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Glaube und Wissen, in: Deutsche Worte (Wien), Jahrgang 1896, 216-222 (Zugleich Besprechung von Benjamin Kidd: Soziale Evolution, Dt. Ausgabe, Jena 1895).
Glaube und Wissen.
Ludwig Gumplowicz
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Der älteste Kampf, der in unserem Jammerthale wüthet, ist nicht der uralte Rassenkampf – nein! er hat noch einen älteren Bruder, der lange, lange vor ihm den Menschen heimsuchte; es ist der Kampf um des Glaubens mit dem Wissen. Wenn es wahr ist, daß ein Fluch die Menschheit für alle Ewigkeit belastet, so ist es gewiß nicht der: „im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen“, sondern der: „mit allen Qualen deines Gewissens sollst du die Wahrheit erstreiten.“ Denn leicht empfänglich für den Glauben ist das Gemüth des Menschen und leicht wird er ihm zu einem kostbaren Schatze, den er sorgsam hegt und pflegt in tiefster Brust; kaum hat er da aber Wurzel gefaßt, naht schon sein unerbittlicher Feind, das Wissen, und nicht hilft alles Sträuben, der kostbare Schatz wird geraubt, ausgegraben mit der Wurzel – um neuem Glauben Platz zu machen, dem einst wieder dasselbe Schicksal droht. Wann wird die Menschheit zu glauben aufhören – wahrscheinlich nie, gleichwie ihr Wissensdrang nie gestillt werden wird. Oder ist das am Ende kein Fluch – ist das vielleicht ein ewig sprudelnder Segensborn? – Möglich, denn in diesem ewigen
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Kampfe zwischen Glauben und Wissen halten Genuß und Qualen sich das Gleichgewicht und der Verzweiflung des Gläubigen steht immer das Glück der Erkenntnis gegenüber.
Die Wechselfälle dieses Kampfes sind immer dieselben. Die Ketzerei von heute wird die Wahrheit von morgen; der Glaube von gestern weicht der Erkenntnis von heute. So geht es fort und fort. Kopernikus’ Lehre wird als ketzerisch verdammt; die ganze Menschheit bekennt sich zu ihr heute. Wie lange ist's her, daß die Männer der Gottesgelahrtheit die bloße Nennung des Namens Darwins als eine Schmähung des Glaubens und der Kirche ansahen? Vor nicht lange verließ tiefbeleidigt ein Bischof eine Aula, als ein Rektor in seiner Inaugurationsvorlesung über Darwin sprach; begreiflich, da die Deszendenztheorie von heute den Schöpfungsglauben von gestern unterwühlt. Und doch kaum sind wenige Dezennien in die Lande gegangen und der Glaube von gestern beginnt der Erkenntnis von heute zu weichen. Vor uns liegt das Buch eines englischen Reverend in deutscher Uebersetzung eines Berliner Theologieprofessors, [1] das offenbar seinen Frieden mit Darwin zu schließen bereit ist und als Friedensbedingung einen so bescheidenen Preis fordert, daß kein Darwinist Anstand nehmen wird, in den Handel einzuschlagen. Hören wir, was die Männer der Gottesgelahrtheit von uns verlangen.
„Es fehlt uns die Kenntnis der Grundprinzipien, der der vor unsern Augen verlaufenden Evolution zu Grunde liegen,“ sagt Kidd (S. 5) und versucht es, uns diese Prinzipien klar zu machen. Er will uns „die Gesetze definiren, welche dem Fortschritt der Gesellschaft seinen Kurs bestimmt haben und fernerhin bestimmen“ (S. 17). Als oberstes Gesetz sozialer Entwicklung nimmt er den „Fortschritt“ an, die Bedingungen aber desselben sind Selektion und Ausscheidung des minder Tüchtigen. „Wo Fortschritt ist, sagt er, da ist unausbleiblich Selektion und die Selektion muß ihrerseits nirgend welche Konkurrenz in sich schließen“ (S. 33). Diese Konkurrenz tritt in der Geschichte der Menschheit als „Rivalität der Rassen“ zu Tage. [2]
„All das, der oben berührte Kampf der Rassen, die Ueberwältigung der Schwachen, die, auch wenn sie still und leichter vor sich geht, doch nicht weniger wirksam ist, die Unterwerfung oder auch die langsame Ausrottung der tieferstehenden Rasse füllt nicht ein Blatt aus der Geschichte der Vergangenheit oder weit zurückliegenden Zeiten. Das alles spielt sich heutzutage ab vor unseren Augen in verschiedenen Welttheilen und in ganz besonders charakteristischer Weise in der Sphäre der blühenden angelsächsischen Zivilisation, auf die wir so stolz sind und die für viele von uns mit allen den herrlichen Freiheits-, Religions-
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und Staatsidealen, die sich in unserer Rasse entwickelt haben, verknüpft ist“ (S. 48).
Zwischen diesen Idealen nun und dem thatsächlichen Kampf der Rassen, wobei die Schwächeren unvermeidlich ausgerottet werden, ergibt sich ein krasser Widerspruch. Wie ist dieser Widerspruch zu lösen? Der Verfasser wälzt die Schuld an demselben auf ein unerbittliches Gesetz, welches die soziale Evolution beherrscht. Dieses Gesetz entspricht nämlich keineswegs den Forderungen menschlicher Vernunft. Die Bedingungen, unter denen allein sich der Fortschritt der Menschheit vollzieht, lassen sich „aus der menschlichen Vernunft weder begründen, noch durch dieselbe sanktioniren“ (S. 73). „Die Thatsache von zentraler Bedeutung, die uns in unserem heutigen kulturellen Gemeinwesen begegnet ist die, daß die Interessen des sozialen Organismus und die seiner jeweiligen Individuen sich jeder Zeit wie die ärgsten Feinde gegenüberstehen“ (S. 73). Diesen absoluten Widerspruch, diese Thatsache, daß „die Interessen des sozialen Organismus und die Individuums einander ausschließen und einander Feind bleiben“ (S. 75) habe die rationalistische Wissenschaft bisher ganz übersehen. Die menschliche Vernunft kann diesen Widerspruch nicht aufheben, denselben zu mildern war immer die Funktion der Religion. Zu diesem Zwecke nimmt die Religion immer ein übersinnliches Element zu Hilfe, daher jede Religion „eine überhalb der Vernunft liegende Normirung des sozialen Verhaltens für das Individuum gibt“ (S. 95). „Eine ;vernünftige’ Religion ist ein wissenschaftliches Unding,“ daher alle dahin zielenden rationalistischen Bestrebungen scheitern müssen. Andererseits liegt gerade in der Gesammtheit der ethischen Gefühle, deren Ausdruck die Religion ist, die mächtigste Triebfeder all und jedes sozialen Fortschrittes. Darin liege die Bedeutung des Christenthums; es bezeichnet eine Etappe auf dem Wege der sozialen Evolution der Menschheit. „Der Höhepunkt, dem dieser Prozeß entgegenstrebt, ist ein Zustand der Gesellschaft, in welchem die ganze Masse des ausgeschlossenen Volkes endlich in die Rivalität des Daseins auf der Basis gleichen Rechtes und gleicher Gelegenheit hereingezogen sein wird" (S. 131). Denn nicht „die Rivalität des Lebens aufzuheben, sondern sie vielmehr auf die höchste Stufe der Kraft als eine Ursache des Fortschrittes zu heben" sei das Ziel der sozialen Evolution (S. 133). Dem entsprechend habe auc halle moderne Gesetzgebung die Aufgabe, einen Gesellschaftszustand herbeizuführen, „in welchem jedes Individuum ohne Nachtheil von seiten der Geburt, der Privilegien oder seiner Stellung, offen und ehrlich in diese Rivalität eintreten und eine möglichst volle Entfaltung seiner Eigenpersönlichkeit erreichen kann“ (S. 147). Einem solchem Zustande entgegen bewegt sich unsere „westliche Zivilisation“, deren „treibende Kraft nur in den altruistischen Gefühlen" liegt, "mit denen unsere Gesellschaften des Westens ausgerüstet sind“ (S. 154). Diese Gefühle aber sind das „charakteristische und entscheidende Produkt des religiösen Systems, auf dem unsere Zivilisation ruht“ (S. 154). Nicht dem intellektuellen Fortschritte, sondern „jener ethischen Bewegung, auf welche unsere Zivilisation sich gründet“ (S. 156), fiel die Sklaverei zum
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Opfer. Auch während der französischen Revolution „gewann das Volk seine Sache nicht auf den Straßen, sondern in den Herzen“ der herrschenden Klassen. (?) „Die Humanitätsgefühle, die sich reichlich angesammelt hatten, waren fertig mit ihrem Werk; sie hatten die Fundamente des alten Systems untergraben (S. 160). Dieser Prozeß spielt sich überall ab, doch nicht überall mittelst revolutionärer Katastrophen. Das Wesen aber dieses Prozesses „ist einfach die Geschichte einer fortgesetzten Reihe von Konzessionen, verlangt und genommen von der Partei, die unzweifelhaft und naturgemäß durch ihre Stellung die schwächere der beiden ist. Die Konzessionen wurden ihr gegeben von der herrschenden Partei, die ebenso unverkennbar die stärkere ist“ (S. 163). Diese ganze Entwicklung erklärt der Verfasser damit, daß „das Gemüth des Volkes so unduldsam gegen den Anblick von Leiden und Unrecht jeder Art geworden ist, daß, jemehr die Lebensverhältnisse der ausgeschlossenen Volksmassen Schrittweise ans Licht und zur Sprache kommen, dieses Gefühl der Unduldsamkeit desto stärker wird, bis es endlich seinen Ausdruck in dem Ganzen von Ansichten und Empfindungen findet, welches hinter allen großen sozialen und politischen Reformen unserer Zeit steht“ (S. 165). Den Schlüssel zum Räthsel der großen sozialen und politischen Bewegungen unserer Zeit sieht der Verfasser in der „Veredlung des Charakters, in der Vertiefung und Kräftigung der altruistischen Gefühle", "die unter den Völkern des Westens stattgefunden hat“ (S. 169). Dieser optimistischen Ansicht des Verfassers macht nur das Verhältnis der „Völker des Westens“ zu den verschiedenen außereuropäischen Rassen und Naturvölkern einen kleinen Strich durch die Rechnung, ein Verhältnis, welches mit allmäliger Ausrottung jener Rassen endigt und wo das nicht der Fall ist, dem thischen Grundsatze der Gleichheit der Menschen sehr wenig entspricht. Er tröstet sich damit, daß doch Wettstreit und Selektion innerhalb des Menschengeschlechtes nie schwinden können und daß "die Sieger im Wettstreit diejenigen Rassen bleiben, bei denen der religiöse Thypus, welcher in unserer „Zivilisation des Westens“ am prägnantesten zum Ausdruck gelangte, am vollsten entwickelt ist" (S. 261). Nachdem seiner Ansicht nach den Vökern des Westens die angelsächsische Rasse diesen Thypus am vollkommensten repräsentirt, so ist damit die Weltherrschaft dieser Rasse erklärt und gerechtfertigt.
So weit hätten wir es also mit den Herren Theologen schon gebracht, daß sie uns die „soziale Evolution“, die sich nach einem obersten Gesetze mittelst Kampfes ums Dasein (Konkurrenz, Rivalität) und Selektion abspielt, zugestehen. Das bischen Religion, das sie dagegen verlangen, das können wir ihnen sehr wohl konzediren. Ihr Räsonement ist ja gar nicht so unbegründet, wie es scheinen könnte. Sie sagen: „Ja wohl, alles entwickelt sich nach einem obersten Naturgesetz, warum sollte man gerade in Bezug auf die Religion eine Ausnahme statuiren wollen? Hat die sich denn nicht naturgemäß entwickelt? Wo alle sich naturgemäß entwickelt, soll gerade die Religion etwa durch schlaue Pfaffen willkürlich geschaffen worden sein?“ Da haben sie nun ganz Recht, die Herren Theologen. Es wäre inkonsequent, es wäre
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frivol, nicht anerkennen zu wollen, daß die Religion ebenso ein naturnothwendiges, soziales Entwicklungsprodukt ist, wie die Sprache, der Staat, das Recht, die Sitte. Daß wir also von unserem naturwissenschaftlichen Standpunkt der Religion dieselbe wissenschaftliche Beobachtung entgegenbringen müssen wie jedem sozialen Entwicklungsprodukt, ist klar. Die Sache hat aber doch einen kleinen Haken, über den wir mit den Herren Theologen noch ins Reine zu kommen haben. Gewiß, die Religion beruht auf der Gottesidee und diese ist eine unvermeidliche, naturnothwendige Erscheinung an dem menschlichen Geiste. Wenn ein Erdbeben eintritt, so fallen die Leute auf die Knie und bitten einen Gott über den Wolken, daß er sich ihrer erbarme; das ist eine solche unwillkürliche Reflexbewegung, wie das Schließen des Augenlides vor grellem Lichte. Und da die Idee eines Gottes unvermeidlich das Bedürfnis seiner Anbetung zur Folge hat: so muß immer und überall Religion entstehen, und nicht die „schlauen Pfaffen“ haben diesen „Betrug“ erfunden, sondern das natürliche, nicht wegzuleugnende religiöse Bedürfnis hat die „Pfaffen“ geschaffen. Daher sind auch sie ein natürliches, soziales Entwicklungsprodukt Bis dahin also geben wir dem darwinischen Theologen Recht: aber nicht weiter.
Wenn Gottesidee und Religion ein Entwicklungsprodukt sind, so sind sie doch nur ein jeweiliges Entwicklungsprodukt, d. h. sie bleiben in ihrer Entwicklung nicht stehen. Die Taktik der Darwinschen Theologen also, Gott und Religion aus den Händen des Darwinismus zu empfangen, diesen Empfang dankbar zu quittiren nun aber diese beiden Entwicklungsprodukte als unantastbare, in ihrer gegebenen Form unabänderliche Noli-me-tangere-Güter hinzustellen, diese Taktik ist sehr schlau.
Aber die Entwicklung bleibt ja nicht stehen - sie geht weiter und mit ihr – Gott und die Religion. Es ist wahr und soll unbestritten bleiben, daß die soziale Entwicklung ein Mechanismus ist, der einerseits den Menschen Wunden schlägt und andererseits ganz automatisch einen lindernden Balsam in dieselben träufelt. Das ist eine wunderbare Einrichtung, welche schon in dem Sprichwort konstatirt ist: "Wenn die Noth am höchsten, ist Gott am nächsten". Aber da derselbe Mechanismus auch ein immer vernünftigeres Menschenmaterials zu Tage fördert, auf dessen Wunden der alte Balsam keine Wirkung mehr hätte, so erzeugt er auch gleichzeitig immer frischen und feineren Balsam, der wirksamer ist. Der vernünftige Mensch braucht einen anderen Gott und eine andere Religion als der unvernünftige; der Kulturmensch eine andere als der Barbar. Nun bewirkt der automatische Mechanismus der sozialen Entwicklung von selbst diese gegenseitige Anpassung Gottes und der Religion an die jedesmalige Stufe der intellektuellen Entwicklung. Da aber auch in jedem gegebenen Momente der Aufriß der Gesellschaft ontogenetisch die phylogenetische Entwicklung abspiegelnd, alle durchlaufenen Kulturstufen der Menschheit und die ganze intellektuelle Stufenleiter von der Wildheit und Barbarei bis zum höchsten Intellektualismus darstellt: so folgt daraus, daß auch in jedem gegebenen Momente Gott in allen seinen gestalten, in
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seiner ganzen Entwicklung vom Fetisch bis zur Idee in der Menschheit gegenwärtig ist und ebenso sein Kultus, die Religion.
Wir wollen also den Theologen ihren Gott und ihre Religion als unter den jeweiligen Umständen in der entsprechenden Form berechtigt gelten und in Ruhe lassen: dagegen aber verlangen wir, daß sie uns unseren Gott, den Gott der Evolutionisten auch in Ruhe lassen und nicht verunglimpfen. Sie dürfen uns nicht „Atheisten“ schimpfen; denn wir haben auch einen Gott. Allerdings thront er nicht über den Wolken: er ist die Wahrheit und das reine Gewissen. Er leistet uns ganz dieselben Dienste wie jeder andere Gott seinen Gläubigen, ja, er hat vor allen anderen noch gewisse große Vorzüge.
Denn erstens verkehren wir mit ihm unmittelbar und brauchen nicht erst die Herren Theologen um ihre Vermittlerdienste anzugehen; wir brauchen keinen Tempel um ihn anzubeten, wir bauen ihm keine „Friedenskirchen“ mit erbeutetem Gelde, an denen Menschenblut klebt, und er verlangt von uns keine Altaropfer; allerdings opfern wir ihm – all den weltlichen Tand, den andere hochschätzen .Zweitens aber hat er den Vorzug, daß wir ihn nicht zu fürchten brauchen. Ja, den Gott, den wir im Herzen haben, den fürchten wir nicht; denn er ist das reine Gewissen. Die anderen, wenn sie auch noch so mächtig sind, die leben in steter Furcht, sie „fürchten“ ihren Gott - das ist begreiflich, weil sie kein reines Gewissen haben. Daher entringt sich ihren Lippen unaufhörlich und unwillkürlich nur der eine Angstruf: „Gottesfurcht, Gottesfurcht!“ weil ihr unreines Gewissen ihnen sagt, daß sie Grund haben, Gott zu fürchten. Diese Furcht verfolgt sie immer und überall; „wir fürchten Niemanden außer Gott“, rufen sie in ihrer Gewissensangst, denn sie wissen, was sie begangen haben, sie wissen, daß sie Gottes Gebote übertreten, daß sie geraubt und gemordet haben.
Wir aber, die wir von ihnen Atheisten geschimpft werden, wir preisen still in tiefster Seele, aber fürchten ihn nicht, denn er ist mit uns, er ist mit uns, er ist in uns. Er tröstet uns in Noth und Kummer, er ist mit uns in der Einsamkeit der Kerkerzelle und schafft sie uns zum Paradies um, während jene in ihren Prunkgemächern von ihm geängstigt werden und in ihrer Seelenangst ihn immer im Munde führen - mit lauten Worten ihn anrufen, denen weder Gesinnungen noch Thaten entsprechen. [3] Sie glauben, mit diesen lauten, angeblich „gottesfürchtigen“ Worten die Welt zu täuschen; sie täuschen Niemanden, nur sich selbst. Denn die Welt glaubt ihren Worten nicht und sieht sie als das an, was sie sind - als Gotteslästerung.
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Fürwahr, schlimmere Gotteslästerung als sie, die in einem Athem Gott anrufen und ihn verleugnen, haben die schlimmsten Heiden nie begangen. Denn Gott ist die Wahrheit und Menschenliebe. Sie aber rufen Gott an zu weltlichen Zwecken, zu Machtzwecken, damit er ihnen helfe Menschen zu unterdrücken, Menschen zu berauben, Menschen zu morden. In einem Athem rufen sie Gott an und fordern Menschen auf, auf ihre Brüder und Väter zu schießen. Wenn das nicht Gotteslästerung ist, so ist es Wahnwitz. Sie mögen Gott aus dem Spiele lassen, wenn sie das heiligste Gebot Gottes „Du sollst nicht morden“ verletzen wollen! - Und sie versichern uns, daß sie an Gott „glauben“, ja, das wollen sie uns "glauben" machen. Das eben ist der Unterschied zwischen uns und jenen Heuchlern, die da ewig wiederholen, daß sie an Gott „glauben“. Die intellektuelle Entwicklung der Menschheit ist heute so weit gediehen, daß, wer auf ihrer Höhe steht, an Gott nicht zu "glauben" braucht; er braucht nur Gott im Herzen zu haben. Sie aber, die ihn nicht im Herzen haben, sondern auf den Lippen, sie heucheln einen „Glauben“, der der gebildeten Menschheit längst entschwunden ist. Der Mechanismus der sozialen Entwicklung hat jenem Gott, der im Himmel wohnte und in Tempeln verehrt wurde, längst einen anderen substituirt, an dem man nicht zu "glauben" braucht, sondern den man in Gesinnung und Thaten bekennen soll. Sie aber, diese Heuchler, die Gott „fürchten“, weil sie durch ihre Gesinnung und ihre Thaten ihn lästern, sie wollen der Welt weiß machen, daß sie an einen Gott „glauben“. Das glaubt ihnen Niemand, weil der Gott des 19. Jahrhunderts für einen Kulturmenschen nicht Gegenstand eines "Glaubens" sein kann. Der Kulturmensch hat nur die Alternative: durch Gesinnung und Thaten Gott zu bekennen, also Wahrheit und Menschenliebe zu üben oder: Gott zu verleugnen; letzteres aber thun die, die sich auf den Glauben ausreden, weil sie thatsächlich gottlos sind und nur „Glauben“ heucheln.
Gerade derjenige, der Gottes voll ist, der Gott bekennt und verehrt durch Wahrheit und Menschenliebe, der kann heute dreist sagen: ich glaube nicht an Gott. Er braucht an ihn nicht zu glauben, denn er trägt es in sich das stolze Gottbewußtsein, das Bewußtsein, nur Wahrheit zu bekennen und das Schlechte zu verabscheuen. Diejenigen aber, die darüber entrüstet thun und rufen: seht, das ist ein Atheist, er "glaubt" nicht an Gott, das sind die Pharisäer des 19. Jahrhunderts. Denn, im Zeitalter Darwins ist der geglaubte Gott ein längst überwundener Standpunkt. Für den auf der Höhe unserer intellektuellen Entwicklung stehenden Kulturmenschen gibt es nur mehr den Gott, dessen er sich in voller Vernunft bewußt ist, den er als Wahrheit bekennen, als Nächstenliebe üben kann. Der aber verlangt keine Scheinheiligkeit, keine Heuchelei, der verlangt keinen Glauben - und am wenigsten „Furcht“ – mit der sie neuestens an der Spree so from thun.
1Benjamin Kidd: „Soziale Evolution“. Aus dem Englischen übersetzt von F. Pfleiderer. Jena 1895. Gustav Fischer.
2Der Verfasser zitirt ausschließlich englische Werke, scheint wie so viele Engländer die deutsche Literatur gar nicht zu kennen; es möge mir gestattet sein, hier zu bemerken, daß obiger Gedanke des Verfassers den Grundgedanken meines Buches "Der Rassenkampf" (1883) bildet, den ich in der kleinen Schrift "Die soziologische Staatsidee" (Graz 1892) kurz resumirte.
3Ein preußischer Staatsanwalt ließ vor nicht lange in geschickter Weise in den Anklageakt gegen einen jungen, wegen „Aufreizung“ angeklagten Enthusiasten die an und für sich nicht strafbaren Worte des Letzteren einfließen: „Ich glaube nicht an Gott“. Damit wollte er offenbar den Richtern einen Wink mit dem Zaunpfahl geben, daß sie es mit einem „Atheisten“ zu thun haben. Und doch hatte der Angeklagte, indem er sich in uneigennütziger Weise hungernder Arbeitsloser annahm, bewiesen, daß er mehr Gott im Herzen habe, als alle die Berlin der Mucker und „gottesfürchtigen“ Hammerstein-Genossen.