächlich aber ist diese Objektivität nichts als die Objektivität des reinen Blicks – eine Objektivität, die endlich vom Objekt befreit ist, das nichts weiter als das blinde Relais des abtastenden Blicks ist. Ein zirkulärer Reiz, in dem man leicht den unbewußten Versuch erkennen kann, nicht mehr gesehen zu werden.

Genau diesen Eindruck erweckt der Neo-Roman: diese Sucht, den Sinn aus einer blinden und minutiösen Realität auszuschließen. Syntax und Semantik sind verschwunden – es gibt keine Erscheinung des Objekts mehr, nur noch sein bloßes Herbeizitieren, ein verbissenes Protokollieren seiner verstreuten Fragmente – weder Metapher noch Metonymie, nur noch eine lückenlose Immanenz unter der Polizei-Instanz des Blicks. Diese „objektive“ Mikroskopie erzeugt einen Realitätsrausch, einen Todesrausch an den Grenzen der Repräsentation um der Repräsentation willen. Vergangen sind die alten Illusionen von Relief, Perspektive und (räumlicher und psychologischer) Tiefe, die mit der Wahrnehmung des Objekts verbunden waren: die gesamte Optik, alles Skopische, das operational auf die Oberfläche der Dinge gerichtet wird, der Blick als solcher ist zum molekularen Code des Objekts geworden.

Es gibt unterschiedliche Ausprägungen dieser schwindelerregenden realistischen Simulation:

I. Das Zerlegen des Realen in seine Einzelheiten – die abgeschlos[115]sene, paradigmatische Brechung des Objekts – vereinfacht ausgedrückt: Linearität und Serialität partialer Objekte.

II. Die tiefgründige Wahrnehmung: alle Verfahren zur Vervielfachung und Aufteilung des Objekts in seine Einzelheiten. Diese Demultiplikation gibt sich als Tiefe, ja sogar als kritische Meta-Sprache aus, und das traf für einen Reflexionszusammenhang der Sprache, für eine Dialektik des Spiegels auch zweifellos zu. Inzwischen aber ist die unbegrenzte Brechung nichts weiter als ein Typus der Serialität: das Reale wird dadurch nicht mehr reflektiert, es wird zurückentwickelt und reduziert.

III. Die eigentlich serielle Form (Andy Warhol). In ihr ist nicht nur die syntagmatische, sondern auch die paradigmatische Dimension beseitigt, denn es gibt keine Flexion der Formen mehr, nicht einmal mehr eine immanente Reflexion, sondern nur noch ein Nebeneinander des Gleichen – Flexion und Reflexion gleich Null. Wie jene beiden Zwillingsschwestern auf einer erotischen Photographie: die sinnliche Realität ihrer Körper wird durch die Gleichheit ausgelöscht. Wie könnte man an sie glauben, wenn die Schönheit der einen unmittelbar durch die Schönheit der anderen verdoppelt wird? Der Blick kann nur von der einen zur anderen gehen, jede Wahrnehmung wird auf dieses Hin-und-Her beschränkt. Eine subtile Form der Tötung des Originals, aber auch ein einzigartiger Reiz, bei dem jede Aufmerksamkeit, die sich auf das Objekt richten könnte, durch seine unendliche Brechung in sich selbst abgelenkt wird (ein umgekehrtes Szenario des platonischen Mythos von der Vereinigung der beiden getrennten Hälften eines Symbols – hier teilt sich das Zeichen wie es die einzelligen Lebewesen tun). Dieser Reiz gleicht vielleicht dem des Todes, in dem Sinn, daß für uns geschlechtliche Lebewesen der Tod möglicherweise nicht das Nichts bedeutet, sondern einfach nur die der Geschlechtsdifferenzierung vorhergehende Form der Fortpflanzung. Die Erzeugung nach dem Modell in endloser Reihe nimmt tatsächlich die Vermehrungsweise der Einzeller wieder auf und stellt sich der entgegen, die für uns mit Leben verbunden ist.

IV. Aber dieser reine Automatismus ist zweifellos nur eine paradoxe Zuspitzung: die eigentliche generative Formel, die alle anderen in sich einschließt und in gewisser Weise die stabilisierte Form des Codes ist, das ist die Formel der Binarität, der Digitalität – nicht der reinen Wiederholung, sondern der minimalen Abweichung, der minimalen Modulation zwischen zwei Termen, das heißt „das kleinste gemeinsame Paradigma“, das die Fiktion von Sinn aufrechterhalten könnte. Diese Simulation, diese Kombinatorik der inneren Differenzierung des bildlichen wie des Konsumgegenstandes reduziert und verengt sich in der gegenwärtigen Kunst so sehr, daß es schließlich nur noch eine winzige Differenz ist, die das Hyperreale [116] von der Hypermalerei trennt. Diese gibt vor, sich dem Realen gegenüber bis zur Selbstverleugnung zu reduzieren, aber man weiß, daß alle Reize der Malerei in dieser winzigen Differenz zu neuem Leben erwachen: die ganze Malerei flüchtet sich in diesen schmalen Streifen, der die gemalte Oberfläche von der Mauer trennt. Und in die Signatur: das metaphysische Zeichen für die gesamte Malerei und für die gesamte Metaphysik der Repräsentation, bis sie schließlich sich selbst als Modell nimmt (der „reine“ Blick) und sich in der zwanghaften Wiederholung des Codes um sich selbst dreht.

Die wirkliche Definition des Realen lautet: das, wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann. Sie entsteht zur gleichen Zeit wie die Wissenschaft, die postuliert, daß ein Vorgang unter gegebenen Bedingungen exakt reproduziert werden kann, und wie die industrielle Rationalität, die ein universelles System von Äquivalenzen postuliert (die klassische Repräsentation ist keine Äquivalenz, sie ist Transkription, Interpretation, Kommentar). Am Ende dieses Entwicklungsprozesses der Reproduzierbarkeit ist das Reale nicht nur das, was reproduziert werden kann, sondern das, was immer schon reproduziert ist. Hyperreal.

Bedeutet das nun das Ende des Realen und das Ende der Kunst dadurch, daß beide vollständig ineinander aufgehen? Nein: der Hyperrealismus ist der Gipfel der Kunst und der Gipfel des Realen auf der Ebene der Simulakren durch den wechselseitigen Austausch von Privilegien und Vorurteilen, die ihnen zugrunde liegen. Das Hyperreale ist nicht jenseits der Repräsentation (vgl. J.-F. Lyotard, L'Art Vivant, in der Nummer über Hyperrealismus), weil es vollständig in der Simulation ist. Das Kreisen der Repräsentation dreht dabei durch, aber in einer implosiven Verrücktheit, die, weit davon entfernt, exzentrisch zu sein, mit dem Zentrum kokettiert, mit ihrer eigenen unbegrenzten Wiederholung. Analog zum inneren Distanzierungseffekt im Traum – bei dem man sich sagt, daß man träumt, was aber nur eine Zensur und Fortsetzung des Traums ist – bildet der Hyperrealismus einen integrierenden Bestandteil der codierten Realität, die er perpetuiert und an der er nichts ändert.

Tatsächlich muß man den Hyperrealismus gerade umgekehrt interpretieren: die Realität selbst ist heute hyperrealistisch Schon der Surrealismus kannte das Geheimnis, daß die banalste Realität surreal werden konnte, aber nur in besonderen Augenblicken, in denen Kunst und Imaginäres sichtbar wurden. Das ist heute anders: von nun an verkörpert die ganze alltägliche, politische, soziale, historische und ökonomische Realität die simulierende Dimension des Hyperrealismus: überall leben wir schon in der „ästhetischen“ Halluzination der Realität. Der alte Slogan „Die Realität geht über die Fiktion hinaus“, die dem surrealistischen Stadium dieser Ästhetisierung des [117] Lebens noch entsprach, ist überholt. Es gibt keine Fiktion mehr, der sich das Leben, noch dazu siegreich, entgegenstellen könnte – die gesamte Realität ist zum Spiel der Realität übergegangen – die radikale Ernüchterung, das coole und kybernetische Stadium folgt auf die heiße und phantasmatische Phase.

Deshalb können Schuld, Angst und Tod durch den vollkommenen Genuß der Zeichen für Schuld, Verzweiflung, Gewalt und Tod ersetzt werden. Genau darauf beruht die Euphorie der Simulation, die Ursache und Wirkung, Ursprung und Ziel aufheben und durch die Verdoppelung ersetzen will. Auf diese Weise schützt sich das geschlossene System zugleich vor dem Referenten und vor der Furcht vor dem Referenten – so daß es jeder Metasprache dadurch zuvorkommt, daß es mit seiner eigenen Meta-Sprache operiert, das heißt, indem es sich durch seine eigene Kritik verdoppelt. In der Simulation verdoppelt und vollendet die meta-linguistische Illusion die referentielle Illusion (die pathetische Halluzination des Zeichens und die pathetische Illusion des Realen).

„Das ist Zirkus“, „Das ist Theater“, „Das ist Kino“, alte Sprüche, alte, naturalistische Unterscheidungen. Darum geht es jetzt nicht mehr, es geht jetzt darum, aus dem Realen einen Satelliten zu machen, es in eine Umlaufbahn zu bringen, auf der es mit den Phantasmen kreist, die es früher illustriert haben – jetzt ununterscheidbar und ohne gemeinsames Maß. Diese „Satellitisierung“ ist übrigens in den „Zwei-Zimmer-Küchen-Dusche“ materiell geworden, die man mit der letzten Mondrakete auf eine Umlaufbahn gebracht, man könnte sagen: zur Macht des Weltraums erhoben hat. Wenn sogar die Alltäglichkeit der irdischen Wohnung in den Rang eines kosmischen Wertes, der absoluten Ausstattung erhoben wird – im Weltraum hypostasiert wird –, dann bedeutet dies das Ende der Metaphysik, dann beginnt das Zeitalter der Hyperrealität.13 Aber die räumliche Transzendenz der Zwei-Zimmer-Banalität und ihre coole und [118] mechanische Form im Hyperrealismus14 drücken nur eins aus: daß diese Hohlform als solche Teil eines Hyperraumes der Repräsentation ist, in dem technisch bereits jeder im Besitz der unmittelbaren Reproduktion seines eigenen Lebens ist, in dem beispielsweise die Piloten der Tupoljow, die in Le Bourget abgestürzt ist, sich durch ihre Kameras „live“ sterben sehen konnten. Das ist nichts anderes als der Kurzschluß der Antwort durch die Frage im Test, ein Prozeß der sofortigen Verlängerung, durch den die Realität unmittelbar von ihrem Simulakrum infiziert wird.

Früher gab es eine besondere Klasse von allegorischen und ein wenig diabolischen Gegenständen: Spiegel, Bilder, Kunstwerke (Begriffe?) – Simulakren, die jedoch als solche manifest und durchschaubar waren (man verwechselte die Vorlage nicht mit der Imitation), die ihren eigenen Stil und eine charakteristische Machart hatten. Und das Vergnügen bestand damals vor allem darin, etwas „Natürliches“ in dem zu entdecken, was künstlich und imitiert war. Heute, wo das Reale und das Imaginäre zu einer gemeinsamen operationalen Totalität verschmolzen sind, herrscht die ästhetische Faszination überall: es ist die unterschwellige Wahrnehmung (eine Art sechster Sinn) des Tricks, der Montage, des Szenarios, von der Überbelichtung der Realität bis zum Ausleuchten der Modelle, – kein Produktionsraum mehr, sondern ein Band, das gelesen, codiert und decodiert wird, ein Magnetband der Zeichen – eine ästhetische Realität, die nicht mehr durch die Überlegung und Distanz der Kunst zustande kommt, sondern durch ihren Aufstieg zum zweiten Niveau, in die zweite Potenz, durch die Antizipation und Immanenz des Codes. Eine Art von unfreiwilliger Immanenz überlagert alles, eine taktische Simulation, ein unentwirrbares Spiel, mit dem sich ein ästhetischer Genuß verbindet, der Genuß an der Lektüre und den Spielregeln. Travelling der Zeichen, der Medien, der Mode und der Modelle, der blinden und glänzenden Welt der Zeichen.

Die Kunst hat schon vor langer Zeit diese Wendung ahnen lassen, die heute den Alltag bestimmt. Schon früh hat sich das Kunstwerk durch eine Manipulation der künstlerischen Zeichen selbst verdoppelt: ein „Akademismus des Signifikanten“, wie Lévi-Strauss sagen würde, eine Übersignifikation der Kunst, durch die sie zur Zeichen[119]Struktur übergeht. Jetzt beginnt für die Kunst ihre unbegrenzte Reproduktion: alles was sich selbst verdoppelt, selbst die banale und alltägliche Realität, steht gleichermaßen im Zeichen der Kunst und wird ästhetisch. Das gilt auch für die Produktion, von der man heute sagen kann, daß auch für sie diese ästhetische Verdoppelung beginnt, diese Phase, in der sie jeden Inhalt und jeden Zweck ausschließt und gewissermaßen abstrakt wird und nicht mehr figurativ. Sie stellt nun die reine Form der Produktion dar, wie die Kunst bekommt auch sie einen Wert als Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Die Kunst und die Industrie können also ihre Zeichen austauschen: die Kunst kann zur Reproduktionsmaschine werden (Andy Warhol) und dabei doch Kunst bleiben, weil die Maschine nur Zeichen ist. Und die Produktion kann jede gesellschaftliche Zweckmäßigkeit verlieren, um sich schließlich in fabelhaften, hyperbolischen und ästhetischen Zeichen zu bestätigen und zu glorifizieren: in den großen Industrieanlagen, in den Türmen von 400 m Höhe oder in den chiffrierten Mysterien des Bruttosozialprodukts.

Kunst ist daher überall, denn das Künstliche steht im Zentrum der Realität. Die Kunst ist daher tot, nicht nur weil ihre kritische Transzendenz tot ist, sondern weil die Realität selbst – vollständig von einer Ästhetik geprägt, die von ihrer eigenen Strukturalität abhängt – mit ihrem eigenen Bild verschmolzen ist. Sie hat noch nicht einmal mehr Zeit, den Anschein von Realität anzunehmen. Sie überbietet auch die Fiktion nicht mehr: sie ergreift jeden Traum, bevor er den Anschein eines Traumes bekommt. Ein schizophrener Rausch von seriellen Zeichen, die keine Imitation, keine Sublimierung kennen, die in ihrer Wiederholung eingeschlossen sind – wer könnte sagen, wo die Realität dessen ist, was sie simulieren? Sie verdrängen auch nichts mehr (deshalb könnte man sagen, daß die Simulation in die Sphäre der Psychose überleitet): sogar die Primärprozesse sind hier ausgelöscht. Das coole Universum der Digitalität absorbiert das der Metapher und der Metonymie. Das Simulationsprinzip überwindet das Realitätsprinzip und das Lustprinzip.

13 Der Realitätsbegriff verhält sich proportional zur Reserve an Imaginärem, die ihm sein spezifisches Gewicht gibt. Das gilt gleichermaßen für die Erforschung der Erde und des Weltraums: da es kein unentdecktes, für das Imaginäre verfügbares Territorium gibt, weil das gesamte Territorium von der Karte abgedeckt wird, verschwindet so etwas wie das Realitätsprinzip. Die Eroberung des Weltraums bedeutet in diesem Sinn einen unwiderruflichen Beginn des Verlusts des irdischen Bezugsrahmens. Ein Verlust der Realität als innerer Zusammenhang einer begrenzten Welt kommt gerade dadurch zustande, daß ihre Grenzen sich unendlich erweitern. Die Eroberung des Weltraums folgt der des Planeten, und sie ist das gleiche phantasmatische Unternehmen, die Kompetenz des Realen auszudehnen – zum Beispiel die Fahne, die Technik, die „Zweizimmerwohnung“ auf den Mond zu bringen – derselbe Versuch wie die Substantialisierung von Begriffen oder die Territorialisierung des Unbewußten – es läuft darauf hinaus, den menschlichen Raum zu entrealisieren oder ihn einem Hyperrealen der Simulation zu überlassen.

14 Es gibt kein Kunstwerk mehr, weder die Blechlawine noch der Supermarkt, die die Hyperrealisten so sehr lieben, weder die Campbell-Suppendose, die Andy Warhol so sehr liebte, noch die Mona Lisa, die inzwischen auch per Satellit als vollkommenes Modell der irdischen Kunst um den Planeten geschickt wurde – es gibt kein Kunstwerk mehr, nur noch ein planetarisches Simulakrum, durch das eine ganze Welt über sich selbst (in Wirklichkeit über ihren eigenen Tod) Zeugnis ablegt im Angesicht eines künftigen Universums.

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Jean Baudrillard: Der Hyperrealismus der Simulation, 1976

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