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„Es gibt Wissenschaften, denen
ewige Jugendlichkeit beschieden ist |
und das sind alle historischen Disziplinen, alle
die,
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denen der ewig fortschreitende Fluss der Kultur stets
neue Problemstellungen zuführt.
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Bei Unvermeidlichkeit immer neuer idealtypischer
Konstruktionen
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im Wesen der Aufgabe.“
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Max Weber |
Im Sinne der nachfolgend zu behandelnden Problematik der
Erkenntnisgewissheit (s. Kapitel „Wissen“ und „Wissenschaft“) stellen die
Nicht-Naturwissenschaften in der Neuzeit insoferne ein Problem dar, als seitens der
Theoretiker für die empirisch betriebenen Naturwissenschaften der Anspruch erhoben und
gemeinhin auch durchgesetzt wurde, dass die empirisch betriebenen Naturwissenschaften
„gewisse“, d.h. gesicherte Erkenntnis gewönnen, die am ehesten dem
platonisch-aristotelischen Ideal von wahrer Erkenntnis entspräche (diese Vorstellung
wurde gestützt durch die seit dem 15. Jh in Gang gekommene Mathematisierung der
Naturwissenschaften), während die nicht in höherem Maße empirisch gestützten
Wissenschaftsbereiche diesem Anspruch nicht gerecht zu werden vermochten, weshalb ihnen
auch der Charakter einer Wissenschaft in strengeren Sinne nicht zugestanden worden ist.
Dies ist geschehen, obgleich bereits in der spätscholastischen Naturphilosophie die
absolute necessitas, das gesetztmäßige Folgen einer
Erscheinung aus einer anderen als nicht gesichert erkannt worden ist, wenn Buridan
zur Auffassung gelangte, dass die Gewissheit wissenschaftlicher Erkenntnis eine
graduelle Abstufung aufweisen könne.
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Als in der Renaissance durch die studia
humanitatis die Befassung mit der Historie, die nicht zu den septem artes
gezählt hatte, einsetzte, bestimmte die auf Kernaussagen bei Platon
und bei Aristoteles zurückgreifende und weitere, flankierende Erörterungen dieses
Themas nicht berücksichtigende und deshalb überzogen rigide Interpretation
der Auffassung von scientia bei Aristoteles, die hinter das von Aristoteles als erreichbar Eingestufte
zurückging, eine wissenschaftstheoretische Diskussion aus, inwieferne, die Befassung mit
der Historie überhaupt verlässliche und damit nutzbringende Erkenntnis liefern könne, da
sie sich nicht empirisch betreiben lasse, und außerdem hinsichtlich ihres
Objektbereiches nicht klar definiert sei. Uno actu damit wurde die mittlerweile obsolete
Auffassung von einer perfekten Gewissheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis – more geometrico – ausgebaut. Dieser Prozess ist
signifikant und konstituierend für den Bereich, den man später unter dem Begriff
„Geisteswissenschaften“ zusammengefasst hat.
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Als Konsequenz dieser Entwicklung ergab es sich, dass die Begriffe „philosophia“ und „scientia“ nicht auf die Historia angewandt wurden, sondern lediglich auf die
Befassung mit den sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen der Natur, die ja nach Ockham
als der alleinige, rational rechtfertigbare Einsatzbereich von Philosophie in einem
neuen Sinne, d.h. wissenschaftlicher Arbeit, waren. Eine Konsequenz dessen ist, dass der
englische Begriff „science“ ohne Zusatz immer noch
die „hard sciences“, d.h. die empirisch betriebenen
Naturwissenschaften bezeichnet, während die Geisteswissenschaften im Englischen zumeist
als „humanities“ bezeichnet werden, was in etwa den
studia humanitatis des 15. und 16. Jhs entspricht
und zum Ausdruck bringt, dass es hierbei nicht um Wissenschaften im eigentlich Sinne des
Wortes handle.
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Die Begriffe „Naturwissenschaften“ und „Geisteswissenschaften“ entstanden
erst im ausgehenden 17. Jh für die Naturwissenschaften und im ausgehenden 18. Jh bzw. im
19. Jh für die Geisteswissenschaften. Ihr Entstehen bezeugt die Intensivierung der
Auffassung von Systemen, von der methodischen und erkenntnistheoretischen
Zusammengehörigkeit von Disziplinen, die zuvor als Teilbereiche der Philosophie
eingestuft gewesen waren1.
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Die Begriffe, die Bezeichnungen der Disziplinen unterliegen als
Konventionen einerseits als zeitgebundene Interpretationsversuche selbstverständlich Veränderungen in der Zeit, beruhen
andererseits aber auch auf fundamentalen, in der klassischen griechischen Philosophie
grundgelegten strukturellen Vorgaben, die ihnen jene Konstanz verleihen, die sie nun
über Jahrtausende hinweg als Orientierungshilfen bewiesen haben und auf die immer wieder
zurückgegriffen wird.
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Es ist zwar bereits im 18. Jh erkannt worden und war damals
bereits „den vernünftigeren mathematici“ (so heißt es bei Zedler)
klar, dass man ihrer Natur entsprechend nicht für alle Erkenntnisbereiche das gleiche
Erkenntnisideal einfordern könne, doch ist symptomatisch dafür, wie problematisch die
Situation auch heute noch ist, die Feststellung der englischsprachigen
Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston2 aus dem Jahr 2001: „Das deutsche
Wort Wissenschaft stellt für jemanden, dessen Muttersprache Englisch ist (oder in
diesem Fall auch Französisch oder Italienisch), immer wieder eine Herausforderung dar.
Denn Wissenschaft umfasst im Deutschen sämtliche Arten des systematischen Wissens,
über alle möglichen Gegenstände, und kommt damit dem lateinischen scientia am nächsten
– wogegen die leichter erkennbaren Abkömmlinge von scientia in anderen europäischen
Sprachen – science (frz.), scienza, science (engl.) – ihr Bedeutungsfeld verengt
haben. Sie beziehen sich hauptsächlich, teilweise oder sogar ausschließlich auf die
Naturwissenschaften oder, wie in einem aktuellen französischen Wörterbuch nachzulesen
ist, auf ‚Corps de connaissance constituées, articulées par déduction logique et
susceptibles d’être vérifiées par l’expérience. Les mathemaématiques, la physique sont
des sciences’. In der angloamerikanischen Philosophie beschäftigt sich ein ganzer
Zweig der Wissenschaftstheorie mit der Festlegung und Verteidigung der Grenzen
zwischen den Naturwissenschaften und anderen Wissensgebieten (nicht nur Astrologie,
sondern beispielsweise auch Soziologie); das Stichwort dafür lautet: ‚Demarcation
Criterion’ – ‚Abgrenzungskriterium’. Man braucht in Oxford, Berkeley oder Paris nur
das Wort Geschichtswissenschaft in den Mund zu nehmen, um den Damen und Herren
Professoren ein skeptisches Lächeln zu entlocken, eine Mischung aus Erheiterung – über
die Leichtigkeit, mit den im Deutschen alle möglichen Zusammensetzungen gebildet
werden – und Verwirrung über die Fabelwesen, die sie daraus hervorwachsen sehen: eine
Chimäre mit Löwenhaupt und Schlangenschwanz und dazwischen etwas, was wie eine Ziege
aussieht.“ |
Diese Darstellung lässt erkennen, dass offenbar eine Jahrhunderte
andauernde Diskussion ebenso wieder in Vergessenheit geraten ist wie die große
Auseinandersetzung um die Geisteswissenschaften zu Ausgang des 19. Jhs.
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Den weiter oben erwähnten Gegebenheiten zufolge setzt die
Diskussion um die Geisteswissenschaften als solche viel später ein als die Diskussion um
eine Geschichtswissenschaft, da ja die Diskussion um die Geschichtswissenschaft
gewissermaßen ein die Geisteswissenschaften konstituierendes Element ist.
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Der Begriff Geisteswissenschaften steht in der Diskussion in der Regel für
die nicht-naturwissenschaftlichen Bereiche, deren Benennung je nach Auffassung sehr
unterschiedlich ist. Gängige Begriffe, die je nach System und Gewichtung teils
übergeordnet, teils untergeordnet verwendet werden, sind „Sozialwissenschaften“,
„Kulturwissenschaften“, „Gesellschaftswissenschaften“ u.ä.3 Im
Gefolge des noch darzustellenden Diskussionsprozesses um die Geschichtsbetrachtung war
die Geschichtswissenschaft etwa für Dilthey
und bis in das 20. Jh allgemein das Zentrum, der klassische Fall der
Geisteswissenschaften. Heute mag vielleicht unter dem Einfluss Poppers
als „unvollkommene“ Wissenschaft diese Position etwas abgewertet erscheinen, weil die
formalisierbaren Teile etwa der Sprachwissenschaft oder der Sozialwissenschaften dem
Ideal einer Erfahrungswissenschaft besser entsprechen, doch ändert dies nicht an der
ganz außerordentlichen Bedeutung der Historisierungsschübe, die seit der Renaissance die
Vorstellung von Erkenntnis und von Wissenschaft, von der Stellung des Menschen in der
Welt maßgeblichst beeinflusst haben.
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Die Diskussion um die nicht-naturwissenschaftliche Erkenntnis und
um das Problem der „weichen Wissenschaften“ hält – wie das Beispiel aus Ausführungen von
Lorraine Daston
zeigt – bis heute an. Sie hat viele wertvolle Bereicherungen erbracht und sie wird auch
künftig wird andauern, weil das Problem der Erkenntnisgewissheit als eine
Herausforderung an den menschlichen Geist bestehen bleibt und wohl auch in Zukunft keine
zufrieden stellende Lösung erfahren wird können.
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Die im Rahmen des erkenntnistheoretischen Klärungsprozesses geforderte und
mitunter geübte klare Scheidung zwischen den beiden Bereichen ist nicht mehr haltbar;
beide Großbereiche der Erfahrungswissenschaft haben selbstverständlich Anteil am jeweils
anderen Bereich, die Erkenntnisgewissheit der Naturwissenschaften ist mittlerweile
ebenso in Frage gestellt, und es geht eher um Gewichtungsfragen.
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Der Begriff Geisteswissenschaften taucht im Jahre 1787 erstmals
auf4. 1824 wird von den Natur- und den
Geisteswissenschaften gesprochen, und 1847 unterschied ein sonst unbekannter E.A.E.
Calinich
zwischen der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Methode. Dann
1849 – vermutlich unter dem Einfluss Hegels –
in einer deutschen Übersetzung der „Logik“ von John Stuart Mill für
„moral sciences“5. 1843 verwendete Droysen
bereits den Begriff, der allgemeiner benützt erst wird, als 1883 von Wilhelm Dilthey
dessen "Einleitung in die Geisteswissenschaften"
erscheint.
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Dilthey
war sich der Problematik und wegen des Wortteiles „Geist“ wenig eindeutigen Bezeichnung bewusst und hat ebenso wie dann auch
Heinrich Rickert
nach anderen Begriffen gesucht (Gesellschaftswissenschaften, moralische bzw.
geschichtliche Wissenschaften, Kulturwissenschaften), ist aber immer wieder zu den
Geisteswissenschaften zurückgekehrt, da dieses Wort bereits eingeführt sei – dass das
Wort so rasch aufgenommen worden war, lag daran, dass die ganze Problematik durch Hegel
vorbereitet worden war, der selbst von einer Wissenschaft des Geistes sprach.
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Dilthey formulierte: „die Natur Erklären wir, das Seelenleben verstehen wir“.
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Erklären wird
dabei als ein Vorgang verstanden, der sich gewissermaßen „von außen her“ und mit dem Anspruch oder Ziel des Zugrundeliegens
von Gesetzmäßigkeit vollzieht.
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Verstehen wird als Möglichkeit gesehen, gleichsam „von innen heraus“ die Handlung eines Individuums zu erfassen,
indem wir versuchen, ihrer dafür konstitutiven geistigen Tätigkeit zu folgen (Acham).
Dilthey definierte Verstehen als einen „Vorgang, in dem wir aus Zeichen, die von außen gegeben sind, Inneres
erkennen“.
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Die pluralistischen Deutungsmöglichkeiten eines Tatbestandes im
geisteswissenschaftlichen Betrachtungsbereich lassen keine apriorischen Kriterien zu,
denen gemäß wir an einem bestimmten Punkte sagen könnten, es läge nunmehr die eine,
alleinige und umfassende Erklärung einer
historischen Handlung oder eines historischen Geschehens vor.
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Ab 1900, vor allem jedoch nach 1945 setzte eine Parallelentwicklung ein,
einerseits einer klassisch-hermeneutischen Auffassung (im Sinne von
„Geisteswissenschaften“) und zum anderen einer analytisch-positivistischen Ausprägung;
diese Entwicklung, die von z.T. langwierigen und scharfen Auseinandersetzungen begleitet
war (und ist), findet in allen Teilbereichen der Geisteswissenschaften statt.
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Im Grunde genommen umfassen die Geisteswissenschaften im
allgemeinen Sinne die Nicht-Naturwissenschaften innerhalb der Erfahrungswissenschaften.
Theodor Bodammer
hat deshalb 1987 in seiner „Philosophie der
Geisteswissenschaften“ eine grundlegende Zweiteilung dahingehend getroffen, dass
er neben dem weiten Erich Rothacker’schen Umfang eine kleinere Gruppe definiert, nämlich jene
Disziplinen, die sich mit Bereichen beschäftigen, die im Sinne der Geisteswissenschaften
betrachtet werden können, aber nicht ausschließlich müssen – die zweite Gruppe umfasst
also Gebiete, die sowohl als Geisteswissenschaften als auch als empirische
Wissenschaften in einem engeren Sinne verstanden werden können.
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Zur Begriffsverwirrung hat wesentlich beigetragen, dass der Begriff
„Geisteswissenschaften“ durch seine zeitweilige politische Belastung als problematisch
erachtet wurde – die Geisteswissenschaften böten, so meinte man, dem deutschen Denken
Schutz vor der technisch-mechanistisch-positivistischen Denkweise der westlichen Welt,
wodurch die Geisteswissenschaften in den Geruch gerieten, Ausdruck völkischen Denkens
der Deutschen zu sein; dazu hat auch beigetragen, dass das Wort praktisch nicht
übersetzbar ist und in vielen Sprachen deshalb neben mehr oder weniger glücklichen
Übersetzungen6 der deutsche Ausdruck
verwendet wird.
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So wurde der Begriff nach 1945, zuerst in der marxistischen Wissenschaft,
dann auch anderweitig verschiedentlich durch „Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften“
ersetzt. In den 1980er Jahren ist der im ausgehenden 19. Jh in Überwindung der „Enge“
des Begriffes „Geisteswissenschaften“ geprägte Begriff „Kulturwissenschaft(en)“ wieder
entdeckt, ja geradezu zum Programm erhoben, auch die Umschreibung mit „Wissenschaft vom
Menschen“ verwendet und schließlich der Terminus „Humanwissenschaften“ angewendet
worden7, welch letzterer zurückgreift auf die studia humanitatis in einem weiteren Sinne, wobei unter dem Aspekt
der Bedingtheiten vor allem auch Felder angesprochen werden, die über die
Geisteswissenschaften in einem früheren Sinne hinausgehen, indem sie Psychologie,
Physiologie und überhaupt biologische Aspekte einbeziehen.
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Kernaussage des Begriffs „Geisteswissenschaften“ ist, dass sich
diese Wissenschaftsbereiche mit der geistigen Tätigkeit des Menschen und ihren
Bedingtheiten wie Konsequenzen befassen und deshalb wesentlich anderen Bedingtheiten
unterliegen als jene Wissenschaftsbereiche, die sich mit außerhalb des Menschen, quasi
objektiv gegebenen Erscheinungen befassen, die ebenfalls nicht unabhängig vom
reflektierenden menschlichen Bewusstsein sind.
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Einige bekannte Zitate zum Thema Geschichte: |
Paul Valéry: "Les plus dangereux produit que la
chimie de l'intellect ait pu élaborer"
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Johann Wolfgang von Goethe:
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– |
"Geschichte
schreiben ist eine
Art, sich das Vergangene
vom Halse zu schaffen: Wir alle leben vom Vergangenen und
gehen am Vergangenen
zugrunde. Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen
dürfte, es gibt nur ein
ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des
Vergangenen gestaltet,
und die echte Sehnsucht muss stets produktiv sein, ein
neues Besseres
erschaffen."
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– |
"Man erblickt nur etwas, was man
schon weiß und versteht."
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– |
"Über Geschichte kann niemand
urteilen als wer an sich selbst Geschichte erlebt hat. Im Innersten interessiert
mich eigentlich nur das Individuelle in seiner schärfsten Bestimmung."
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– |
"Das Wahre kann bloß durch seine
Geschichte erhoben und erhalten, das Falsche bloß durch seine Geschichte
erniedrigt und zerstreut werden."
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– |
"Jeder Zustand, ja jeder
Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen
Ewigkeit."
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– |
"Wer
nicht von dreitausend Jahren
/ Sich weiß Rechenschaft
zu geben, / Bleibt im Dunkel unerfahren / Mag von Tag zu
Tag leben!"
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Jakob Burckhardt: „Geschichte macht nicht klug für
ein andermal, sondern weise für immer.“ |
– |
Thema der Geschichte sei der duldende, strebende und handelnde
Mensch, „wie er ist und immer war und immer sein
wird“.
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Jan Huizinga begreift Historie im weiteren Sinne als die Weise, in welcher der
Mensch die Welt in und durch Vergangenheit begreift und formuliert: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre
Vergangenheit Rechenschaft ablegt“.
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Alfred Heuß
spricht von der Geschichte als kollektiver Erinnerung, als Tradition, die den Menschen
lange schon vor jeder Reflexion auf Geschichte umfangen hat und aus der heraus er
lebt.
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Hans Georg Gadamer spricht von der Immanenz der Geschichte im Leben; davon ausgehend
schreibt Faber
eindrucksvoll: „[Es gibt] keine Handlung ohne den stillschweigenden Rekurs auf vergangenes, aber
erinnertes Geschehen, keine Entscheidung, die nicht durch frühere Entscheidungen und
durch das durch diese Geschaffene determiniert ist.“ 8 |
Philippe Aries: Die Geschichte entstehe aus Beziehungen zwischen zwei
unterschiedlichen Strukturen in der Zeit und im Raum, die der Historiker
wahrnimmt.
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Roger Chartier: „Geschichte ist die Beschreibung
des Individuellen mit Hilfe von Universalien“.
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Der Engländer Alfred
Stern meint 1962 in seiner „Geschichtsphilosophie“:
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„Die geschichtlichen Situationen
und die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten der Menschen ändern sich. Was
sich im Laufe der Geschichte nicht ändert, ist die Tatsache, dass der Mensch ein
seines Daseins bewusstes Wesen ist, dass er in der Welt lebt, dass er handeln muss,
um sich im Dasein zu erhalten, dass er liebt und hasst, sich fortpflanzt, krank
wird, leidet, dem Leiden zu entrinnen sucht, dass er weiß, er müsse sterben, dass er
den Tod fürchtet und ihn schließlich erleidet. Ich erblicke in dieser menschlichen
Daseinsbedingung die einzige Konstante in der Geschichte.“
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Jean Gebser: |
„Geschichte
ist nicht
nur Folge und Ziel,
sondern sie ist Existenz und Essenz und als solche von steter
substanzieller
Gegenwärtigkeit“.
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Die Befassung mit „Geschichte“ – die Geschichtswissenschaft –
ist keine zeitlose Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern selbst ein
historisches Phänomen; ein historisches Phänomen nicht nur in dem Sinne, dass die
Geschichtswissenschaft selbst ihre Geschichte hat, sondern zusätzlich dadurch, dass
sie selbst in ihrer Auseinandersetzung mit einer bestimmten Ebene der Vergangenheit
durch die seit dieser "nachgewachsenen" Vergangenheit mitbestimmt ist. Jede
historische Erkenntnis ist ihrer Entstehungszeit verpflichtet und wandelt sich im
Laufe der Zeit – die Prozesshaftigkeit historischer Erkenntnis ist eines ihrer
wesentlichsten Elemente.
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Das deutsche Wort „Geschichte“, das sich von „geschehen“ ableitet, ist
das Gegenstück zum griechischen „historiai“ bzw. lateinischen „historia“, die
ursprünglich „Erkundung“ bedeuteten und damit einen anderen Wortinhalt im Blick haben
als der deutsche Ausdruck. Historiai (und auch historia) wirft die Frage nach dem
Ganzen, nach der umgebenden Natur und ihren Erscheinungen auf. Eine erste Einengung
auf den uns vertrauten Inhalt erfolgte durch Herodot. Thukydides meidet das Wort, dessen Inhalt in der Folge sich auf das Ergebnis
der Erkundung – Historiographie – verlagert. Gleichwohl behielt es die alte weitere
Bedeutung noch lange bei – etwa bei Aristoteles.
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Im Lateinischen bedeutet das Wort ursprünglich eine tiefere, die inneren
Zusammenhänge erfassende Darstellung jeglichen Bereiches (daher auch der Titel naturalis historia bei Plinius d.
Ä., der in der Renaissance Probleme aufwerfen sollte), es hat aber auch den
Sinn von Geschichte.
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Etwas schwierig ist die Lage hinsichtlich der Bibel, in der man sowohl im
Alte Testament als auch im Neuen Testament einen adäquaten Begriff vermisst, obgleich
gerade durch das Judentum die eschatologische Geschichtsbetrachtung begründet worden
ist. Die Theologie übernimmt den Historia-Begriff aus der antiken Wissenschaft.
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Das deutsche Wort kommt im 8./9. Jh auf und bezeichnete ursprünglich das
zufällig sich Ereignende, erst später auch Ereigniszusammenhänge, im Humanismus sind
die Begriffe „Geschichte“ und „Historia“ inhaltsgleich.
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Schon aus dieser kurzen Zusammenfassung geht hervor, dass das
Wort „Geschichte“ mehrdeutig und unser Sprachgebrauch demzufolge unpräzise ist.
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Unter „Geschichte“ kann nun verstanden werden: |
a) |
im objektiven Wortsinne: das Geschehen, die Ereignisse (facta) an sich. Eine unabdingbare Prämisse für die
Auseinandersetzung mit dem Geschehen ist die Annahme der Kausalität. Ob es eine, ob
es überhaupt Geschichte gibt, ist nicht feststellbar. Es gibt Geschehen, Ereignisse,
die wir als kausal ausgelöst interpretieren und denen wir kausale Folgen,
Konsequenzen zumessen (!) und die somit Ereignisketten bilden, denen wir
Sinnhaftigkeit zuerkennen.
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b) |
im subjektiven Wortsinne: das Wahrnehmen, die Betrachtung, die
Wertung, die Interpretation der Ereignisse durch den Menschen, der damit "historisches
Bewusstsein" beweist und sich mit dem Geschehen (der Geschichte) auseinandersetzt –
„Geschichtsforschung“.
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c) |
als usueller Inhalt: das Produkt der Beschäftigung mit Geschichte
– „Geschichtsschreibung“.
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Sprechen wir von „der“ Geschichte schlechthin, so ist damit,
wie bereits angedeutet, eine Einschränkung verbunden, die durch die Historie
(Geschichtswissenschaft) vorgenommen wird, indem sie sich nur auf den Menschen, auf
die Erforschung der sozial relevanten Erfahrungen und Ziele sowie der dadurch
gelenkten Handlungen von Individuen und Gruppen in der Vergangenheit beschränkt; im
Sinne einer sozialwissenschaftlichen Definition (Acham)
beschreibt und erklärt sie dabei die Determinanten ihrer natürlichen und sozialen
Umwelt, welche jeweils durch die Handlungen der vorhergehenden Generationen mitgeformt
sind9.
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Geschichte im Sinne des Forschungs-, des Erkenntnisprozesses der
Geschichtsforschung = Darstellung und Interpretation des Geschehenen ist der Versuch, unter den eben erwähnten
Aspekten eine Rekonstruktion dessen zu erstellen bzw. die den Handlungen in der
Vergangenheit zugrundeliegenden Intentionen und deren Auswirkungen innerhalb des
gesamten Systems zu ermitteln, das wir vorläufig einmal als „Wirklichkeit“ bezeichnen
wollen.
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Geschichte im Sinne der Darstellung von Ereignissen, d.h. als Bezeichnung
für das Produkt der Geschichtsschreibung ist ebenfalls problembeladen: Welche
Möglichkeiten, welche Aufgaben hat die Geschichtsforschung? Geschichte ist keine
normative Wissenschaft, so kann ihr Produkt wohl auch nicht wertsetzend sein; es soll
also wertfrei sein. Nun gibt es aber, wie bereits angedeutet, in der Geschichte keine
wirklich objektive Erkenntnismöglichkeit, da jeder Historiker ihn prägende und von ihm
nicht abstreifbare und zwangsläufig Werte transportierende Spezifica in den
Erkenntnisprozess, der ja nur Wahrscheinlichkeiten feststellen kann, miteinbringt.
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Es ist jedenfalls darauf zu achten, die unterschiedlichen
Wortinhalte in eindeutiger Weise zu transportieren.
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Sehr vereinfachend kann formuliert werden: Geschichte ist der zeitliche
Ablauf des die sogenannte Wirklichkeit ausmachenden Geschehens in der Welt sowie die
Erkundung, Interpretation und Darstellung dieses Geschehens.
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Sie hat eine zweifache Aufgabe: |
a) |
als Philosophie des historischen
Geschehens wäre sie als Theorie der historischen Entwicklung zu sehen = Frage
nach Ursache (besser: nach den bestimmenden Faktoren; wir fragen nur nach sekundären
Ursachen) und Ziel (= Sinn) des historischen Prozesses, die engstens verknüpft ist
mit der Frage nach historischen Gesetzmäßigkeiten (= Gesetz). Radikal formulierte
Hegel, die Philosophie der Geschichte sei nichts Anderes als die denkende
Betrachtung derselben.
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b) |
als Philosophie der historischen
Forschung ist sie Theorie der Geschichtswissenschaft = Lehre von den
Prinzipien des historischen Erkennens. Hierher zählt auch die analytische
Geschichtsphilosophie, der es um eine Methodologie der Rechtfertigung (nicht der
Entdeckung!) historischer Aussagen geht; sie ist also eine Geschichtslogik und
beschäftigt sich vor allem mit nachstehenden Fragen: Verhältnis der
Geschichtswissenschaft zu anderen Formen empirischer Erkenntnis, Wahrheit und
Objektivität, Beschreibung und Erklärung in der Geschichtswissenschaft sowie mit der
Aufstellung von Normen für das historische Erkennen. Die analytische
Geschichtsphilosophie ist von der Theorie des historischen Prozesses nicht zu
separieren.
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Im Verlaufe der Jahrtausende sind in unterschiedlichen Kulturen
sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Ganges der Geschichte entwickelt
worden. Wir unterscheiden im Prinzip:
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Herodot vertritt die Auffassung, die „menschliche Geschichte ist ein Kreislauf, der sich dreht und nicht zulässt, dass
stets die gleichen Erfolg haben“ (dies zeigt er am Beispiel der Perser); die
Welt wird weitgehend durch die Gottheit gelenkt, die zumeist missgünstig ist, der
Mensch ist dem Schicksal ausgeliefert.
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Platon entwickelte die Katastrophentheorie: Geschichte ist eine Abfolge
von ewig wiederkehrenden Sintfluten, die die Kulturen vernichten und zum Neubeginn
der Kulturentwicklung zwingen. Diese Vorstellung ist in der Aufklärung gewissermaßen
zu einer positiven Deutung von Katastrophen benützt worden.
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Polybios formuliert: „Dies ist der
Kreislauf der Verfassungen [Monarchie entartet zur Tyrannis, die durch die
Aristokratie gestürzt wird, die ihrerseits in die Oligarchie abgleitet, die durch
das Volk – Demokratie – beseitigt wird, das seinerseits das Maß verliert, weshalb es
zur Ochlokratie (= „Pöbelherrschaft“) kommt, die ihrerseits durch eine
Alleinherrschaft – Monarchie – abgelöst wird], dies
die Ordnung der Natur, nach der die Staatsformen sich verwandeln und ineinander
übergehen bis der Kreis sich geschlossen hat und alles wieder zum Anfangspunkt
zurückgekehrt ist“. Die Vorstellung vom Kreislauf steht der Idee eines
Verdichtung und in gewisser Hinsicht eines entwicklungsmäßigen Voranschreitens der
Geschichte bei Polybios nicht zwangsläufig entgegen: „In
früheren Zeiten nun waren alle Weltbegebenheiten gleichsam vereinzelt, da alles,
was geschah, sowohl nach Planung und Erfolg als auch nach den Schauplätzen
geschieden war. Von diesen Zeiten [2. punischer Krieg] aber an geschieht es, dass die Geschichte gleichsam körperähnlich
wird, dass die italischen und afrikanischen Ereignisse sich verflechten mit denen
in Asien und mit den griechischen und dass alles sich auf ein Ziel [telos] hin richtet.“
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Am stärksten wurden die zyklischen Vorstellungen bei den Anhängern des
Pythagoras, den Pythagoräern, ausgeformt, die in ihren späteren Ausläufern
bis zur Vorstellung von der ewigen Wiederkehr der unbedingten Selbigkeit der
kreisläufig wiederkehrenden Ereignisse gelangten. Daneben entwickelten sich
unzählige Abstufungen der zyklischen Auffassung. Unter diesen rigiden Aspekten war
Hoffnungslosigkeit ein wichtiges Element der Geschichtsvorstellungen.
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Die frühen christlichen Autoren (insbesondere der griechische
Kirchenvater und Märtyrer Irenaeus) haben die zyklischen Vorstellungen scharf bekämpft, weil sie ja
die Schöpfung ausschlossen und auch dem Gedanken der Erlösung keinen Raum ließen,
die ja nicht wiederholbar, sondern einmalig gedacht war. So wurden die
nicht-eschatologischen Vorstellungen als Häresien bekämpft.
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Zyklische Vorstellungen werden auch in der Neuzeit noch gepflegt: z.B.
bei Bodin, der allerdings auf Grundlage des Christentums eine aufsteigende
Interpretation der Weltreiche vornimmt, aber nicht zu einem unbegrenzten
Fortschreiten der Entwicklung gelangt – eher wellig-spiraliges Aufwärtsstreben in
Abfolge von Blüte-Aufstieg-Verfall. Ähnlich Giovannibattista Vico, der vom Aufstieg und Verfall der Völker spricht, in Analogie zum Leben
des Individuums aber als ewige Wiederkehr des Gleichen. Diese Modelle betreffen aber
nicht den Ablauf als ganzes, sondern nur die Entwicklung einzelner Teile.
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Interpretationen des zeitlichen Geschehensablaufes, den wir als Geschichte
bezeichnen. Wir haben hier im Wesentlichen zu unterscheiden zwischen
kulturpessimistischen und kulturoptimistischen Vorstellungen.
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1) |
Die Auffassung, dass sich die Entwicklung in Weltaltern
vollziehe gibt es in negativer und in positiver Fassung. Negativ:
Hesiod handelt um 700 vChr von vier Weltaltern (ursprünglich waren es
wohl: golden, silbern, erzern und eisern und zwischen den letzteren ein
"heroisches Weltalter"); am schönsten und berühmtesten ist die Darstellung dieser
Vierzahl bei Ovid in den Metamorphosen. Am Anfang steht, verklärt (wie auch bei uns
vielfach Vergangenes) das goldene Zeitalter (der Philosophenherrschaft bei Platon), mit einem natürlichen Idealzustand und dem Eintreten einer
permanenten Verschlechterung – so bei Herodot, Poseidonios, Ovid, aber auch bei Seneca (90. Brief): Alle Menschen seien ursprünglich im gemeinsamen
Besitz dessen gewesen, was die Natur an Tieren und Früchten aus eigener
Fruchtbarkeit, ohne Ackerbau, hergab. Es bestand keine Habsucht, die arm und reich
scheidet, man sorgte für den anderen wie für sich selbst. Hinsichtlich der
staatlichen Ordnung war es wie in der Natur, wie die Herde dem kräftigsten Stier,
so folgten die Menschen dem Vorzüglichsten unter ihnen – dem Weisesten
(Patriarchalherrschaft Platons). Gesetze wurden erst nötig, als das Laster begann,
sie wurden anfangs von den Weisen gegeben (2. Stufe bei Platon). So schildert Seneca
die Entwicklung bis hin in seine Zeit, in der zwar die Vernunft
Vieles geschaffen habe, nicht
aber die Weisheit (= höhere Vernunft). Positiv: umgekehrt schildert Lukrez
in "De natura rerum" das Fortschreiten des wilden, primitiven,
harten Menschens zum
Kulturträger seiner Zeit. Beide Positionen hat in der
Neuzeit Rousseau bezogen, der sich vom Kulturpessimisten zum Kulturoptimisten
wandelte.
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Der Vorstellung von den Weltaltern kommt später nahe die
Vorstellung von der Abfolge von vier Weltreichen; sie hängt vermutlich mit dem
Untergang des Assyrischen Reiches und der Ablösung der Meder durch die Perser
(innerhalb kurzer Zeit, 612–539) zusammen; ursprünglich handelt es sich um drei,
dann durch die Hinzunahme des Reiches Alexanders des Großen um vier
Weltreiche. Diese Vorstellung, die in christlicher Deutung eschatologischen
Charakter gewinnt, indem nach dem Untergang des letzten der vier Reiche (zuletzt
auf Grundlage der translatio imperii das
Heilige Römische Reich) der Jüngste Tag anbrechen sollte10; sie wirkt nach
bis in das 16. Jh und findet sich noch bei Sleidan.
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2) |
Organisch-genetische Auffassungen: Aristoteles bereits entwickelte aus seinen naturwissenschaftlichen
Studien heraus eine gewisse Vorstellung von Entwicklung vom Niederen zum Höheren
in der Natur und analog dazu in der geistigen Entwicklung des Menschen und damit
auch der Geschichte (darauf hat insbesondere Kurt Breysig hingewiesen). Bei Florus findet sich die aus dem Griechischen stammende Analogie der
Lebensalter des Menschen angewendet auf die römische Geschichte: Kind = Kampf um
die Mutter Rom, Jüngling = Besiegung Italiens, Mann = Befriedung des Orbis
Romanus, Greis = Niedergang des Reiches. Diese Vorstellung ist in der Folge von
Augustinus und vielen anderen Autoren bis auf Hegel übernommen worden.
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3) |
„Geographische“ Auffassung: Geschichte verläuft von Osten nach
Westen – „ex oriente lux“. Erstmals bei Marcus
Terentius Varro (116–27).
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4) |
Jüdisch-christlich-theologische Orientierung – Eschatologie:
Die im alten Mesopotamien auftretende Vorstellung von der Schöpfungsgeschichte und
die dann hinzutretende Vorstellung vom Messias bzw. einem Ende aller Zeiten, wie
sie in der jüdischen Auffassung besonders stark vereinigt und ausgeprägt wurden,
ließen die Idee eines linearen und endlichen Ablaufs der Geschichte entstehen,
einer Hinentwicklung auf ein Letztes – Eschatologie. Diese Lehre hat eine
unglaubliche Fülle von Interpretationen erfahren, indem vor allem die Bibel nach möglichen
Hinweisen auf die Struktur und damit auch auf die zeitliche Dauer des Ablaufes der
Geschichte und damit der Feststellung der jeweils eigenen zeitlichen Position in
Bezug auf den Jüngsten Tag durchforstet worden ist. Nachfolgend eine kleine
Übersicht über diese Vorstellungen, die meist an Zahlen festgemacht wurden:
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a) |
Zweizahl: Widerstreit
zwischen der civitas Dei und der civitas terrena (= diaboli) – fundamentale
christliche Auffassung bei Augustinus und Otto von
Freising insbesondere; Zeitalter des Alten Testaments und dann des Neuen
Testaments, es gibt kein drittes Zeitalter, wenn das NT zu Ende geht, ist das Ende
aller Zeiten gekommen.
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b) |
Dreizahl: drei große
Weltalter (das der Natur [vor Moses], das des Gesetzes [Moses] und das der Gnade [Christus]); Zeit Gottvaters, des Sohnes, des
Heiligen Geistes = Zeit des Fleisches (Vater), des Fleisches und des Geistes
(Sohn) und schließlich des Geistes (Rupert von
Deuttz, dann vor allem bei Joachim von
Fiore
(1130–1202) der auf Grundlage von biblischen Siebenzeiten und
Generationenlehre für ca. 1260
das dritte Zeitalter (= Drittes Reich) prophezeite,
weswegen er von Thomas von
Aquin scharf angegriffen wurde)11.
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c) |
Vierzahl: Lehre von den
vier Weltreichen nach dem Traum des
Propheten Daniel.
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d) |
Sechszahl nach den aktiven
Schöpfungstagen in Analogie zu Lebensphasen des Menschen (infantia, pueritia, adolescentia, iuventus, aetas senior,
senectus), der siebenter Tag ist der abendlose Sabbat.
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e) |
Siebenzahl von Weltaltern
in Analogie zur Schöpfungsgeschichte.
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Es haben bezüglich der linearen Vorstellungen lange Zeit eher
festgefügte und unkritisch tradierte Gedankenschemata existiert, die heute als
überholt anzusehen sind – dass die Geschichte bei den Griechen rein statisch und
nur und erst bei den Juden dynamisch interpretiert worden sei – und von nicht
minder bedeutenden Wissenschaftlern auch umgekehrt. Richtig und wichtig ist, dass
der Vision vom Erscheinen eines Messias, die allerdings nicht auf das Judentum
beschränkt ist, eine enorme Kraft innewohnte. Die Bibel und die Apokalyptiker
kennen keinen Fortschritt in der Zeit, nur ein Voranschreiten der Zeit auf das
Ende aller Zeiten hin. Die Erlösung, das Ende aller Zeiten, ist kein Ergebnis
einer innerweltlichen Entwicklung, sondern ein „Einbruch der Transzendenz in die Geschichte“ (Gershom Scholem).
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5) |
Eine wesentliche Bereicherung der linearen Geschichtsauffassung
und Geschichtsphilosophie verdanken wir der stoischen Philosophie: Der stoische
Schriftsteller Diodorus
Siculus vertritt die Ansicht, dass die Historiker
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einerseits Einsicht in das Versagen und die Errungenschaften
der anderen ohne Erfahrung der Übel ermöglichen,
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andererseits
aber durch ihre Arbeit alle Menschen, die durch
ihre gegenseitige
Verwandtschaft zwar verbunden, nach Orten und Zeiten aber
getrennt seien, unter ein- und
dieselbe Ordnung zusammenführen – damit sind die
Historiker Helfer der
göttlichen Vorsehung: Den ganzen Aeon lang (= ununterbrochen
und ewig) lässt die Vorsehung
die Sterne kreisen; mit ihnen bewegen sich die
menschlichen Naturen, die in
einer analogen Beziehung zu der Ordnung der Gestirne
stehen – Diodorus
Siculus vertritt hier aber nicht die Auffassung von der ewigen Wiederkehr
des Gleichen, wohl aber betreibt er Kulturvergleich (Zarathustra, Zalmoxis und Moses als Gesetzgeber).
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Die Grundtendenz der stoischen Philosophie ist: die Welt ist gut,
um des Menschen wegen geschaffen, mit Vernunft durchsetzt und durch die göttliche
Vorsehung gesteuert. Dem Gegenargument = Hinweis auf das Üble und Böse traten die
Stoiker mit dem entgegen, was man seit Leibniz als Theodizee bezeichnet: die Rechtfertigung Gottes durch den
Menschen, die Erklärung
des Bösen (Gegensätze müssen sein: ohne Kälte keine Hitze etc.). Das Böse erfülle
einen für den Menschen nicht erkennbaren guten Zweck im Rahmen der insgesamt guten
Weltordnung. Ohne Gegner erschlaffe die Tugendkraft. Das Böse ist notwendig als
Möglichkeit im Sinne der Realisierung der Willensfreiheit. Ihre höchste Form
finden diese Vorstellung in jener von der Rechtfertigung Gottes durch den
Fortschritt in der Zeit, der es dem Menschen auch ermöglichen werde, die ihm noch
verborgenen guten Seiten des Negativen zu erkennen, das sich so zum Positiven
wandeln werde: „Vieles ist aufbewahrt für
Generationen, die leben werden, wenn die Erinnerung an uns erloschen ist“ –
Cicero in De natura deorum und Seneca in den Naturales quaestiones.
Diese Überlegungen führen hin zur Vorstellung, dass es Fortschritt gebe und dass
die wissenschaftliche Forschung die in den Dingen verborgene Vernunft offenlegen
könne; die Stoa reflektiert das wissenschaftlich-technische Selbstbewusstsein der
Antike: „Beim Menschen liegt die ganze Herrschaft
über die irdischen Güter. Wir nutzen Felder, Berge, unser sind die Flüsse, die
Seen [...] wir geben durch Bewässerung dem
Boden Fruchtbarkeit, Flüsse dämmen wir ein, leiten sie um [...]“. Bis hin
zur Vorstellung von der „zweiten
Natur“ der Dinge:
„mit unseren Händen
schließlich versuchen wir, in der Natur der Dinge gleichsam
eine zweite Natur
herzustellen“ (alteram naturam efficere). Die Stoa kommt
aus ohne Dualismus (Gutes – Böses, Gott – Teufel) und auch ohne Messias; ihre
Geschichtsauffassung ist nach der Zukunft hin offen. Allerdings entwickelt sie
eine römische Geschichtstheologie bzw. Geschichtsphilosophie – Livius: das römisches Volk verwirklicht mit seiner Sendung zur
Weltherrschaft den göttlichen Weltplan. Vergil prägt die Verheißung in früher römischer Vorzeit: „Den Römern setze ich weder Zielmarken im Raum noch
Zeiten: Herrschaft ohn' Ende gab ich ihnen“.
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Diese Gedanken einer stetigen Weiterentwicklung wurde in der Neuzeit
wieder aufgegriffen, z.B. bei Kant: nach dem Plan der Natur verläuft die Geschichte fortschreitend zum
Bessern. Ähnlich bei Condorcet und Hegel.
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In der Neuzeit wird „die Geschichte“ als konkreter
Entwicklungsprozess unter spezifischen Aspekten betrachtet:
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Geschichte als Prozess der zunehmenden Aufklärung,
Hinentwicklung zur Vernunft bei Vico, Kant, Condorcet, Hegel, Marx, Engels, Droysen, Horkheimer, Adorno.
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Geschichte als Prozess hin zur Freiheit des Menschen: Joachim
von Fiore, Kant, Condorcet, Engels, Droysen, Horkheimer, Adorno, Althusser.
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Sehr früh schon sind in sehr schöner Weise die zyklische und
die lineare Vorstellung zu einem Bild gefügt worden von dem englischen Dichter
Edward Young (1681–1765), der in seinem Gedicht "Nachtgedanken" schreibt: „Nature revolves but man advances; both eternal, that a
circle, this a line“.
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Auch solche Auffassungen, die vor allem dem östlichen Bereich
(Indien) zugeschrieben worden sind, sind im Westen vertreten worden. Signifikant der
distanzierte Pessimismus eines Niccolo Macchiavelli: „Wenn ich den Lauf der Dinge
bedenke, so finde ich, dass die Welt stets dieselbe geblieben ist. Es gab auf ihr
immer ebenso viel Gutes wie Schlechtes, nur wechselten das Schlechte und das Gute
von Land zu Land. So ist uns bekannt, dass die Macht der alten Reiche infolge des
Wechsels der Sitten einem ständigen Wechsel unterlag. Die Welt blieb jedoch immer
dieselbe, nur mit dem Unterschied, dass sich ihre gesammelten Energien zunächst in
Assyrien entluden, dann in Medien und Persien, bis sie schließlich auf Italien und
Rom übergingen [...]“.
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Neben den eben aufgezählten Auffassungen vom „Gang der
Geschichte“ entwickelten sich doch auch früh ansatzweise die Vorstellungen, dass
natürliche Faktoren als außermenschliche und nichtgöttliche Faktoren den Gang der
Geschichte mitbestimmen. Hier ist vor allem die Klimatheorie zu erwähnen, die seit
der Antike immer wieder in die Geschichtsinterpretation einbezogen wurde – Platon, Aristoteles, Hippokrates
von Kos, Galen, Poseidonios, Juan Huarte – Bodin, Montesquieu u.a. haben darauf zurückgegriffen, bevor die Bedeutung der
geophysikalischen, biologischer und anderer natürlicher Faktoren in der Neuzeit in
selbstverständlicher Weise in die Betrachtung einbezogen wurden.
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Das Grundschema der Klimatheorie, die nicht nur in Bezug auf die
geographische Breite, sondern auch „vertikal“ auf die Höhenlagen über dem
Meeresspiegel angewendet wurde, ist:
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Nach diesen Vorstellungen begann man Erscheinungen in der
Historie aus Gesetzmäßigkeiten zu erklären:
Die bei Tacitus gerühmte Enthaltsamkeit der Nordländer sei keine Tugend, da
natürlich bedingt, die Germanen könnten sozusagen gar nicht anders handeln. Analog
dazu wurden auch politische, kulturelle etc. Entwicklungen interpretiert.
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Im ausgehenden 19. und vor allem dann im 20. Jh verlieren wir
die Möglichkeit einer derartig umfassenden Interpretation der Weltgeschichte. Ausläufer sind die letztlich auf der
Analogie zur Entwicklung des menschlichen Individuums beruhenden
Geschichtsmorphologien nach Kurt Breysig und Oswald Spengler. Sie werden abgelöst durch Arnold Toynbees evolutionistisch bestimmte Vorstellung von der Entwicklung der
Völker resp. Kulturen unter dem Aspekt „Challenge und
Response“.
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Frühzeitig sind Vorstellungen hinsichtlich der Aufgaben und der
Leistungsfähigkeit der Historiographie entwickelt worden und auch Anleitungen, wie man
vorzugehen habe, um eine den Zielsetzungen entsprechende historiographische Leistung
zu erzielen.
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Ein bereits in den Anfängen aufgegriffenes Thema war die
Wahrhaftigkeit:
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Hesiod: „Vieles Erdichtete wissen zu sagen wir,
Wirklichem ähnlich; / Aber wir wissen auch, wenn wir es wollen, die Wahrheit zu
künden.“ Herodot von Halikarnassos bekennt sich zur Verpflichtung, die Wahrheit zu
ermitteln und mitzuteilen, bekennt sich zur Unparteilichkeit und zur Erschließbarkeit
von Fakten. Römische Autoren führen dies fort, so vor allem, und immer wieder zitiert,
Cicero
(106–43): „primam esse historiae legem, ne quid falsi
dicere audeat, ne quid veri non audeat“ – zahlreiche Aussagen zur Historia: lux veritatis, vitae memoria, nuncia veritatis, magistra
vitae, vornehmlich auf der philosophischen Ebene; ähnlich äußern sich Livius, Sallust und Tacitus.
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Hinsichtlich der theoretischen Grundlegung haben Platon
und Aristoteles wesentliche und in der Renaissance als zentral wieder
aufgenommene Äußerungen vorgelegt, indem sie Historiographie von Dichtung
differenzierten. Platon stellte fest: alle Rede ist wahr oder falsch (= fiktiv), wahre Rede
ist Historia, fiktive Rede ist Poesie. Aristoteles formulierte in seiner Poetik Kap. 9: Nicht in der gebundenen
bzw. ungebundenen Rede liege der Unterschied zwischen Poesie und Historie (denn man
könnte Herodot in Verse setzen und es bliebe noch immer eine
Geschichtsdarstellung), sondern darin, dass der Dichter es mit dem Allgemeinen und dem
Möglichen, der Historiker aber mit dem Besonderen, Individuellen und Tatsächlichen zu
tun habe: „Denn die Dichtung redet eher vom
Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Besonderen. Das Allgemeine besteht darin,
darzustellen, was für Dinge Menschen von bestimmter Qualität reden oder tun nach
Angemessenheit oder Notwendigkeit; darum bemüht sich die Dichtung und gibt dann die
Eigennamen bei. Das Besondere ist, zu berichten, was Alkibiades tat oder erlebte.
[...] Die Zusammensetzung [Komposition] soll [in der Dichtung] nicht wie bei der Geschichte sein, wo notwendigerweise nicht die
Einheit einer Handlung, sondern die Einheit einer Zeit dargestellt wird: was nämlich
zu einer bestimmten Zeit sich ereignete mit einem oder mehreren, die sich zueinander
verhielten, wie es sich gerade traf. Denn so fand in derselben Zeit die Seeschlacht
von Salamis statt und in Sizilien der Kampf gegen die Karthager, ohne dass sie
irgendwie auf dasselbe Ziel hinstrebten.“
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Thukydides erklärt, nach Objektivität zu streben (auch wenn sie ihm heute
nicht mehr in dem Maße wie früher zugebilligt wird) und das Geschehen, soweit möglich,
aus den inneren Bedingungen zu erläutern; er gilt deshalb als der Vater der
pragmatischen Geschichtsschreibung. Es finden sich bei ihm aber nur wenige Aussagen
zur Geschichte.
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Zwei Autoren haben sich vor allen anderen maßgeblich anleitend zur
Historiographie geäußert: Polybios von Megalopolis in Arkadien war ein ausgesprochen innovativer
Historiker; er bezog Geographie, Topographie, Klima, Sitten und andere
nichtpersönliche Ursachen in seine Darstellung mit ein und nahm das Zusammenwachsen
der Geschichten der Einzelteile der im Hellenismus und durch Rom entstehenden Oikumene
zu einer Geschichte wahr, die auf ein Ziel hin gerichtet sei: „Die Verfasser wie die Leser von Geschichtswerken dürfen nicht so viel
Wert auf die Auseinandersetzung der Ereignisse selbst legen wie auf dasjenige, was
vorher, was gleichzeitig und was nachher geschah. Denn wenn man aus der Geschichte
die Fragen hinwegnimmt, aus welchen Ursachen und auf welche Weise und um
wessentwillen eine Handlung vollbracht wurde und ob sie einen wohlberechneten Erfolg
hatte, so wird das Übrigbleibende eine Unterhaltung, aber keine Wissenschaft und
gewährt für den Augenblick Vergnügen, aber keinerlei Nutzen für die Zukunft
[...] Wer nicht Einblick in Ursache erlangt,
schreibt den Gang der Geschichte den Einwirkungen der Götter und der Tyche zu.“
Polybios gibt genaue Anleitungen zur Forschungsarbeit; pragmatische
Geschichtsschreibung bestehe aus: Quellenarbeit, geographischer Autopsie, Analyse der
politischen Entwicklung (die berühmte „Norm des Polybios“) und er spricht auch davon, dass die historische Erkenntnis immer
wieder nur auf Wahrscheinlichkeit gegründet sei.
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Eine frühe systematische Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung
als Metier hat Lukian
mit seiner kleinen Schrift "Wie man Geschichte schreiben soll" geliefert. Er fordert
Unparteilichkeit, politischen Instinkt, praktische Erfahrung im politischen,
militärischen etc. Leben und die Fähigkeit, das Wesentliche im Gang der Geschichte zu
erkennen; er handelt auch von der Gestaltung der historischen Darstellung, die er
inhaltlich und formal gegenüber der Poesie abgrenzt; gute Historie erfordere Klarheit
des Vortrags und der Sprache, Ebenmaß der Erzählung, Kürze der Darstellung. – Lukian
wurde 1515 von Willibald Pirckheimer ins Lateinische übersetzt; sein Einfluss auf die Literatur des
16. Jhs, insbesondere auf Bodin
ist unklar.
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Geschichte wurde und wird unter sehr verschiedenen
Voraussetzungen und unter unterschiedlichen Zielsetzungen erforscht und
geschrieben.
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Der Anspruch der Geschichtsforschung, wissenschaftliche Erkenntnis zu
liefern, löste einen langwierigen, bis heute andauernden Prozess aus, der als
beispielhaft für die Geisteswissenschaften überhaupt angesehen werden muss und deshalb
besondere Aufmerksamkeit erfordert, will man dem Problem Geisteswissenschaften auf den
Grund gehen. Ehe dieser Prozess näher dargestellt werden kann, sind einige
begriffliche Abklärungen notwendig.
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Mit der Frage nach Geschichte im objektiven Sinne ist eine
Reihe von fundamentalen Problemen, von prinzipiellen Einwürfen gegen die Möglichkeit
von Geschichte überhaupt verbunden.12 |
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Der christlichen Auffassung gemäß wurde der Verlauf der
Geschichte als Vollziehung des von Gott bestimmten Heilsgeschehens interpretiert.
Damit erübrigte sich jegliche Sinnfrage. Im Gefolge der Säkularisierung, da die
christlichen Vorstellungen unter wissenschaftlicher Betrachtung ihren Stellenwert
verloren, Gott als Faktor gewissermaßen ausgeschieden war, erhob sich die
Sinnfrage, was denn Geschichte eigentlich sei, ob Geschichte ein jenseits des
Horizonts und des willkürlichen Handelns einzelner Individuen sich sinnhaft, als
Realisierung eines dem Menschen nicht offenbaren Planes vollziehender Prozess
sei.
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Auf diese, prinzipiell unbeantwortbare, Frage gab es verschiedene
Reaktionen. Eine der bemerkenswertesten Antworten hat wohl der Philosoph Theodor
Lessing gegeben, der in seinem 1921 erschienen Buch "Geschichte als
Sinngebung des Sinnlosen" die Ansicht vertrat, dass die Geschichte an sich sinnlos
sei und erst der betrachtende Mensch der Geschichte Sinn gebe.
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Eine weitere Frage, die seit altersher ventiliert, aber
erst im ausgehenden 19. Jh entschiedener diskutiert wurde, war die, wozu die
Befassung mit der Vergangenheit, wozu die Geschichtswissenschaft in concreto nütze
sei bzw. welche Aufgaben sie zu erfüllen habe.
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In der Antike und im Mittelalter hat man der Beschäftigung mit der
Geschichte größten Wert beigemessen – es gibt die schwülstigsten Beteuerungen in
dieser Hinsicht bis zur Genesung Kranker durch die Lektüre von historiographischen
Werken über die deftigen Worte Melanchthons, dass jeder eine grobe Sau sei, der nicht aus Historien
Nutzen zöge, bis hin zu den Worten von Karl Marx und Friedrich Engels, dass es nur eine Wissenschaft gebe, nämlich die Geschichte vom
Menschen.
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Einer der wenigen, die die Auseinandersetzung mit der Geschichte auch
(aber nicht nur) negativ bewerteten – sieht man von naturwissenschaftlich
geprägten Skeptikern wie René Descartes ab – und der vor ihr nachgerade warnte, war Friedrich Nietzsche, der 1874 in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ erklärte,
dass ein Übermaß an Geschichte die dem Menschen nötige Illusion zerstöre, weiters
dass das Richten der Geschichte stets ein Vernichten sei und dass nur die
stärksten Persönlichkeiten die Geschichte ertragen könnten, die Schwachen würden
von ihr vollends ausgelöscht und die Last der Tradition bringe das ingenium und die Tatkraft der Menschen zum
Erliegen13.
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Seither wird immer wieder die Frage nach dem Nutzen der Historie –
lernt der Mensch aus der Geschichte? – sehr skeptisch aufgeworfen und in extremis, indem sogar die Möglichkeit der
Geschichte als Wissenschaft in Frage gestellt wird, der Anspruch ihrer
Nützlichkeit verworfen. Dies auch unter dem Aspekt, dass die
Geschichtswissenschaft nur "Wenn-dann-Sätze" liefert – dies ist in der
Unsicherheit der Ausgangslage begründet – und damit keine normative, keine
wertsetzende (wie die Logik, die Ethik und die Ästhetik) oder vom Gesetzesdenken
bestimmte Disziplin (Naturwissenschaften) ist. Dies hervorgehoben zu haben, ist –
neben der objektivierenden Distanzierung von der eigenen Geschichte durch den
Vergleich mit anderen Kulturen (und Geschichten) – eine irreversible Leistung des
Historismus.
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Die Praxis der menschlichen Existenz aber erweist, dass der Mensch
der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht entbehren und ihr auch gar
nicht entkommen kann. Über Gadamers Rekurrieren auf Vergangenes hinaus ist es die kritische
Reflexion der Vergangenheit, aus der wir die Kriterien für unsere Entscheidungen
und die Maximen unseres Handelns gewinnen. Wenn auch der Einzelne aus der
Geschichte nicht im buchstäblichen Sinne lernt, so ist es doch die kritische, oft
mühsame und schmerzliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die letztlich
maßgeblich die Entwicklung der Gesellschaft steuert.
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Es ist Gegenstand der Diskussion, ob bzw. inwieferne die
Geschichtsbetrachtung überhaupt über ein Objekt verfüge.
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Die Geschichtsbetrachtung hat nicht – wie die Naturwissenschaften –
ein vom Erkennenden losgelöstes, gewissermaßen „äußeres“ Objekt. Im Wege der
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit (soferne diese nicht die Vergangenheit
von Naturverhältnissen betrifft) betrachtet der Mensch den Menschen – nach Dilthey
ist die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit Gegenstand der
Geisteswissenschaften.
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Die Frage nach dem Objekt impliziert enorme erkenntnistheoretische
Probleme, nämlich den Zweifel am Gegenstandscharakter der Geschichte: Hans-Georg
Gadamer schrieb in seinem wichtigen Werk "Wahrheit und Methode": "Offenbar kann man nicht im selben Sinne von einem
identischen Gegenstand der Erforschung in den Geisteswissenschaften sprechen,
wie das in den Naturwissenschaften am Platze ist, wo die Forschung immer tiefer
in die Natur eindringt. Bei den Geisteswissenschaften ist vielmehr das
Forschungsinteresse, das sich der Überlieferung zuwendet, durch die jeweilige
Gegenwart und ihre Interessen in besonderer Weise motiviert. Erst durch die
Motivation der Fragestellung konstituieren sich überhaupt Thema und Gegenstand
der Forschung. Die geschichtliche Forschung ist mithin getragen von der
geschichtlichen Bewegung, in der das Leben selbst steht, und lässt sich nicht
teleologisch von dem Gegenstand her begreifen, dem ihre Forschung gilt. Ein
solcher Gegenstand existiert offenbar überhaupt nicht. Das gerade unterscheidet
die Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften. Während der Gegenstand
der Naturwissenschaften sich idealiter wohl bestimmen lässt als das, was in der
vollendeten Naturerkenntnis erkannt wäre, ist es sinnlos, von einer vollendeten
Geschichtskenntnis zu sprechen, und eben deshalb ist auch die Rede von einem
Gegenstand an sich, dem diese Forschung gilt, im letzten Sinne nicht
einlösbar". |
Auch Alfred Heuß hat sich mit dieser Frage eingehend befasst und argumentiert, dass
die gegenwärtige „Wirklichkeit“ sich in bestimmten Bereichen und unter bestimmten
Aspekten von den Sozialwissenschaften analysieren, empirisch registrieren lasse,
ja in engen Grenzen könnten sogar Experimente angestellt werden. Anders verhalte
es sich mit den vergangenen „Wirklichkeiten“ – ihre Überreste können gesammelt und
gesichtet werden, sie sind aber nicht der eigentliche Gegenstand des Historikers
bzw. Geisteswissenschaftlers, sondern nur das Material, aus dem er seinen
Gegenstand erschließen muss. Deshalb – so folgert Heuß – komme der Gegenstand der Geschichtswissenschaft und des
Geisteswissenschaften überhaupt nur in der Einbildungskraft zustande; ohne
Phantasie und Intuition gäbe es keine Geschichte, auch eine hochwissenschaftlich
und mit allem Theorie- und Methodenbewusstsein betriebene Geschichtswissenschaft
könne nicht bestreiten, "dass in ihrer Nähe die
Dichter stehen". Dennoch habe es die Geschichtswissenschaften nicht mit
Fiktivem, mit Hirngespinsten zu tun, sondern beanspruche, "Wahres, d.h. was wirklich geschehen ist, zu vermitteln".
Geschichte sei insoferne eine Art Zwitter: einerseits "phantasiegenährte Vorstellung", andererseits an den
historischen Quellen genährte "wahre
Vorstellung".
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Daraus resultiert, dass den Gegenständen der Geschichtswissenschaft
eine besondere Stellung zukommt: Sie sind nicht bereits von vornherein im Sinne
beobachtbarer Gegenstände einfach da, die einfach auf ihre bestimmten Elemente hin
zu analysieren und als empirisch überprüfbare strukturelle Funktionszusammenhänge
zu rekonstruieren sind, sondern sie (die Gegenstände des Historikers) müssen erst
auf der Basis der Interpretation historischer Quellen "geschaffen" werden.
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Auf Grund der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten kann es
dabei zu sehr unterschiedlichen Vorstellungen über die Gegenstände – über die
Vergangenheit – kommen, die sich (solange sie sich an den historischen Quellen
bewähren) alle nebeneinander als mögliche Geschichtsdeutungen bestehen können. Da
es keinen unmittelbaren Zugang zum Gegenstand Geschichte gibt, kann auch keine
dieser Möglichkeiten von vornherein beanspruchen, die einzig richtige Variante zu
sein. Geschichte an sich, die empirisch zu überprüfen wäre, steht nicht zur
Verfügung – "die Fakten der Geschichte gibt es für
einen Historiker erst, wenn er sie geschaffen hat", hat Carl Becker (s.w.u.) bewusst provozierend formuliert.
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Analog verhält es sich in den übrigen Geisteswissenschaften. |
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Die rigoroseren kritischen Auffassungen hinsichtlich der
Objektfrage werden als Präsentismus zusammengefasst. Theodor
Lessing hat bereits in seinem 1921 erschienen Buch "Geschichte als
Sinngebung des Sinnlosen" die Geschichte als einen Mythos bezeichnet, Sir Karl
Popper und Levi-Strauss haben 1971 und 1975 die Ansicht vertreten, die Geschichte
habe überhaupt kein überzeitliches Objekt und gelte nur für die jeweilige Zeit und
Kultur, Partei, Klasse, Glauben, Nation etc. in der und für die sie geschrieben
worden sei – Vorwürfe, denen schwer zu begegnen ist. Andere Autoren vertreten
dieselbe Meinung und damit aber auch die Ansicht, dass Geschichte in einem
allgemeinen wissenschaftlichen Sinne unmöglich sei – denn Geschichte wird
gleichsam unter ganz bestimmten Aspekten für einen ganz bestimmten Zielbereich zu
einer bestimmten Zeit über ausgewählte Bereiche geschrieben. Es ist dies die
präsentistische Auffassung, die vor allem durch den amerikanischen Historiker Carl
L. Becker (aber auch durch den Engländer Patrick Gardiner14) vertreten wurde. Becker schreibt dazu, es sei „offensichtlich, dass lebendige Geschichte, die ideale Reihe der Begebenheiten,
die wir bestätigen und im Gedächtnis bewahren [...], nicht für alle Menschen einer gegebenen Zeit oder für eine
Generation genau dieselbe sein kann; der Grund dafür besteht in der engen
Verknüpfung der Historie mit dem, was wir tun oder zu tun vorhaben [...].
Sie [die Geschichte] ist vielmehr eine Schöpfung der Phantasie, ein persönlicher Besitz,
den jeder von uns auf Grund seiner individuellen Erfahrungen formt, an seine
praktischen oder emotionellen Bedürfnisse anpasst und ganz nach seinem eigenen
ästhetischen Geschmack ausschmückt". Diese Anschauung erklärt die
Unmöglichkeit intersubjektiver geschichtswissenschaftlicher Aussagen und lässt
außer Acht, dass es der Geschichtswissenschaft durchaus möglich ist,
quasi-objektive Erkenntnis zu erwerben, wenn auch nicht eine erschöpfende und für
alle Zeiten abgeschlossene (was ja auch für die Naturwissenschaften zutrifft).
Becker steht damit auf dem Standpunkt des subjektiven Idealismus, der
Ereignis und Interpretation des Ereignisses als eines sieht.
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Die präsentistische Auffassung leitet über zum
Relativismus und damit zur Frage, in welchem Maße der Inhalt historischer
Darstellungen vom Zustand des Individuums, der Gesellschaft abhängt, in welcher
der Historiker lebt.
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Nun ist jeglicher Wissenschaft das Phänomen eigen, dass ihre
Erkenntnis insoferne relativ ist, als sie durch die Gewinnung neuer Erkenntnis
verändert, erweitert, korrigiert werden kann. Im Falle der
Geschichtswissenschaft ist das aber in besonderem Maße gegeben,
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einmal, weil es in der Geschichte keine einfache
Wiederholung von Ereignissen gibt,
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und weil es – wie bereits betont – kein „externes“ und klar
definiertes Objekt gibt: "Der
Historiker, der
die Vergangenheit
untersucht, befindet sich gleichzeitig selbst im Prozess
der Geschichte. Er
beurteilt die Ereignisse der Vergangenheit im Lichte der
Folgen, die diese
Ereignisse zu der Zeit, da der Historiker lebt, erbracht
haben. Aber die
gegenwärtige Situation ist freilich auch nicht endgültig,
und man kann schon
im voraus sagen, dass die folgenden Generationen in der
Vergangenheit
ebenfalls etwas sehen werden, was wir noch nicht sehen"
(Igor S. Kon15).
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weil keine unmittelbare Beobachtung des Objektes möglich
ist – diese ist auch in anderen Wissenschaften nicht immer möglich (z.B.
mathematische Physik etc.);
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weil die Daten nur unvollständig überliefert sind, was
ebenfalls kein Spezifikum der Geschichte ist und eine "annähernd getreue Widerspiegelung der wesentlichsten Seiten und
Züge des untersuchten Prozesses" (Kon) nicht unbedingt in Frage stellen muss.
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weil die Wertauffassung des Historikers in die Behandlung
der Materie einfließt – dies ist das eigentliche Problem der
Objektivität.
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Der Intensivierung der Erkenntnisarbeit entsprechend wurden
Geschichtsforschung wie Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jh einem immer
diffizilere Formen annehmenden Differenzierungsprozess unterworfen.
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Das Gesamte von Geschichte wurde früh als Weltgeschichte, später dann
als Universalgeschichte bezeichnet; unter Universalgeschichte versteht man in der
Regel das Gesamte der Menschheitsgeschichte unter allen Aspekten; eine solche
Darstellung ist erst seit dem 19. Jh denkbar. Der Begriff Weltgeschichte ist früh in
Hinblick auf das Gesamte der jeweils bekannten Welt (z.B. der Oikumene) bezogen worden. Die Unterscheidung zwischen diesen
beiden Begriffen ist nicht wirklich tragfähig – um 1900 und weithin im 20. Jh werden
sie meist als Synonyma aufgefasst, von anderen wieder kunstvoll separiert. Was ihnen
gemeinsam ist, ist der Umstand, dass sie ein Gesamtes der Untersuchung unterziehen
wollen. De facto ist eine derartige Gesamtgeschichte nur unter spezifischen
Einschränkungen im Wege riesiger Werke von großen Autorengemeinschaften
realisierbar. Inhaltlich ist die Weltgeschichte, wie sie im Abendland betrieben
wurde und betrieben wird, nach wie vor stark auf Europa und die von Europa
ausgehenden Kulturbereiche konzentriert, sodass andere Kulturen immer noch stark
unterrepräsentiert sind.
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Hauptinhalt der alten Weltgeschichte waren die großen
„Staatsgeschäfte“, die Geschichte der regierenden Dynastien und ihrer Reiche, der
politischen Einheiten und ihrer „Staatshändel“ – politische und kriegerische
Auseinandersetzungen vor allem. Erst nach und nach traten andere Aspekte, wie etwa
die Wirtschafts- und die Sozialgeschichte, hinzu. In diesem Zusammenhang entwickelte
sich im 20. Jh die Bezeichnung „Allgemeine Geschichte“ (meist in Verbindung mit
einem Epochenbezug – z.B. „Allgemeine neuere Geschichte“ oder „Allgemeine Geschichte
der Neuzeit“ –, die deutlich machen sollte, dass das Gesamte und nicht eine
„Sondergeschichte“ (wie etwa die Sozialgeschichte) angesprochen sei. Die Bezeichnung
„Allgemein“ ist allerdings dann auch der Benennung von „Sondergeschichten“ beigefügt
worden, wenn zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass es sich nicht um eine
territorial oder regional eingegrenzte z.B. Wirtschaftsgeschichte, sondern
gewissermaßen eine allgemeine, d.h. eine „Welt-Wirtschaftsgeschichte“ handle.
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Ab dem 17. Jh vollzog sich die Aufspaltung der Gesamtgeschichte nach
den drei großen Epochen. Das Corpus, dessen Aufspaltung erfolgte, war de facto das
der „Politischen Geschichte“, wie sie aus der Historia civilis (im Gegensatz zur historia
ecclesiastica, die ursprünglich in der einen historia ihren Ort hatte16, dann aber als Kirchengeschichte
abgespalten und zumeist der Theologie zugeordnet wurde) als eine Dynasten- und
Staatengeschichte hervorgegangen und im 19. Jh unter dem Einfluss Rankes in der idealistisch-hermeneutischen Geschichtsauffassung des
deutschen Sprachraums in nachgerade gefährlicher Weise auf die Geschichte der
Staatsaktionen und schließlich auf eine Verherrlichung der nationalen
Machtstaatsgeschichte verengt worden ist, was eben die Ausformung zahlreicher neuer
Teildisziplinen förderte, die ursprünglich gleichsam inbegriffen waren (z.B.
1. H. des 19. Jhs noch in Österreich).
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Nicht außer Acht gelassen darf werden, dass der
Differenzierungsprozess übergeordneten Prozessen unterlag. Es seien hier nur zwei
erwähnt:
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Die Säkularisierung der
Geschichte: im Mittelalter galt der Ablauf der Geschichte natürlich als durch das
Walten Gottes bestimmter Heilsprozess zwischen der Erschaffung der Welt und dem
Jüngsten Gericht. Die durch die Reformation ausgelöste Kritik an den
Geschichtsdarstellungen und die allgemeine, durch den Humanismus, die Entdeckungen
und den beginnenden Rationalismus ausgelöste geistige Veränderung führten zu einer
Verweltlichung der Geschichte.
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Die Ablösung von der Zentrierung
auf die Geschichte Europas: Sie ist zwar initialisiert worden durch die
Entdeckungen und gefördert worden durch die auf diese folgende ethnographische und
geographische Literatur, durch die außereuropäische Völker zum Ideal erhebende
Kritik der Aufklärung und dann durch vergleichende, sich von der
Ereignisgeschichte abwendende Ansätze im 20. Jh. Es ist aber die außereuropäische
Geschichte in weiten Bereichen nach wie vor nur in Ansätzen realisiert und es
werden die Geschichten der außereuropäischen Kulturen in Europa nur in Ansätzen
bzw. in Spezialinstituten gepflegt und längst nicht hinreichend in die
Gesamtbetrachtung integriert – auch wenn wir nicht mehr wie Hegel die chinesische Geschichte in Ermangelung einer brauchbaren
chronologischen Erfassung der Naturgeschichte zurechnen. Mit diesem Problem hängt
eine Reihe von Fragen zusammen: die Frage der Anwendung des für die europäische
Geschichte entwickelten Periodisierungsschemas auf außereuropäische Kulturen, die
Frage der Verbindung der von Europa isoliert gewesenen Geschichten, ihre
Einbindung in die Geschichte, in die Weltgeschichte (Geschichte des
präkolumbianischen Amerika, Geschichte Afrikas etc.) – die Frage der komparativen
Geschichtsbetrachtung. Es wirft diese Problematik aber auch die Frage „Geschichte
vs. Geschichten“ auf, die die Kulturmorphologie befruchtet hat.
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Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit gab es
Gliederungsvorstellungen, die sich an der Dominanz von politischen Systemen
orientierten; die Vorstellung von den vier Weltreichen ist hier her zu zählen, sie
war jedoch im 16. Jh nur mehr ein vollkommen überholtes, obsoletes Relikt. Nachdem
die Humanisten in ihrem Bemühen um den Anschluss an die Antike und in ihrer
Distanzierung von der zwischen ihnen und dem klassischen Altertum liegenden Zeit,
den Begriff des „Mittel-Alters“ geschaffen hatten und man sich damit in einem neuen,
dritten Zeitalter fühlte, fand die Einführung der Dreigliederung
Altertum-Mittelalter-Neuzeit durch Christoph Cellarius Anklang. Cellarius stellte erst in drei Einzelwerken die drei Großepochen dar;
diese Darstellungen wurden dann 1709 als dreibändige „Historia universalis breviter
ac perspicue exposita, in antiquam, et medii aevi ac novam divisa, cum notis
perpetuis“ posthum nochmals herausgegeben, was zur Festigung dieses seither
verwendeten und mittlerweile um die Zeitgeschichte erweiterten Einteilungsprinzips
beigetragen hat.
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Sie bestand ursprünglich aus der Griechischen und der
Römischen Geschichte, also dem „klassischen Altertum“ als prägender Phase für das
Abendland, zu der später erst hinzutraten die Ägyptische Geschichte und die
Geschichte des Alten Orients. Erst im Zuge der Überwindung des Europäozentrismus
rückten auch die Geschichten der anderen alten Hochkulturen in diesen Bereich ein.
In Österreich ist aber zweifellos bis heute eine starke Zentrierung auf den Alten
Orient und das klassische Altertum gegeben.
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Die Alte Geschichte, vor allem die des klassischen Altertums ist
jener Bereich, der als erster eine „wissenschaftliche“ Bearbeitung erfuhr, also
seit nunmehr fast 500 Jahren in Bearbeitung steht, während seit längerer Zeit
praktisch kaum mehr neue Quellen der klassischen Kategorien bekannt werden. Dies
hat bewirkt, dass die einschlägigen Quellen mit besonderer Sorgfalt mehrfach
bearbeitet worden sind, diese in ihrem überlieferten Bestand im Verhältnis etwa
zur Neueren Geschichte offenbar weitgehend bekannt sind und man deshalb in der
Alten Geschichte frühzeitig neuartige Problemstellungen zu bearbeitet begonnen
hat. Auch ist hinsichtlich der Alten Geschichte zweifellos der überwiegende Teil
des erhaltenen Materials bekannt – sehr im Unterschied zur Geschichte der Neuzeit,
für die ungeheure Quellenmassen überliefert sind, die bislang nur partiell
herangezogen werden konnten.
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Die Geschichte des Klassischen Altertums war das Exerzierfeld für die
Ausbildung der philologisch-kritischen Methode, deren Ausbildung der mehr
inhaltsbezogenen historisch-kritischen Untersuchung, die wesentlich an Quellen des
Mittelalters entwickelt wurde, vorangegangen ist. Unter dem Einfluss der
Intensivierung der Historisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jhs sind nicht nur
in Österreich die Grenzen zwischen klassischer Philologie, Altertumskunde und
Alter Geschichte zeitweise aufgehoben worden. Eine wesentliche methodische
Bereicherung erfuhr die Alte Geschichte durch die Entwicklung der Archäologie, die
ja nicht nur die „Geschichte der Kunst im Altertum“ ist.
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Dieser Begriff ist im Humanismus entstanden und sollte die
Zeit zwischen der als Vorbild empfundenen Antike und eben den Humanisten, der
Renaissance bezeichnen, was mitunter sehr negativ belegt war ("finsteres
Mittelalter" – „aetas obscura“).
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Was die Festlegung dieser Epoche anlangt, so gibt es dazu
verschiedene Ansätze. Keinesfalls aber wird heute noch eine so scharfe Abgrenzung
vertreten wie dies früher der Fall war17 – es gibt unter bestimmten
Gesichtspunkten Übergangsperioden, es gibt räumliche Unterschiede. Grob ging man
von den Grenzwerten 500 und 1500 aus, wobei vor allem die Abgrenzung nach oben hin
problematisch wurde, weil man das Einsetzen der Renaissance immer weiter
vorverlegte und schließlich den Renaissancebegriff auch im Mittelalter selbst
anzuwenden begann („ottonische Renaissance“, „karolingische Renaissance“). Man
geht deshalb besser von einer Übergangszeit vom Beginn des 14. Jhs bis zum Ende
des 15. Jhs aus; ähnliches gilt für den Übergang von der Antike zum
Mittelalter.
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Die Geschichte des Mittelalters ist ab dem 17. Jh in eingehenderer
Bearbeitung und dem entsprechend früh hinsichtlich der schriftlichen Quellen des
Früh- und Hochmittelalters recht gut erfasst und in mehreren Wellen bearbeitet
worden, die für die Ausbildung der historisch-kritischen Methode, der
historisch-mediävistischen Hilfswissenschaften und der spezifischen historischen
Methode von wesentlicher Bedeutung waren. Im 17. Jh führten ordensgeschichtliche
Untersuchungen der Benediktiner und Jesuiten zur Ausformung der Grundformen der
mediävistischen Hilfswissenschaften und im weiteren auch zu einer ersten
Bestandsaufnahme der historiographischen, dann aber auch materieller Quellen, auf
die im 18. Jh eine erste systematische Erfassung urkundlichen Materials folgte,
bis unter dem Einfluss der Rückbesinnung auf die eigene Vergangenheit im Gefolge
der napoleonischen Kriege ab 1815 jener in der kritischen Methode mehr und mehr
verfeinerte Forschungsprozess einsetzte, der heute noch im Gange ist und der unter
dem Einfluss des Historismus geprägt war durch mehrere, zunehmend kritische
Edierungsdurchgänge der historiographischen wie der urkundlichen Quellen. Erst im
20. Jh hat man sich vermehrt wieder der bildlichen und der materiellen Quellen
erinnert und schließlich neue Dimensionen erschlossen – wirtschaftsgeschichtliche,
sozialgeschichtliche, mentalitätengeschichtliche Betrachtungsweise,
Quantifizierung etc.
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Was früher als Neuzeit und dann als „Neuzeit und Geschichte
unserer Tage" bezeichnet worden ist, zerfällt heute nach modernem
Geschichtsverständnis in drei Teilbereiche: in die Frühe Neuzeit = Early Modern
History, Neuzeit = Modern History, auch als Moderne bezeichnet (welcher Begriff
aber unter kulturgeschichtlichen Aspekten wieder eher die Zeit des ausgehenden
19. und des beginnenden 20. Jhs bezeichnet) und Neueste Geschichte =
Zeitgeschichte.
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Im weitesten Sinne kann die Frühe Neuzeit zwischen 1300 und 1800
angesetzt werden, wobei sie sich in der Sattelzeit (ca. 1750 bis 1850)18 mit der Moderne resp. der Neuesten Geschichte überlappen
kann, welch letztere mit dem „langen 19. Jahrhundert“, das man mit der
Französischen Revolution beginnen und mit dem Ersten Weltkrieg enden lassen kann;
demgegenüber kann für die Zeitgeschichte die Ansicht vertreten werden, sie setze
mit 1789 oder mit 1917 ein und währe bis zur Gegenwart, was bereits eine
erhebliche Überdehnung bedeutet, weshalb man mittlerweile bereits vom „kurzen
20. Jahrhundert“ (1914-1989) spricht.
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Es wird aus Obigem deutlich, dass die Terminologie in Bezug auf die
Periodisierung der jüngeren Geschichte noch in Diskussion steht, keineswegs
verfestigt ist und naturgemäß von den jeweils dominierenden Fragestellungen
mitbestimmt wird.
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Hinsichtlich der Quellenlage ist zu bemerken, dass durch die enorme
Ausweitung der Schriftlichkeit im Übergang aus dem Mittelalter allein die
textlichen Überlieferungen eine Dimension erlangt haben, die eine Auswertung in
dem Maße, wie sie für quellenarme Epochen geleistet werden konnte und kann,
unmöglich macht.
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Wie bereits bemerkt ist der Begriff „Zeitgeschichte“ in
seiner zeitlichen Festlegung höchst variabel. In neuerer Zeit wird darunter meist
die Zeit nach 1918 verstanden. Als wesentlich wird jedenfalls erachtet, dass es
sich um die jüngste Vergangenheit handelt, deren Wirkung längst noch nicht
abgeschlossen ist.
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Im Altertum wie auch im Mittelalter hielt man verschiedentlich die
Zeitgeschichtsschreibung für die einzig zulässige Form der Historiographie, da sie
allein die attestatio rei visae ermögliche,
also auf Augenzeugenschaft, heute würde man sagen „Zeitzeugenschaft“,
zurückzugreifen, die man im Sinne der Wertschätzung der optischen
Sinneswahrnehmung für unumgänglich notwendig hielt. Heute ist natürlich klar, dass
auch die Zeitzeugenschaft nur ein subjektives Zeugnis liefert19.
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Hinsichtlich der „Bearbeitung der Geschichte“, ja der
„Bearbeitbarkeit der Geschichte“ unterliegen die einzelnen Großepochen insoferne
unterschiedlichen Bedingungen, als z.B. die enorme Ausweitung der Schriftlichkeit
ab dem 13./14. Jh in bezug auf die lange bevorzugten, ja nahezu ausschließlich in
Betracht gezogenen schriftlichen Quellen sehr unterschiedliche Gegebenheiten
geschaffen hat – der Anteil des in die Bearbeitung einbezogenen schriftlichen
Quellenmaterials im Verhältnis zum gegebenen Ganzen sinkt in zeitlicher Richtung
zur Gegenwart drastisch ab; kann man davon ausgehen, dass die hinsichtlich des
Frühmittelalters und des Hochmittelalters überhaupt erhaltenen schriftlichen
Quellen weitgehend erfasst und in die Bearbeitung einbezogen sind, so gilt dies
für spätere Jahrhunderte in immer geringerem Maße.
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Als weiteres Hemmnis kommt hinzu, dass durch die stete Erneuerung der
Fragestellung ein hoher Anteil des Arbeitspotentials neuerlich in Bezug auf die
bereits erarbeiteten Materialien in Anwendung kommt und dem entsprechend relativ
wenig neues Material erschlossen wird, zumal man sich mit editorischer Arbeit
vergleichsweise wenig akademische Meriten erwerben kann.
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Vorgänge dieser Art bestimmen den Forschungsprozess ganz
wesentlich.
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Geschichtlichkeit wurde früher nur zugebilligt jenen
Kulturen, die der Schrift mächtig waren – es ist dies eine Manifestation der
Bedeutung von Texten, von Schriftlichkeit, also der Dominanz des philologischen
Erbes der Geschichtswissenschaft – ein Umstand, gegen den sich vor allem die
französischen Historiker zur Wehr gesetzt haben und der auf die Dauer nicht
haltbar war, und es entwickelte sich unter dem Einfluss der Archäologie ab 1900
spezielle Bereiche, die der alten, „klassischen“ Geschichte vorgelagert sind:
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Unter Vor- oder Urgeschichte wird
die Zeit vom Beginn der Verwendung erster Steinwerkzeuge bis zur Erreichung der
Schriftlichkeit bezeichnet – es ist klar, dass sich eine derartige Periode nur
kulturspezifisch definieren lässt; es gibt heute noch Kulturen, die in diese
Kategorie fallen – die Steinzeitkulturen Neuguineas sind zeitgleiche Beispiele
unserer eigenen Vergangenheit.
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Mit dem Begriff Frühgeschichte wird
jene auf die Vor- oder Urgeschichte folgende kulturelle Periode bezeichnet, für
die zwar bereits erste schriftliche Zeugnisse vorhanden sind, für die man aber
hinsichtlich der Erforschung immer noch primär auf archäologische Quellen und
Ergebnisse angewiesen ist. Es ist einsichtig, dass der Übergang von der
Frühgeschichte z.B. zum Mittelalter (ohne eine der Alten Geschichte entsprechende
Phase z.B. für die germanischen Völkerwanderungskulturen) nicht unproblematisch
ist.
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Es darf nicht übersehen werden, dass die obige
Epochengliederung maßgeblich auf Europa ausgerichtet ist, auch wenn ihre Merkmale
in den letzten Jahrzehnten in deutlich höherem Maße struktur- und weniger
kulturbezogen sind.
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Im Verlaufe der nun seit etwa 500 Jahren währenden
einigermaßen systematischen Auseinandersetzung mit Geschichte und der nunmehr bald
250 Jahre währenden akademisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesem Bereich
sind es konkrete Anforderungen, die an die Auseinandersetzung mit Geschichte
gestellt wurden, spezifische aus der Bearbeitung und aus der Zeit der Bearbeitung
sich ergebende Interessenslagen und schließlich auch die bald sich erweisende
Unmöglichkeit einer einheitlichen, über das gesamte Spektrum der
Betrachtungsmöglichkeiten reichende Bearbeitung, die zur Ausformung von
Teildisziplinen der Geschichte über die bereits genannten Perioden hinaus,
gewissermaßen „quer“ zu diesen, führten. Manche der daraus resultierenden
Teildisziplinen bestehen heute noch, andere sind längst wieder untergegangen oder
aufgegangen in moderneren Ansätzen. Derartige Teildisziplinen waren bzw. sind im
Wesentlichen:
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Kirchengeschichte –
Geschichte bestand zu Beginn der Beschäftigung mit ihr aus drei Bereichen: Historia divina, historia naturalis, historia
humana. Die historia divina wurde
aufgelöst und es entstanden die historia
sacra bzw. dann die historia
ecclesiastica. Auf Grund der außerordentlichen Bedeutung der katholischen
Kirche in der Geschichte des Abendlandes ist die Kirchengeschichte in einem
Konkurrenzierungsprozess zwischen Katholiken und Protestanten sehr früh und
unter Entwicklung einiger interessanter Neuerungen (Periodisierungsfragen,
Magdeburger Zenturiatoren – Teamwork, Hilfswissenschaften etc.) entstanden. Im
Zuge der Säkularisierung verlor sie an Bedeutung, wurde aber im 19. Jh im
Zusammenhang mit der Intensivierung der Auseinandersetzung mit dem Mittelalter
wieder erneuert, indem man die Verfassung und Organisation derartiger Strukturen
zu studieren begann (kirchliche Verfassungsgeschichte). Die Kirchengeschichte
ist in Österreich nach den Reformen in der Mitte des 19. Jhs den theologischen
Fakultäten zugeschlagen worden.
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Verfassungs- und
Verwaltungsgeschichte – Sie hat ihren Ursprung im Wesentlichen im 17. und
18. Jh, als man begann, historische Beweismittel für besitzrechtliche und
politische Prozesse zu suchen: Belegung von Herrschaftsrechten über bestimmte
Territorien etc. (bella diplomatica); als
für den Frieden von Aachen 1748 wesentliche Beweismittel österreichischerseits
nicht aufgefunden werden konnten, gründete Maria
Theresia das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das der Staatskanzlei
unterstellt war. Seine Archivare hatten Anspruchfragen u.a. gegenüber Bayern
abzuklären. Im 19. Jh ist die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
systematisch ausgebaut worden, wobei sie im Wege der Erfassung der rechtlichen
Strukturen als Hilfsmittel für die Erfassung vor allem der Geschichte des
Mittelalters und dann auch der Neuzeit diente. Dementsprechend war sie bis in
die 1970er Jahre ein Pflichtfach der Juristen wie in der Österreichischen
Geschichte. Sie ist jedoch mehr und mehr durch die Rechtsgeschichte und die
Sozialgeschichte verdrängt worden.
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Landesgeschichte,
Vergleichende
Landesgeschichte, Regionalgeschichte – Dieser an sich alte, im
17. Jh bereits in
Anfängen seitens der Stände der einzelnen Länder beachtete und
durch diese im 18. und
19. Jh speziell finanzierte und als erster Spezialbereich
neben der Gesamtgeschichte
existierende Bereich stellt in vieler Hinsicht ein
Fundamentalfach dar, da aus
diesem vielfach „das Material“ kommt. Gleichwohl
galt dieses Gebiet immer
wieder als weniger angesehen und wurde auch im
universitären Bereich als
vermeintliches Feld der Dilettanten mitunter
vernachlässigt. Im
ausgehenden 19. und im 20. Jh sind „Land“, „Landschaft“ und
auch der Begriff „Raum“ im
Sinne von Siedlungsraum etc. mitunter auch
ideologisch befrachtet
worden.
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Kulturgeschichte – Dieser
Begriff ist außerordentlich vielseitig und schwierig, zumal sich seine Inhalte
mit zahlreichen anderen Feldern überschneiden, die jedoch vielfach dieselbe
Materie unter ganz anderen Aspekten bearbeiten. Der Begriff „Kulturgeschichte“
wurde zuerst verwendet für den Bereich der nicht-politischen Geschichte, die
zwar schon im 16. Jh eingefordert, aber erst um 1750 durch Voltaire zum Postulat einer "Übergeschichte", einer Gesamtgeschichte
wurde, die die als ungenügend empfundene alten Dynasten-Geschichte, die
„politische Geschichte“ überwölben sollte. Sie diente in der Folge immer wieder
als Markierung einer der deutschen Geschichtswissenschaft des Historismus
weniger entsprechenden Geschichtsauffassung, wie sie vor
allem in Frankreich unter
dem Einfluss der Positivisten in der 2. Hälfte des
19. Jhs wieder
aufgenommen wurde und im 20. Jh in der „totalen Geschichte“ der
Annales fortlebte.
Allerdings ist nicht zu übersehen, dass im Ausgang des
19. Jhs gerade in
Deutschland ebenfalls in Reaktion auf die Hegemonie der
„politischen Geschichte“ der
Begriff „Kulturwissenschaft“ geprägt wurde20, der eine Ausweitung des
Begriffes „Geisteswissenschaften“ signalisieren sollte und teilweise in die
Kulturmorphologie, teilweise in die Geschichte der Realien etc. einmündete, ehe
er in den Wirren des Ersten Weltkrieges, in dessen Gefolge die Politische
Geschichte neuerlich belebt wurde, an Bedeutung verloren hat.
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Als "Kulturgeschichte der unteren Schichten" ist die
Volkskunde bezeichnet worden, die sich heute unter verstärkter Einbeziehung auch
des ursprünglich eher vernachlässigten urbanen Raumes als "europäische
Völkerkunde", als „Ethnologia Europeana“, versteht, der auch die Historische Anthropologie nahesteht.
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Ein in diesem
Zusammenhang stehender und im 19. Jh in seiner
Entwicklung
steckengebliebener und im deutschen Sprachraum und insbesondere in
Österreich nicht
kontinuierlich entwickelter Spezialbereich ist die
Wissenschaftsgeschichte, die
mittlerweile in den USA, in Westeuropa sowie in
Russland (und seinerzeit
auch in der DDR) eingehend und in zunehmendem Maße
gepflegt wird. Die
Betrachtung der Entwicklung von Wissenschaft ist von den
Historikern im 20. Jh
weitgehend außer Acht gelassen worden; vielfach wollte man
unter
Wissenschaftsgeschichte auch nur die Geschichte der „hard sciences“
verstanden wissen, weshalb
deren Geschichte auch nahezu ausschließlich von
NaturwissenschaftlerInnen
aus den jeweiligen Disziplinen (oder von Emeriti
derselben) betrieben worden
ist, was naturgemäß einen anderen (deshalb nicht
schlechteren) Zugang
eröffnete als er von seiten der HistorikerInnen gewonnen
würde. Eine gesamthafte, das
Problem als Ganzes ins Auge fassende Betrachtung
kam im deutschsprachigen
universitären Bereich nicht in Gang. Erschwerend wirkte
sich natürlich die enorme
inhaltliche Weite des Betrachtungsfeldes, die allein
schon von den
unterschiedlichen fachlichen Anforderungen her eine gewaltige
Herausforderung ist, die von
Einzelnen nicht zu bewältigen ist. Die damit
unabdingbare Kooperation
zwischen WissenschaftlerInnen verschiedenster Bereiche
einerseits und die
Notwendigkeit der Erarbeitung solider
institutionengeschichtlicher
und prosopographischer Grundlagen andererseits
haben bislang noch nicht
eine den Anforderungen entsprechende
Forschungsorganisation
entstehen lassen.
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Ein anderer neuerer Bereich ist das Feld, das mit den
Begriffen „Geistesgeschichte“ und
„Ideengeschichte“ sowie „Mentalitätengeschichte“ belegt ist. Die Begriffe „Intellectual History“
und „History of Ideas“ für Geistes- und Ideengeschichte sind 1936 von Arthur
Oncken Lovejoy geprägt worden; damit gemeint ist Geschichte vor allem von
"Elementar-Ideen" (unit-ideas), aber auch überhaupt Zeitgeistgeschichte und
Geschichte des Bewusstseins. Die „Mentalitätengeschichte fragt nach kollektiven Weltbildern, Einstellungen,
nach alltagsweltlich verankerten Orientierungsmustern, die das Handeln von
Menschen bestimmen“ (Rudolf Schlögl); sie hat ihre Wurzeln im
19. Jh, ist vor allem im Zuge der Annales ab 1929 weiterentwickelt worden und
hat eine Fülle neuer Fragestellungen meist im Bereich der Sozialgeschichte
eröffnet.
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Wirtschaftsgeschichte –
Sie
ist die Geschichte von
wirtschaftlichen Strukturen und Prozessen, Institutionen
und Theorien, Handlungen und
Ereignissen. Ihre nähere Definition hängt von der
des Begriffes
"wirtschaftlich" ab. Sie wird als Teil einer allgemeinen
Geschichtswissenschaft verstanden,
als
welcher sie induktiv
historisch betrieben wird. Sie besteht aber auch auf Seiten der
Wirtschaftswissenschaften,
wo sie sich in
Anlehnung an die
Nationalökonomie als "New Economic History" mit eher
statistisch-deduktiven
Methoden entwickelt. (Dieser Zweig hat sich in den 1960er
Jahren in den USA entwickelt
und sich primär mit der Wirtschaft als
Wachstumsprozess
auseinandergesetzt. In Europa hat er wenig Anklang
gefunden.)
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Die Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen, die zur Belebung
der Geschichtsforschung durch quantifizierende Methoden beigetragen hat, löst
sich mehr und mehr. – Die Wirtschaftsgeschichte im historischen Bereich ist
häufig eng mit der Sozialgeschichte gekoppelt. Im wirtschaftswissenschaftlichen
Bereich hat sie eine reiche Binnendifferenzierung erfahren (Agrargeschichte,
Weltwirtschaftsgeschichte, Unternehmensgeschichte etc.).
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Sozialgeschichte als Teil
der allgemeinen Geschichtswissenschaft ist die Geschichte der sozialen
Strukturen, Prozesse, Handlungen, der sozialen Klassen, Schichten und Gruppen,
ihrer Bewegungen, Kooperationen und Konflikte oder auch Geschichte eines Volkes
ohne Berücksichtigung der politischen und der ökonomischen Geschichte, also der
Bereich zwischen Staat/Politik und Wirtschaft. Geschichte der
Bevölkerungsbewegung, Familienstruktur, Generationsfragen, Emanzipation der
Frauen, Professionalisierungsprozesse, Lebenschancen, aber auch Geschichte von
Krankheit, Tod, Alltag, Arbeitsverhältnissen, einzelner Stände. Im deutschen
Sprachraum ist dieser Fragenbereich lange mehr oder weniger auf staatliche
Handlungsbereiche konzentriert geblieben und im Übrigen nicht besonders
entwickelt worden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jhs ist es diesbezüglich
zu einer Intensivierung gekommen – auch hier unter wesentlicher Beeinflussung
durch die Annales. Vielfach ist die Sozialgeschichte in einer Professur mit der
Wirtschaftsgeschichte zusammengefasst. Die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
kann auch als dominierende – sozialökonomische – Interpretation der Gesamtgeschichte herangezogen werden, sie wird dann
mitunter als "Gesellschaftsgeschichte"
bezeichnet.
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Ein anderer Aspekt ist die Sozialgeschichte als "Strukturgeschichte", bei der keine inhaltliche
Einschränkung gemacht, aber das Postulat erhoben wird, die Geschichte "im
allgemeinen unter sozialgeschichtlichen Aspekten
zu betrachten, wobei
diese Betrachtungsweise auf den inneren Bau, die Struktur
der menschlichen
Gesellschaft" abzielt, wobei das Interesse weniger auf
den Handlungen und
Ereignissen, als vielmehr auf den "Zuständen", Verhältnissen
und Determinanten
geschichtlichen Handelns, auf kollektiven, überindividuellen
Faktoren liegt. Es ist dies
ein Ansatz, der in vielem dem der französischen
Positivisten des
19. Jhs nahesteht und auch heute primär von Franzosen (Francois
Braudel u.a., Strukturalisten) getragen wird und der auf die Gewinnung
allgemeinerer Systematisierungen und Kategorisierungen – Gesetzmäßigkeiten –
abzielt. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird diese Disziplin als
"Strukturgeschichte" bezeichnet.
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Insgesamt kann gesagt werden, dass die Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte im fortschreitenden 20. Jh enorm an Boden gewonnen hat –
es hängt dies natürlich mit einer Veränderung unserer Einschätzung der Bedeutung
der einzelnen Parameter der staatlichen Systeme zusammen.
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Die Sozial-
und Wirtschaftsgeschichte hat als erste – in
Anbetracht mitunter
außerordentlich umfangreicher statistischer Materialien –
neue Methoden erprobt und in
die Geschichtswissenschaft eingeführt: Vergleich im
Großen, Statistik und dann
EDV, als Quantifizierung, Kliometrie u.ä. bezeichnet.
Darüber hinaus hat sie die
Hinwendung der Historie zur Soziologie und zur
Wirtschaftswissenschaft
verstärkt.
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Sozialpsychologisch-anthropologische Dimension, Geschichte und
Psychoanalyse – es sind dies Bereiche, die in den späten 1970er Jahren an
Bedeutung gewonnen haben, letztlich aber Randbereiche geblieben sind.
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Territoriale oder systembezogene
Sondergeschichten: Österreichische Geschichte, Geschichte Osteuropas,
Südosteuropas, Chinesische Geschichte, Geschichte der islamischen Welt etc. –
sie werden in der Regel lokalen bzw. regionalen Bedingungen entsprechend
gepflegt. Eine einigermaßen „flächendeckende“ Berücksichtigung ist aus
Kostengründen nur an ganz wenigen Universitäten bzw. Institutionen
möglich.
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Alle diese Bereiche – und es sind längst nicht alle
aufgezählt – haben ihre spezifische Unterteilung in Unterdisziplinen, und haben,
soferne sie sich über den gesamten Zeitraum erstrecken, eine zumeist der
generellen abendländischen Periodisierung angelehnte Epochengliederung.
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Die Beschreibung, die Rekonstruktion von „Wirklichkeit“
muss berücksichtigen, auf welche Weise der Mensch die Wirklichkeit überhaupt
erkennen kann. Deshalb sind Theorie und Methode der Geschichtsforschung eng mit
der Entwicklung der Erkenntnistheorie verknüpft, deren neuen Erkenntnissen sie in
der Praxis – mit einem gewissen zeitlichen, rezeptionsbedingten Abstand –
folgen.
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Hinsichtlich der Theorie sind zwei Ebenen zu
unterscheiden:
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a) |
Theorie in der
Geschichtswissenschaft: Sie hat zum Gegenstand Aussagen über die Geschichte als
Sachverhalt, Veränderungen des Menschen und seiner Welt in der Vergangenheit,
die allgemeine Charakterisierung historischer Phänomene, Hypothesen etc.;
hierher zählen die Vorstellungen über den Ablauf der Geschichte, über ihren
„Charakter“ u.a.m. (s.o.),
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und |
b) |
Theorie über die bzw.
bezüglich der Geschichtswissenschaft = Meta-Theorie = Historik21: Hier geht es um die Eigenart, die Wissenschaftlichkeit
der Geschichtswissenschaft, das Verhältnis gegenüber den Naturwissenschaften,
die Prinzipien historischer Forschung etc.
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Der Theorie hinsichtlich der Geschichtswissenschaft bzw.
der Historik kommt sowohl in der Ausbildung wie in der Forschung und der
Geschichtsschreibung ein wesentlicher Stellenwert zu. In einem weiteren Sinne
beschäftigt sich die Historik auch mit den elementaren und allgemeinen Operationen
des menschlichen Geschichtsbewusstseins – wie ist das Denken über Geschichte
beschaffen, das in der Form einer Wissenschaft auftritt. Indirekt damit verbunden
ist natürlich auch die Sinnfrage, die gleichwohl nicht eigentlich Gegenstand der
Geschichtswissenschaft ist.
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Die Historik schließt auch die systematische Erfassung des ständigen
Rückbezuges des erkennenden Subjekts auf sich selbst – also die Selbstbesinnung
des Historikers in seiner Auseinandersetzung mit dem Objekt mit ein – es ist dies
gewissermaßen ein Akt der Objektivation. Es ist dies keine abstrakt-theoretische
Angelegenheit, sondern erwächst vielmehr aus der Praxis der historischen Arbeit
und steht damit naturgemäß auch in Wechselbeziehung zur Methodik. Die klassischen
Werke zu dieser Thematik gingen von der Praxis aus bzw. sind auf sie ausgerichtet:
Droysen will in seiner „Historik“ anleiten, „wie man Geschichte zu studieren habe, womit man anfangen, was
treiben müsste, um ein Historiker zu werden“, und auch Jacob Burckhardt will in seinen "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" „Winke für das historische Studium“ geben. Eine
derartige Leistung ist jedoch nicht mehr für das Gesamte zu erbringen, sondern nur
in einer auf die Prinzipien und Regelungen des historischen Denkens abstrahierend
reduzierten Form, die gleichsam die Faktoren, Prinzipien, die Grundgesetze des
historischen Denkens in ihrem systematischen Zusammenhang liefert. Jörn Rüsen hat als einen der grundlegenden Faktoren das
Orientierungsbedürfnis, insbesondere das Zeitorientierungsbedürfnis des Menschen
hervorgehoben.
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Hinsichtlich der Beurteilung dessen, was den Gegenstand der
Geschichte ausmache, haben wir zwei grundlegend unterschiedliche Aspekte zu
berücksichtigen:
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1) |
den subjektivistischen
Standpunkt, d.i. die Auffassung, dass erst durch die wertende Betrachtung
des Historikers Vergangenes zu Geschichte wird – Max
Weber: Kultur (d.h. der Gegenstandsbereich der Geistes- und
Sozialwissenschaften) ist „ein vom Standpunkt des
Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der
sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“, dessen Zuschnitt durch
Werte, Wertideen bestimmt wird; der Subjektivismus erachtet die
handlungsbestimmenden Absichten als das
wesentliche Moment. Die Geschichtsauffassung des deutschen Idealismus und des
Historismus ist das klassische Beispiel für diese Auffassung.
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2) |
den objektivistischen
Standpunkt, d.i. die Auffassung, dass es – „aus Erfahrung“ – eine
objektive Qualität der Vergangenheit gebe: Geschichte wird hier als Gegebenheit
von Konstellationen aufgefasst, in denen das menschliche Handeln erfolgt und die
fundamentalen Sinnbildungsoperationen des Geschichtsbewusstseins werden als
Rezeption dieser vorgegebenen Strukturen aufgefasst, es wirke also ein
Bewusstwerden von zeitlichen Konstellationen vergangener menschlicher
Handlungen, die auch ohne bewusste Erinnerung wirklich waren und wertneutral
sind. Der Objektivismus erachtet die handlungsbestimmenden Erfahrungen als das wesentliche Moment. Diese Auffassung
findet ihre stärkste Ausformung in der dem Positivismus folgenden französischen Schule wie in der
angelsächsischen Geschichtsforschung.
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Beide Auffassungen sind über ein vertretbares Maß hinaus
gesteigert und überbewertet worden: Der Subjektivismus hin zu einem Dezisionismus,
d.h. die Entscheidungen über leitende Gesichtspunkte der zukunftsgerichteten
Handlungsorientierung gibt den Ausschlag dafür, was Geschichte wird. Der
Objektivismus tendiert zum Dogmatismus, und es bleibt kaum mehr Raum für deutende
Aufarbeitung der Zeiterfahrung, da ja auch die menschliche Handlungsfähigkeit im
Sinne eines Determinismus eingeschränkt erscheint.
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Die Entwicklung der historischen Methodenlehre ist Abbild
der Geschichtswissenschaft als eines historischen Prozesses, denn natürlich hat
auch die Methodenlehre Wandlungen und Ausweitungen erfahren.
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Nach modernem Verständnis – und nach langen
Auseinandersetzungen – gibt es wie hinsichtlich der Theorie zwei verschiedene
grundlegende Ansätze:
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1) |
Hermeneutik (sie entspricht
dem subjektivistischen Standpunkt) Hermeneutik = Kunst und Lehre der Auslegung.
Sie entstammt ursprünglich dem theologischen Bereich, indem sie bereits von
Origines auf die möglichst vollständige Auslegung von
Offenbarungstexten ausgerichtet war. Sie ist dann maßgeblich von Friedrich
Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) weiterentwickelt worden im Sinne einer „Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die
schriftliche, richtig zu verstehen“. Schleiermacher fasst den Text im Sinne seiner psychologischen Interpretation (neben ihr steht die grammatische Interpretation) als
„Lebensmoment des Redenden“ auf und legt
damit den Grund zu einer allgemeinen Verstehenstheorie und zu einer allgemeinen
Theorie der Sprache als System und als individuelle Hervorbringung. Hinsichtlich
der Historie zielt die Hermeneutik, die dann später insbesondere von Dilthey aufgegriffen und ausgebaut wird („kunstmäßiges Verstehen schriftlich fixierter
Lebensäußerungen“), darauf, die Intentionen, Sinnbestimmtheit, die
Absichten des handelnden Menschen in der Geschichte zu erkunden, was durch die
Auslegung der historischen Quellen geschieht. Gegenstand der Geschichte ist hier
also der aktiv, mehr oder weniger bewusst und zielgerichtet handelnde und
leidende Mensch. Dieser Ansatz wurde im deutschen Idealismus ausgebaut und ist
der Kern des Historismus; er wurde wesentlich von Humboldt und Ranke entwickelt. Im Zentrum steht das Ideen verwirklichende
Individuum (es muss dies muss nicht unbedingt eine physische Person sein, es
kann sich auch um eine Institution handeln). Die Hermeneutik versucht, "forschend zu verstehen" (Droysen) und widmet sich dabei allein dem Individuellen, den
Singularien. Im Wesen der Hermeneutik liegt es, dass das Allgemeine aus dem
Individuellen und das Individuelle aus dem Allgemeinen erkannt wird
(„hermeneutischer Zirkel“).
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2) |
Analytik (sie entspricht
dem objektivistischen Standpunkt) Sie geht nicht von der Annahme aus, dass der
handelnde Mensch das bestimmende Element sei, sondern dass die entscheidende
Qualität zeitlicher Veränderungen in handlungsbestimmenden Umständen und
Verhältnissen zu suchen sei, die dem Verständnis und damit auch den Absichten
der betroffenen Personen verborgen und entzogen bleiben können, z.B. klimatische
oder andere natürliche Gegebenheiten, Konjunkturzyklen, Produktionsverhältnisse,
Geburten und Sterblichkeit etc. Es ist dies ein sehr stark statistisch,
quantifizierend arbeitender Ansatz, der die Geschichte gleichsam von der
„anderen Seite“ her („von der Natur her“) betrachtet.
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Beide Systeme haben ihre tiefgehende historische
Verankerung und standen einander lange und politisch-ideologisch befrachtet
diametral gegenüber. Die analytische Methode hat sich im deutschen Sprachraum erst
nach 1945 langsam emanzipieren können.
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Beide Forschungsansätze greifen – so unterschiedlich sie
sind – auf dieselben drei Grundoperationen zurück, auf die Heuristik, auf die
Kritik und die Interpretation:
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Das Wort leitet sich vom griechischen Verbum heurisko (ich finde) ab, ist aber erst bei dem
deutschen Naturwissenschaftler Joachim Jungius in dessen Hamburger Logik 1638 nachweisbar. Heuristik bezeichnet
in weiterer Folge die Lehre vom Auffinden dessen, was man für eine Untersuchung
benötigt – Gedanken, Quellen etc. Daraus entwickelt sich auch eine Lehre von der
richtigen Fragestellung, denn die Frage bestimmt das Ergebnis mit, d.h. es müssen
die richtigen Quellen mittels der richtigen Fragen ausgewertet werden. Die Frage
ist so zu stellen, dass sie mit den gegebenen Mitteln bewältigbar ist und neue
Erkenntnis bringt.
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Im historischen Bereich verstand man im ausgehenden 19. und im 20. Jh
unter Heuristik die Beschäftigung mit den historischen Quellen im Sinne ihrer
systematischen Einteilung im Zusammenhang mit der Erfassung ihrer spezifischen
Eigenheiten (im Sinne von „Findbehelfen“). Heute bezeichnet man mit „heuristisch“
in der Regel Begriffe, Grundsätze, Verfahren und Methoden, die etwas zur
Erkenntniserweiterung beitragen, ohne jedoch selbst die Sicherheit der gewonnenen
Erkenntnis zu begründen22.
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Kritik – abgeleitet vom griechischen Wort kritike (Beurteilung, Entscheidung), dann lateinisch criticus – ist einer der zentralen Begriffe von
Wissenschaft. Dies vor allem ab dem Humanismus, der Kritik als Methode entwickelt.
Diese Kritik entwickelt sich via facti in der
philologischen Kritik23, wie sie die Humanisten in der Erarbeitung
brauchbarer Textfassungen der klassischen Autoren im 15. Jh vor allem entwickelt
haben (wie sie aber auch in der Antike bereits, vor allem in Alexandria, ein hohes
Niveau erreicht hatte); die philologische Kritik leitet über zur Textkritik, die
sehr bald – nicht zuletzt im Wege der Bibelkritik – zur historischen Kritik
überleitet. Auf theoretisch reflektierter philosophischer Grundlage wird die
Kritik von Petrus Ramus grundgelegt, als dieser 1543 den zweiten Teil seiner Logik mit „De
iudicio“ übertitelt24, was er bald mit „Kritik“ gleichsetzt
(einen dritten Teil De exercitatione = Interpretation hat er nicht in dieser Weise ausgeführt). Die Kritik des
Ramus ist sehr rasch sowohl von Philosophen als auch von Praktikern, wie
etwa Julius
Caesar Scaliger in dessen Poetik, übernommen und auf jeweils spezifische
Weise weiterentwickelt worden.
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Für die Historiker bedeutete Kritik in den Anfängen primär
Quellenkritik, die Untersuchung der Quellen in Hinblick auf die discrimina veri ac falsi. Diese zerfällt in:
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– |
äußere Kritik, untersucht
den Aussagewert einer Quelle im Sinne der discrimina veri ac falsi. Aber auch eine verfälschte, gefälschte Quelle
ist eine Quelle, jedoch für die Zeit, in der sie ver- oder gefälscht
wurde.
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– |
innere Kritik untersucht
den Aussagewert nach Zeitnähe zum Ereignis, Objektivität etc. – ist nur eine
Wahrscheinlichkeitsabschätzung. Die Quellenedition ist hier anzusiedeln.
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– |
kritische Ermittlung von
Aussagen einer Quelle im Zusammenhang mit anderen, also im Zuge der
quantifizierenden Methode der analytischen Geschichtsforschung; es sind dies
Aussagen, die nicht intendiert waren, auch nicht Überrestcharakter haben und im
Verein mit einer Vielzahl ähnlicher Quellenaussagen erkennbar werden.
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Im Zusammenhang mit der Quellenkritik sind im Verlaufe der
Jahrhunderte die Historischen
Hilfswissenschaften/Grundwissenschaften entstanden, die mit ihrer hohen
Spezialisierung die Tragfähigkeit historischer Aussagen hinsichtlich der
„Tatsachen“ erhärten.
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Seit dem Humanismus ist Kritik eine in Entwicklung begriffene, von
der Aufklärung an eine fundamentale, ja geradezu konstituierende Denkweise in
allen Bereichen des Forschungsprozesses geworden.
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Der Begriff interpretatio kommt
aus der lateinischen Handels- und Rechtssprache (auch heute noch spielt die
Anwendung im Rechtsbereich eine wesentliche Rolle – Auslegung von Gesetzen im
Falle von Uneindeutigkeit). Die für die weitere Entwicklung wesentliche Bedeutung
„Auslegung, Ausdeutung“ dürfte von den Auguren und Traumdeutern verwendet worden
sein. In der Neuzeit wird unter Interpretation primär die Auslegung von Texten verstanden – Dilthey definiert sie als „kunstmäßiges
Verstehen schriftlich fixierter Lebensäußerungen“.
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In der historischen Arbeit wird Interpretation als eine Operation
gesehen, die intersubjektiv überprüfbar die mit Hilfe
der Kritik ermittelten Tatsachen der Vergangenheit zu Zeitverläufen, zu
Handlungssträngen zusammenfügt, die als Geschichte(n) verstanden werden
können. Dieser Vorgang lässt ein Faktum historisch werden. Es ist dies die
Gewinnung von Aussagen einer höheren Ordnung, als sie aus den einzelnen Quellen
gewonnen werden können, denn die Interpretation bezieht sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –
derartige Zusammenhänge können nur post festum
wahrgenommen werden, entziehen sich also den Handelnden.
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Die Darstellung dieser Entwicklung soll Einblick gewähren in
die Art und Weise und in die Ernsthaftigkeit des Ringens um eine theoretische
Grundlegung der nichtnaturwissenschaftlichen Erkenntnis in der Neuzeit. Es handelt
sich um eine Entwicklung, die einerseits die Ablösung von alten
wissenschaftstheoretischen Vorgaben und andererseits zugleich deren tiefgehende
Bedeutung erkennen lässt und gleichsam als Vorgeschichte der Geisteswissenschaften
zu verstehen ist.
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Wie bereits in der Einleitung festgestellt ist es von
großer Bedeutung, dass aus der sich reich entfaltenden Geschichtsschreibung des
klassischen Altertums einige Autoritäten bzw. deren wesentlichste Dicta über die
Zeiten hinweg direkt und kontinuierlich in die Neuzeit überliefert und in der
Renaissance der Diskussion zugrundegelegt worden. Es waren dies
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Hesiod (um 700) steht am Anfang ("Vieles
Erdichtetes wissen zu sagen wir, Wirklichem ähnlich; / Aber wir wissen auch,
wenn wir es wollen, die Wahrheit zu künden.")
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Herodot (von Halikarnassos, ca. 484–425), wurde von Cicero als "Vater der Geschichtsschreibung" und von Skeptikern des
16. und 17. Jhs als "Vater der Lügen" bezeichnet, war ein Freund des Sophokles und des Perikles; er schrieb die erste nach kausalen Zusammenhängen gegliederte
Weltgeschichte und er gibt darin Auskunft über sein Selbstverständnis als
Historiker: "Notwendigkeit zwingt mich, eine
Ansicht zu äußern, die bei den meisten Menschen Haß erregen wird; gleichwohl
aber werde ich nicht zurückhalten, wie es sich mir als wahr erzeigt. – Ich bin verpflichtet zu berichten, was man sich
erzählt, ganz und gar bin ich nicht verpflichtet, es zu glauben. – Die Ägypter haben entsprechend dem bei ihnen
herrschenden Klima und der ganz absonderlichen Art des Flusses [Nil] auch ihre allermeisten Sitten und Gebräuche in
umgekehrten Verhältnis zu denen der anderen Menschen gestaltet."
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Thukydides (460–400) schrieb mit seiner Geschichte des peloponnesischen
Krieges eines der bedeutendsten Geschichtswerke des Altertums; er gilt als
Begründer der pragmatischen – d.h. an den Staats-„Geschäften“ orientierten –
Geschichtsschreibung. Sein Werk enthält nur, eher knappe, dafür aber über die
Jahrhunderte hinweg umso wirksamere theoretische oder methodologische
Aussagen.
|
Polybios (von Megalopolis in Arkadien, 201–120) führt mit seiner
Weltgeschichte in 40 Büchern für den Zeitraum 264–144 und insbesondere des Dritten
punischen Krieges in etwa die Tradition des Thukydides fort. Aus seinem Werk ist
Grundlegendes zum Thema Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung über das
Mittelalter kontinuierlich bis in die Neuzeit tradiert worden – die „Norm“ des
Polybios. Er fordert gründliches Quellenstudium, Autopsie der
Schauplätze einschließlich der Beachtung der natürlichen Gegebenheiten und
möglichst reichhaltige persönliche Erfahrung des Historikers - Büchergelehrte
verstünden nichts wirklich. Den Ablauf der Geschichte interpretiert er als einen
Kreislauf der Verfassungen.
|
Marcus Tullius Cicero (106–43) hat sich vielfach zum Thema Geschichte geäußert – die
Auseinandersetzung mit der Geschichte ist ihm Voraussetzung der geistigen Bildung.
So gehörte eine Fülle seiner Aussagen zum allgemeinen Bildungsgut des ausgehenden
Altertums, Mittelalters und der Neuzeit:
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"primam esse historiae
legen, ne quid falsi dicere audeat, ne quid veri non audeat" – das erste
Gesetz der Geschichtsschreibung ist, daß man nicht wage, Unwahres zu sagen und
Wahres zu verschweigen. Weiters finden sich bei Cicero die Formulierungen: historia lux
veritatis, vitae magistra, nuncia veritatis.
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Dionysios von Halikarnassos (um 30 vChr in Rom) setzte
sich in einer eigenen Schrift kritisch mit Thukydides auseinander.
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Publius Cornelius Tacitus (55–120) ist mit seiner berühmten Feststellung, er wolle "sine ira et studio" schreiben, stets präsent
gewesen.
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Lukian aus Syrien (120–180) war jener Autor des klassischen Altertums,
der von allen am stärksten in Sachen Methode gewirkt hat. Mit seiner Schrift "Wie
man Geschichte schreiben soll" liefert er gleichsam eine erste "Historik", die bis
in die Mitte des 16. Jhs Vorbild ist und im wesentlichen zusammenfaßt, was bis
dahin vorgebracht worden war: Forderung der Unparteilichkeit, politischer Instinkt
und Urteilskraft, Darstellungsgabe, politische etc. Erfahrung des Historiographen,
die Fähigkeit, das Wesentliche im Ablauf der Geschichte zu erkennen. Die
Geschichte hat ihm nur eine Aufgabe, nämlich durch die Wahrheit nützlich zu sein.
Lukian gibt eine genaue Anleitung, wie eine Geschichtsdarstellung
abzufassen sei.
|
Mehr noch als die Historiographen des klassischen Altertums
beeinflußten jedoch die Philosophen Platon und Aristoteles das Denken über Geschichte im Mittelalter und vor allem in
der frühen Neuzeit, und zwar mit den folgenden als Dogmen bewerteten Aussagen:
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Platon (427–347) unterscheidet zwischen Wahrem und Falschem
(= Fiktivem): Alle Rede ist wahr oder falsch; wahre
Rede ist Historia, fiktive Rede ist Poesie.
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Aristoteles (384–322) definiert den Unterschied in seiner Poetik
(Kap. 9): Nicht in der gebundenen bzw. ungebundenen Rede liege der Unterschied
zwischen Poesie und Historie (denn man könnte Herodot in Verse setzen und es bliebe noch immer Geschichte), sondern
darin, daß der Dichter es mit dem Allgemeinen und dem
Möglichen = Fiktiven, der Historiker aber mit dem Besonderen, Individuellen und
Tatsächlichen zu tun habe.
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Weniger bedeutend waren für die die Diskussion
einleitenden Humanisten die frühchristlichen Autoritäten. Sie haben allerdings
aus der spätmittelalterlichen Tradition heraus via facti weiterhin einen
gewissen Einfluss ausgeübt. Es waren dies:
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Quintus Septimius Florus Tertullianus
(150–230) behauptet die Abhängigkeit der griechischen Philosophen von Moses und dem Alten Testament; er vertritt damit die Anschauung, daß
die biblische Chronologie bzw. die jüdisch-christliche Geschichte die älteste
sei, wie es auch der Schöpfungsgeschichte nach sein mußte. Er führt damit hin zu
einer synchronistischen, chronographisch orientierten Geschichtserfassung.
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Eusebius von Kaisarea (260–339) erstellte chronographische Tabellen
und Abrisse, pflegt die klassischen drei Gattungen der Geschichtsschreibung des
ausgehenden Altertums und des Mittelalters: Weltchronik, Kirchengeschichte und
Biographie.
|
Hieronymus aus Stridon in Dalmatien
(348–420), der Schöpfer der Vulgata, schuf mit seinem Kommentar zum Buch des
Propheten Daniel die Grundlage für die Lehre von den vier Weltreichen im Rahmen
der christlichen Geschichtsinterpretation.
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Augustinus aus Tagaste (354–430) stellte in seinem außerordentlich
wirkungsmächtigen Werk "De civitate Dei" das Reich Gottes (civitas Dei, civitas celestis) der civitas diaboli, civitas terrena gegenüber, dieser Gegensatz
beherrscht im Mittelalter die Auffassung von der Geschichte der Menschheit.
Augustinus gibt auch bereits die Analogie zum Sechstagewerk, jede der
6 Perioden währt 10 Generationen; die letzte Periode ist die Zeit von Christus
bis zum Jüngsten Gericht, die also nur 10 Generationen dauern sollte – daraus
resultiert die endzeitliche Stimmung, die im Mittelalter vorherrscht.(Des Augustinus Geschichtsdeutung wird erneuert durch Otto
von Freising in seinem "Chronicon de duabus civitatibus".)
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Gregor von Tours (540–594) schafft mit der
"Historia Francorum" das erste national-christliche Geschichtswerk.
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Beda
Venerabilis (672–735) ist neben seiner "Historia ecclesiastica gentis
Anglorum" und "De sex aetatibus mundi" durch seine Arbeiten zur Chronologie
bedeutsam und wegweisend ("De temporibus", "De ratione temporum").
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Otto
von Freising (1115–1158) äußert sich auch in grundsätzlicher Weise zu
den Fragen der Erkenntnis aus Geschichte:
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"non prophetarum, sed
historiographorum more, non futura prophetantium sed praeterita narrantium
[...]"; |
|
"Scitis enim, quod omnis
doctrina consistit in duobus: in fuga et electione [...] eligere ea, quae conveniunt proposito, et
fugere, quae impediunt propositum" – man war sich aber damals bereits
bewußt, daß geschickte Auswahl und Weglassung zur Verfälschung des Wahren
führen.
|
|
Zahlreiche mittelalterliche Historiographen25 beziehen sich immer wieder auf die
Anforderungen
|
– |
der Wahrhaftigkeit (Isidor
von Sevilla (6./7. Jh): "Historiae
sunt res verae, quae factae sunt", andere Autoren: "melius est enim tacere quam falsa loqui",
|
– |
der Objektivität (Bezug auf Tacitus),
|
– |
der Verwendung glaubwürdiger Quellen wie |
– |
der "kunstgerechten" formalen Gestaltung ihres
Werkes:
|
|
* |
die perfekte sprachliche Form: Diese war nicht immer
gefordert – im Frühmittelalter begegnen wir auch der bewußten Mißachtung der
Form "vos quos novimus non oratorum, sed
piscatorum esse discipulos"; erst in der Karolingerzeit setzt sich der
ästhetisch-literarische Anspruch wieder allgemein durch.
|
* |
die perfekte Komposition, Ordnung des historischen Stoffes:
Cicero unterschied zwischen dem
|
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ordo naturalis = ordo
temporum = chronologische Darstellung und dem
|
|
ordo artificialis = ordo
narrandi = Erzählfluß im Sinne von kausalen Sinneinheiten. In der
Rhetorik waren beide ordines gleichberechtigt. Im 13. Jh wird der ordo temporum verschiedentlich mißachtet als
eine Sache der miesen Annalistik – für den wahren Historiographen seien die
Jahreszahlen uninteressant.
|
|
– |
Es seien die richtigen Quellen richtig zu verwerten. An
Quellen schied man im Range ihrer Glaubwürdigkeit: die Augenzeugenschaft (attestatio rei visaeBei Isidor und ihm folgend auch bei Vinzenz von Beauvais (ca. 1194–1264) heißt es: "apud veteres
enim nemo conscribebat historiam nisi is, qui interfuisset et ea, quae
conscribendae sunt, vidisset."), schriftliche Quellen (wie
etwa Urkunden, die im 11. Jh bereits über die Historiographie gestellt
werden), mündliche Tradition (diese wird unterschiedlich bewertet: von der fama bis hin zur "vera lex historiae").
|
– |
Auch sollten gewisse rhetorischer Regeln, die als colores rhetorici zusammengefasst wurden,
beachtet werden.
|
|
Im ausgehenden Hochmittelalter beginnt sich – zaghaft und
mit Rückfällen - ein noch wenig systematisches kritisches Verständnis zu
entwickeln: z.B. Otto
von Freising bezweifelt die Irrfahrten des Odysseus, weist in Hinblick
auf die Sage von Romulus und Remus darauf hin, daß lupa nicht nur Wölfin, sondern auch Dirne bedeutet und daß
die beiden Jungen vielleicht einfach Kinder eines Priesters gewesen seien.
Ebenso werden von verschiedenen Autoren chronologische Ungereimtheiten und
solche in den äußeren Merkmalen von Urkunden angesprochen. Eine wesentliche
Intensivierung der Kritik tritt erst mit den Humanisten ein, die systematische
methodische Entwicklung im Sinne der Erstellung von Regeln zur Beurteilung etwa
von Urkunden überhaupt erst im 17. Jh.
|
Zur Entwicklung der Kritik trug zweifellos auch bei, daß die
französischen Kronjuristen früh die Welt des Rechts und der Verfassung als eine
historische Erscheinung und damit als etwas Relativierbares, nicht
gottgegeben-unveränderliches auffaßten.
|
Besser wohl noch als im Westen wurde in Byzanz die Tradition der
klassischen Geschichtsschreibung fortgeführt, die zumeist Thukydides verpflichtet ist (wie etwa Prokopios von
Kaisarea, 500–562). Zu Beginn des 7. Jhs wird die byzantinische Weltära
in die Chronologie eingeführt (= Erschaffung der Welt im Jahre 5507 v.Chr.).
|
Nicht übersehen darf werden, daß auch in der islamischen
Welt Bedeutendes geschaffen wurde. Überragend war
|
Abd ar-Rahman Ibn
Khaldun (1332–1406), der in der Einleitung zu seiner Weltgeschichte
"Kitab el-i'ibar" eine frühe Kulturmorphologie (Dreistufigkeit) und Anschauungen
entwickelt, die ihm den Ruf eines frühen Begründers der Soziologie verschafft
haben. Im Unterschied zu den klassischen und den christlichen Autoren ist Ibn
Khaldun allerdings erst im ausgehenden 19. Jh rezipiert worden.
|
|
Die27 Vorstellungen Platons („wahre Rede ist Historia“ vs. „fiktive Rede ist Poesie“) und
des Aristoteles, dass sich die Historie mit dem Individuellen beschäftige
und deshalb eine ars sei und nicht scientia, die sich mit dem Allgemeinen
beschäftige, wurde im 16. Jh unter dem Einfluss des Humanismus und im Zuge eines
Wiedererstarken des Aristotelismus wieder aufgenommen, wobei man jedoch (zumindest
anfangs) die bei Aristoteles als unumgänglich notwendige Akzeptierung der Induktion und
damit des Wahrscheinlichkeitscharakters wissenschaftlicher Aussagen überging. Man
fasste „Historie als eine wie immer zu
präzisierende, jedenfalls nicht auf den Sachbereich des menschlichen Handelns
beschränkte Weise berichtender Darstellung“ auf (Seifert), was freilich als ungenügend empfunden wurde, da es in
Widerspruch stand zu dem, was man damit zu bezeichnen bzw. logisch-theoretisch
untermauert zu fassen wünschte.
|
Im Mittelalter hatte man dem Lesen historiographischer Werke
wundertätige, heilende Wirkung zugeschrieben; diese Vorstellung lebt im Humanismus
weiter: Alfons von Kastilien soll durch Livius-Lektüre, König Ferrante von Neapel durch Lektüre des Curtius
Rufus und Lorenzo de’Medici durch die Erzählung von den Weinsberger
Weibern (1140) von schwerer Krankheit geheilt worden sein. Die Lektüre sollte
moralisch belehren. Solange die Historia nur als Fundus moralischer Exempel
diente, war es nicht erforderlich, sie in ihrer Gesamtheit und in ihrem
kontinuierlichen und kausal hinterfragten Ablauf zu erfassen, d.h. in ihrer für
uns heute selbstverständlichen Totalität. Für die Erlangung praktischer Klugheit
= prudentia (nicht Weisheit: sapientia) reichte die Beschäftigung mit
Teilbereichen völlig aus.
|
Indem nun aber in einer Phase der Historisierung, die in der Forschung bis in das 20. Jh nicht wirklich
erkannt worden ist, in anderer Dimension wirksam wurde, was Polybios mehr als eineinhalb Jahrtausende zuvor konstatiert hatte28, dass nämlich die europäischen Länder,
die Diplomatie jener Zeit in ungleich größeren Räumen als zuvor zu handeln
begannen29,
wurde die Erfassung des Ganzen belangvoll und die Erfassung weiterer Räume auch
unter historischem Blickwinkel immer interessanter. Gleichzeitig wurde vor dem
Hintergrund der Beschäftigung mit den großen Leistungen der antiken
Historiographie die theoretische Fundierung der Historia als unbefriedigend, als
ungelöstes Problem innerhalb des entstehenden wissenschaftslogischen Systems
empfunden und die zunehmend systematische Beschäftigung mit den Erkenntnisfragen
bewirkte die theoretische Erfassung des Charakters und der Gewissheit der
Erkenntnis aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit, zumal man sich im
Humanismus ja in vielen Bereichen um eine logisch gesicherte Feststellung der
idealen Ausformungen in allen erdenklichen Bereichen bemühte – der ideale Fürst,
der ideale Diplomat, der ideale Staat, der bald Gegenstand zahlreicher Utopien
wird30, und auch der
ideale Historiker31.
|
Die Wertschätzung der Historie an sich stand außer Frage. 1519 hat
der Italiener Alciatus die Geschichte bereits als Königin der Wissenschaft bezeichnet,
der alle anderen Bereiche untertan seien. Fox
Morcillo wollte um 1500 sogar die Mathematik als einen Teil der Historia
betrachten (was auch andere Autoren des 16. Jhs ins Auge fassten), und 1531 hat
Luis Vives, ein Freund des Erasmus, die Abhängigkeit aller Wissenschaften, auch der Medizin, von
der Historie konstatiert – diese Beispiele zeigen, in welchem Maße damals schon
Vorgänge, die äußerlich nichts mit Historie gemein haben, als in sich historischer
Entwicklung unterliegend begriffen worden sind. Der französische Historiker und
Staatsmann Guilleaume du
Bellay (1491–1543) forderte, dass jeder Geschichtsunkundige für unfähig
erklärt werden sollte, ein öffentliches Amt zu versehen. Vollends hat die
Reformation der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit neue Aufgaben
eingetragen: Nachdem Lorenzo
Valla bereits 1440 mit dem öffentlich gemachten Nachweis der Unechtheit
der Konstantinischen Schenkung einen grundlegenden Rechtsanspruch in Frage
gestellt hatte, unterzogen spanische Neuscholastiker wie der Dominikaner Melchior
Cano (1509–1560) unter dem Einfluss der Reformation die altchristlichen
Traditionen und Heiligenlegenden einer ersten Kritik32, denn auch Luther und Melanchthon erkannten die Bedeutung der historischen Dimension, was
Melanchthon der Zeit entsprechend drastisch formulierte: „ist einer eine grobe Sau, qui non delectatur
cognitione historiarum“, da diese Einblick gewähre in das Walten
Gottes.
|
Die Historia-Traktate des 16. und 17. Jhs, die anfangs ja
noch weitgehend isoliert von einander entstanden, verfolgten lediglich das Ziel,
Verständnis für die Historiographie, für das Lesen historiographischer Werke und
dann später auch für das Abfassen derartiger Werke zu wecken – dem entsprechend
wurde auch der Begriff „historia“ primär für
die Lektüre und allenfalls das Schreiben erlebter Geschichte verwendet – z.B. auch
bei Bodin. Nicht ging es um die systematische Begründung einer
Geschichtswissenschaft. An der Wende vom 16. zum 17. Jh verdichtete sich jedoch
der Prozess zu einer Diskussion, in der man ernsthaft Klarheit schaffen wollte,
was es mit der Historia auf sich habe, welcher Grad der Gewissheit der aus ihr
erlangbaren Erkenntnis zugestanden werden könne. So rückten nach und nach in das
Blickfeld:
|
1) |
die Methodenlehre der Geschichtsschreibung |
2) |
der Gegenstandsbereich der Historia, welches ihr eigentliches
Objekt sei und warum
|
3) |
die Erläuterung der Funktion, des Nutzens und Zwecks
historischen Wissens und
|
4) |
vor allem das Problem der erkenntnistheoretischen Qualität
historischer Erkennens.
|
|
Ergebnisse dieses nun anlaufenden Prozesses werden
sein:
|
– |
ein Historia-Begriff, der auf die Menschheitsgeschichte
beschränkt ist,
|
– |
die Gewinnung eines hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten
differenzierenden Wissenschaftsbegriffes und
|
– |
durch seine Anwendung eben der Wissenschaftscharakter auch
der Geisteswissenschaften.
|
|
Die Erhebung der Historia zur Wissenschaft und damit die
Sicherstellung der aus ihr gewonnenen Erkenntnis war und ist ein zutiefst
menschliches Anliegen. Diese Entwicklung ist aber weitgehend isoliert von der
Weiterentwicklung der Praxis erfolgt (daran hat sich bis heute nicht sehr viel
geändert).
|
Unter dem Einfluss der spanischen Spätscholastik, die
bedeutenden Einfluss auf die Franzosen ausübte, ergaben sich terminologisch in der
Diskussion drei Ebenen:
|
1) |
Geschichte als Geschehen = factum |
2) |
Historia als Darstellung = narratio rei gestae (d.h. der willentlich gesetzten Handlungen und nicht
etwa natürlichen Geschehens) = historiographisch
|
3) |
Historia als Modus des Erkennens = cognitio aliorum sensibus = historioskopisch.
|
|
In der Auffassung der im Milieu des wieder erstarkten Aristotelismus
in Italien geschätzten rhetorischen Tradition galt die Beschäftigung mit der
Geschichte als eine Ars: „ars historica“; die
Darstellung des Geschehens ist eine narratio
als Species der schönen Literatur, ein munus
oratorisScientia =
philosophia ist jener Bereich, in
dem man eindeutige Schlüsse,
also „Wissen“ im strengsten Sinne für möglich
hält, in dem eindeutige
Aussage gewonnen werden können. Dem entsprechend ist
die historia humana nur eine
ars – und ars ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Bereich
mehrerer
Möglichkeiten ist, d.h.: Es
gibt eben keine eindeutigen
Aussagen..
|
Grundlagen für die Diskussion waren, wie bereits erwähnt, primär
Platons Aussage über wahre und falsche Rede, des Aristoteles Unterscheidung zwischen Poesie und Historie bzw. der
Befassung mit dem Allgemeinen und mit dem Speziellen, die Norm des Polybios, zahlreiche Passagen bei Cicero und Seneca und – später erst – die Ausführungen Lukians.
|
Der griechische Wortinhalt von historia umfasste (wie auch dann noch bei Cicero) die Beschreibung von allem – vera
narratio und das nicht nur der rei
gestae (also der Handlungen des Menschen), sondern narratio alles Geschehenen und Seienden. Dem entsprechend
stellte Giorgio
Valla 1501 fest: „historiae nomen apud
Graecos latius patuit quam hodie capi fere soleat ab omnibus“. Beispiele
dafür waren die „Naturalis historia“ des Plinius d.
Ä., die „Historia animalium“ des Aristoteles, die „Historia plantarum“ des Theophrast – Historien, die nicht dem entsprachen, was die
Historiographen schufen. Dem entsprechend stellte der Spanier Fox Morcillo noch 1557 fest, dass das wesentliche an der Historia die memoria sei und dass sich deshalb keine Art der
Erkenntnis von ihr wirklich separieren lasse, denn was heiße Kenntnis anderes als
Erinnerung an frühere Einsicht? Insoferne sei deshalb jede Disziplin in gewisser
Weise auch historia – sic denique scientiae omnes historiae et sunt, et appellari recte
possunt, so ist alle Scientia auch Historia und kann zu recht so genannt
werden. Dies ist praktisch eine Umkehrung des bisherigen Gedankenganges. Historia
wird so ein umfassender Oberbegriff für Erkenntnis und Wissenschaft und eine
Restriktion auf die historia humana war damit
natürlich nicht verbunden. Historia konnte
auch die Bedeutung von Wissenschaft, Kunde annehmen – wie dies bei Bodin der Fall ist, wo historia und
philosophia nahezu (bis auf die historia humana) synonym verwendet werden. In
diesem Sinne skizzierte auch der Waadtländer Christoph Mylaeus in seinem 1548 veröffentlichten „Consilium historiae
universitatis rerum scribendae“ ein Werk, das er 1551 in drei in Basel erschienen
Bänden vorlegte („De scribenda universitatis rerum historia“) und in dem die
Historia humana nur einen kleinen Teil einnimmt; Gleiches gilt für zahlreiche
andere Werke dieser Zeit.
|
|
Einer der bedeutendsten Autoren in Sachen Historia im
16. Jh ist Jean Bodin, der 1566 seine „Methodus ad facilem historiarum cognitionem“
veröffentlichte34, ein Werk das – ohne dass sein Autor dies im Sinn
gehabt hätte – gleichsam eine erste großangelegte Historik darstellt und in der
Tradition der humanistischen Ideal-Traktate steht, wie sie für viele
Handlungsbereiche verfasst worden sind. Allerdings geht es Bodin eigentlich um die Anleitung zur Geschichtslektüre, um die
Nutzbarmachung des historischen Stoffes. Auch er verfolgt die Vorstellung, dass
Historia die Gesamtheit allen Realwissens einschließe und deshalb über allen
Wissenschaften stehe – historia quasi supra
scientias omnes in altissimo dignitatis gradu locata. Sie lasse sich in
drei Bereich gliedern: historiae, id est verae
narrationis, tria sunt genera |
1) |
historia humana – actiones
hominis in societate vitam agentis explicat, sie liefert cognitio incerta et confusa |
2) |
historia naturalis – causas
in natura positas earumque progressus ab ultimo principio deducat =
Frage nach den verborgenen Ursachen der Erscheinungswelt, und das bedeutet eo
ipso die Rechtfertigung als scientia, die
keine Philosophie mehr über sich hat und den Philosophen überlassen bleibt
(natural philosophy); sie liefert cognitio certa, ja in jenen Bereich, in
denen es um immaterielle Dinge gehe, sogar mathematische Gewissheit, cognitio certior |
3) |
historia divina –
Religionsgeschichte, historische Theologie, sie ist Sache der Theologen und
biete – noch ganz im mittelalterlichen Sinne – cognitio certissima, höchste Gewissheit, da Gott unveränderlich
sei.
|
|
Bodin nimmt damit den Menschen pauschaliter aus der
Naturordnung heraus, was deutsche Autoren sehr bald kritisieren, indem sie
argumentieren, dass es auch über den Menschen naturwissenschaftliche Erkenntnis
gebe, wie dies 1586 auch Alessandro Sardi festgestellt hat, der den menschlichen Körper zur
Naturphilosophie rechnete (s.w.u.). Vor allem aber griff Bodin in seiner Unterscheidung, die der Lehre von den drei
Philosophien entspricht35, die in
Andeutungen bereits vorhandene Differenzierung zwischen Naturbeschreibung und Naturerklärung (historia naturalis im
Sinne des Plinius
d. Ä. einerseits und philosophia
naturalis im Sinne des Aristoteles andererseits) nicht auf, womit er eine Chance vergab.
Damit stellen sich die Verhältnisse für Bodin in seiner teilweise starken Bindung noch an mittelalterliche
Vorstellungen etwa folgendermaßen dar:
|
|
An Bodin und seinem Werk sei skizziert, welches die Position der Historia
in der Mitte des 16. Jhs war:
|
Bodin geht es nicht um das Schreiben von Geschichte – nicht um die
historia scribenda –, sondern um das Lesen
von Geschichte, die lectio historiarum, eine
Methode, „quemadmodum flores historiarum legere
ac suavissimos decerpere fructus oporteat“. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang drei Arten von historischen
Schriften,
|
– |
solche, die Neues finden und Stoff zusammentragen |
– |
solche, die philologisch-kritische Untersuchungen bieten,
und
|
– |
solche, die die von anderen „erfundenen“ Stoffe sichten,
ordnen und tradieren (die res inventas arte ac
ratione traderent“.
|
|
Bodin lehnt die Lehre von den vier Weltreichen ebenso wie die
Vorstellung vom Niedergang seit der Vertreibung aus dem Paradies oder nach dem
Ende eines Goldenen Zeitalters ab und interpretiert – vielleicht als erster –
die Weltgeschichte als einen seit der Erschaffung der Welt stetig
voranschreitenden, sich entwickelnden Prozess.
|
Ziel aller Wissenschaft ist für Bodin die Feststellung der
Wahrheit; dies gilt auch für die ars historica
[humana], der er höchste Priorität einräumt, da der Mensch – ehe er sich
anderen Bereichen widmen könne – zuerst über sich selbst orientiert sein müsse.
Da das Ziel aller Wissenschaft und darüber hinaus auch der Historia die Wahrheit
sei, sei man gezwungen, die historischen Quellen
auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Als Basis der Kritik spricht Bodin
die Vernunft an – vor allem in jenen Fällen, in denen eine Nachricht nur von
einer Quelle überliefert wird. Zweitwichtigstes Element ist der Vergleich
verschiedener Überlieferungen, der auch an sich unglaubwürdig erscheinende
Nachrichten glaubhaft machen könne, wenn die Quellen einen Sachverhalt
einvernehmlich darstellen und sich vielleicht sogar in anderen Aussagen
widersprechen. Bodin erkennt bereits den Unterschied zwischen primären und
sekundären Quellen und hält hinsichtlich der Kritik die Kenntnis der Person des
Autors eines historiographischen Werkes etc. für wichtig, wie er auch die
nationale Befangenheit anspricht. Obgleich Bodin theoretisch kritisch ist, ist er in der Praxis doch auch wieder
naiv: Er hält die bei Guicciardini eingestreuten fiktiven Reden für wahr und äußert sich
auch nicht zur Kritik von Urkunden.
|
Ausführlich widmet sich Bodin dem Idealbild des Historikers: Dieser
soll unabhängig sein, Eigenständigkeit und „Rückgrat“ besitzen, objektiv und
unparteiisch sein, Erfahrung haben im praktischen Leben, in den
Staatsgeschäften, Anteil am öffentlichen Leben nehmen, wie dies schon Lukian forderte, wobei aber ungewiss ist, ob Bodin diesen Autor bereits kannte. Der Historiker soll über eine
„wissenschaftliche“ Ausbildung verfügen, Kenntnisse im öffentlichen Recht und im
Völkerrecht haben und zur Verbesserung der Objektivität einen weiten Horizont
für den Vergleich besitzen – Bodin strebt u.a. nach einem ius universale, einem über das Römische Recht hinaus
verbindlichen Recht.
|
Die Zeitgeschichte hält Bodin im Unterschied zu früheren Autoren
wegen der großen Gefahr der parteiischen Beeinflussung für gefährlich – es sei
besser, vergangene Ereignisse zu schildern, und auch über fremde Völker zu
schreiben und nicht über das eigene. Bezüglich der Religion habe sich der
Historiker über religiöse Probleme zu erheben, aber nicht einen atheistischen
Standpunkt einzunehmen; Religion dürfe jedenfalls nicht aus der historischen
Darstellung ausgeklammert werden. Nach eingehender Diskussion der
unterschiedlichen Möglichkeiten gelangt Bodin auch zur Ansicht, dass der
Historiker sich des Urteils enthalten solle, soweit es möglich sei – Lob und
Tadel zu spenden, d.h. Werturteile zu fällen, stehe den Philosophen zu.
|
Bodin geht aber auch auf das Verhältnis der Historia zu anderen
Disziplinen ein und vertritt die Ansicht, dass die Historia das einzige
Wissensgebiet sei, das ohne andere Kenntnisse von jedermann begriffen werden
könne: „historiae facilitas quidem tanta est, ut
sine ullius artis adimento, ipsa per esse ab omnibus intelligatur. Nam in
aliis artibus, quod omnes inter se aptae et iisdem vinculis colligatae sunt,
altera sine alterius cognitione percipi nequit, historia vero quasi supra scientias omnes in altissimo dignitatis
gradu locata [est]“36. – Diese Auffassung ist allerdings nicht weit von der von
dem Franzosen Denis Lambin 1569 geäußerten Meinung entfernt, dass nicht alle Menschen die
geistige Befähigung zur Philosophie, also zur Befassung mit den Universalien
besäßen, dass aber jede mittelmäßige Begabung ausreiche, um sich mit den
Singularien zu beschäftigen.
|
Bodin kennt im Prinzip bereits den Begriff der Hilfswissenschaften:
die Politik eine für die Geschichte, die Historia eine für die Politik. Er
konstatiert auch die enge Verbindung zwischen Historia und Geographie
(Klimatheorie) und erkennt auch die ganz außerordentliche Bedeutung der
Philologie, wertet sie aber nicht aus.
|
|
Neben Bodin ist im 16. Jh eine Reihe von – vor allem dem romanischen Bereich
entstammenden – Autoren tätig gewesen, deren Überlegungen zu einer immer
subtileren Differenzierung des Historia-Begriffes führten.
|
1531 stellt Luis Vives (1492–1540), der sich in seinem Hauptwerk „De disciplinis“37 gegen die
aristotelische Scholastik wendet und dabei auch mit der Geschichte
auseinandersetzt, fest, dass ihm die Historie experimenta aliena ex cognitione prioris memoriae, Berichte über fremde
Erfahrung biete. Die Notwendigkeit solcher „Berichte“ ergibt sich für ihn aus
der Bemühung um die Erfassung der im Gegensatz zu den wechselnden historischen
Erscheinungen beständigen natura rerum, die
ja hinter den sinnlich wahrnehmbaren Gründen liege. Indem die Historie sinnlich
wahrnehmbare Gründe, die causae exteriores,
liefert, trage sie auch bei zur Erfassung der nichtsinnlichen Wesensgründe. Die
Domäne der Historie sei deshalb die Beschreibung des sinnlichen Vordergrundes
der Erscheinungen der Welt. Nur dort, wo sich historia (nun in einem allgemeinen Sinne gedacht) der Natur zuwende,
strebe sie eine Darstellung non effecta solum
– nicht nur in Bezug auf die Wirkung –, sondern ex causis an. Vives bereichert damit die Differenzierung zwischen Philosophie und
Historie, wobei er aber letzterer ein Naheverhältnis zur Philosophie zuerkennt,
das aber noch unscharf bleibt.
|
Eine ähnliche Differenzierung nimmt 1586 Alessandro Sardi vor, für den historia
ebenfalls narratio ist; Narratio versteht er
aber als Aufzeichnung von Aktivitäten (attioni). Indem er aber die Handlungen klassifiziert in „natürliche“ und
„akzidentielle“, d.h. in solche, die der Natur entsprechen und solche die als
Abweichungen von der Natur zu sehen sind, also als Menschenwerk in Handhabung
der Willensfreiheit, weist er sie unterschiedlichen Bereichen zu: die attioni naturali stehen in einer festen
Ordnung, sie sind deshalb Gegenstand der Philosophie; Sardi rechnet auch den Menschen in seiner Leiblichkeit und Physiologie
hierher. Die akzidentiellen attioni, d.h.
die Willenshandlungen des Menschen jedoch sind nicht Gegenstand der Philosophie,
sondern der Historia. Hier liegt ein wesentlicher Unterschied und Fortschritt
gegenüber Bodin.
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1560 brachte der Platoniker Francesco Patrizi (1529–1597) in Venedig seine „Della historia dieci dialoghi“ heraus, in denen die bislang gepflegten
rhetorischen Elemente und mittlerweile wenig stichhältigen vordergründigen
Definitionen Ciceros zurückgewiesen werden. Die Historia animalium des Aristoteles erklärt Patrizi zur simplex rei enarratio sine
causa, also zu einer Beschreibung. Erst wenn diese Arbeit – die narratio sine causa, also die reine
Beschreibung ohne Erklärung – geleistet sei, könne man zur Ergründung der Ursachen
fortschreiten – praecedere in edocendis
causis. Erst müssen die Fakten gesammelt und bereitgestellt werden, dann
könne nach den Gründen geforscht werden38.
Dies bedeutet die Aufspaltung der Befassung mit den Naturalien in Beschreibung
und Erklärung, die Bodin verabsäumt hat. Patrizi begreift so Historia als cognitio sine causa, als cognitio
effectuum tantummodo, als bloße Beschreibung von Wirkungen, womit sie
eigentlich nicht wirklich cognitio ist.
Giacomo Zabarella hat sich dem angeschlossen. Diese Rückstufung der Historia,
deren Vertreter wie Johannes Bernartius doch beanspruchten, dass es das praecipuum historici munus sei exponere, quid, quare, qua fine sit gestum39, hat lebhaften Widerspruch vor allem bei den
deutschen Theoretikern (s.w.u.) ausgelöst40.
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1565 – ein Jahr vor Bodin – hat der Baseler Philologe und Mediziner Theodor Zwinger sein „Theatrum vitae humanae“ veröffentlicht, in dem er die
Historie als ocularis et sensata cognitio
bezeichnet, als nuntiatio eorum que visa aut
sicut visa. Auch solche Historia gebe es von allem, für jeden beliebigen
Bereich der Erkenntnis. Man spreche von Pflanzen-, Tier-, Naturgeschichte etc.,
dort aber, wo es allein um die vernunftbestimmten Handlungen des Menschen gehe,
heiße sie per se et absolute Historia, also
„die“ Geschichte. Komplementärstück der Historie sei die Theorie, die für das
Unsinnliche zuständig sei, für das, was hinter den Sinnen liege, ea quae sensus effugiunt.
Zwinger, der zwar die Historia humana ohne weitere Umstände als solche
klassifiziert und zwischen der Darstellung der Historie und der Bereitstellung
des historischen Materials unterscheidet, reduziert sie mit seinen Ausführungen
auf den Augenschein; sie ist ihm zwar ebenfalls cognitio, aber eben nur im Bereich der Sinneswahrnehmung.
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Weniger kunstvoll und weit unbekümmerter hat 1569 Viperano in seinem De scribenda
historia liber den weiten Historia-Begriff nach humanistischem Vorbild
zurückgewiesen und auf attioni, auf
Handlungen beschränkt: „Voco historiam
[...] narrationem rerum gestarum“. Diese
schon so lange „umkämpfte“ Einschränkung auf den Menschen leistete dann auch der
Paduaner Rhetoriker Paolo Beni; er definierte um 1600 die Historia als „rerum singularium narratio, quae hominem genus instituat“, also
als einen Bereich, der sich, indem er sich mit der Gattung Mensch, also
gewissermaßen der Menschheit befasst, eigentlich keine Singularienerkenntnis
darstelle, auch wenn zusätzlich Singularienkenntnis die Gattung Mensch
betreffend geliefert würde. Damit wurde die Historia humana argumentativ auf
eine Ebene mit der Historia naturalis, d.h. der Philosophie, gestellt, wo in der
Zoologie und der Botanik ja nicht von den Individuen, sondern wirklich nur von
der Species gehandelt würde.
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Befriedigen konnten alle diese Vorstellungen aber nicht,
da sie unsystematische und unkoordinierte Beiträge zum Problem darstellten.
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Es waren die deutschen Philosophen, vor allem der Semi-Ramist
Bartholomaeus Keckermann, die die Definierung von Historia als cognitio sensata, die ihr mit der Beschränkung auf rein
äußerliche facta, d.h. auf die sinnlich
wahrnehmbaren Erscheinungen, durch Autoren wie Zwinger und Patrizi zugewiesen wurde, als Provokation auffassten; empört schrieb
Keckermann in seinem „Systema logicae“ 1606: „Hocce praeclarum studium velle ab omni intellectu removere et ad
sensum solummodo referre, id vero ab omni ratione foret alienum!“ – es
sei widersinnig, einen so wichtigen Bereich wie die Historia vom Verstande
abzugrenzen und auf die Sinneswahrnehmungen allein zu reduzieren. Die deutsche
logische Schule der Geschichtstheorie des beginnenden 17. Jhs – vor allem der
Freiburger Historiker und Gräzist Jakob Beurer mit seiner „Synopsis historiarum et methodus nova“ 159441), aber auch Keckermann in einer Reihe von Schriften und Gerhard Vossius mit seiner „Ars historica“ 1623 – hat sich geradezu an diesem
Ansatz entzündet. Sie setzten sich nun über die bislang zumeist als sakrosankt
erachteten Vorgaben hinweg42. Ein wesentliches Element ihrer
Argumentation war das exemplum, das zu
liefern ja stets als eine primäre Aufgabe der Historia erachtet wurde43.
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Jakob
Beurer formuliert nun 1594: Historia est
omnis vel divinitus patefacta, vel per sensus quoquo modo hausta et mente
comprehensa singularium rerum cognitio – Historia ist alle Erkenntnis von
Singularien, die entweder durch göttliche Offenbarung oder auf irgendeine Weise
mit Hilfe der Sinne gewonnen und verstandesmäßig begriffen wird. Und er beruft
sich dabei auf die zweite Analytik des Aristoteles, wo alle menschliche Erkenntnis auf Sinneswahrnehmung und
Induktion aus Singularien zurückgeführt wird, und setzt sich damit über die
ursprünglich zugrundegelegte rigorosere Auffassung, dass cognitio nur aus dem Allgemeinen zu erlangen sei,
hinweg.
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Keckermann und Vossius stufen das bei Zwinger gegebene Argument der sinnlichen Wahrnehmung zurück, da
Singularienerkenntnis nicht unbedingt bloß sinnlich sein müsse. Keckermann hat mit der ihm eigenen Übersteigerung der Logik die
Historia als explicatio quaedam logica, als
explicatio logica singularium rerum
bezeichnet44.
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Gerhard Johannes Vossius hat schließlich 1623 in seiner „Ars historica“, Überlegungen
Benis wie Patrizis fortführend, die Formeln von der narratio bzw. cognitio rerum
singularium gewissermaßen umgedreht und argumentiert, dass der
Historia-Begriff auf die Naturalien nicht durchwegs korrekt, sondern teilweise
nur aus etymologischen Gründen und nicht zu Recht angewendet worden sei, da
hinsichtlich der Naturalien zu unterscheiden seien:
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1) |
eine eigentlich philosophische Historia = die Darlegung des
quid est von universalen Gegenständen –
hierher zählt die Naturgeschichte nach Aristoteles und Theophrast (Zoologie und Botanik etc.), sie ist scientia.
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2) |
eine narrative Historia = sie referiert die res singulares jedweden Sachbereiches,
hierher zählen:
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a) |
die Singularienerkenntnis im Sinne der Handlungen Gottes in
der Natur (was die Historia divina einschließt)
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b) |
die Singularienerkenntnis in der menschlichen Welt, die
Historia civilis – darunter versteht er einen Extrakt der Historia humana, der
in etwa der nunmehrigen Auffassung von Historia im engeren Sinne
entspricht.
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Historia definiert Vossius nun kurz und bündig als Cognitio
singularium, quorum memoria conservari utile sit ad bene beateque
vivendum. Scientia wird in
Zusammenhang mit diesem Prozess nicht mehr so sehr als cognitio universalium sondern als cognito necessariorum – Erkenntnis des Nötigen –
aufgefasst.
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Diese Vorgangsweise des Vossius behielt allerdings die Duplizierung der Historia und damit
aber wohl auch die Historisierung aller Bereiche bei – und diese findet sich ja
auch bei Francis
Bacon wieder, der erkennt, dass Grammatik, Logik, Mathematik etc., alle
Disziplinen per historias weiter entwickelt
werden. Z.B. heißt es von den Historiae physicae:
sunt duplices: scriptorum videlicet physicorum et rerum naturalium. |
Das Problem der Historia divina – Gott war natürlich als eine res singularis zu betrachten und wäre unter
den angezogenen Aspekten zur Gänze der Historia zuzuordnen gewesen – löste man,
indem man die Historia divina als die Darstellung der Aussagen des Menschen über Gott definierte, während die Theologie
Gott in formam scientiae et facultatis
behandle.
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Arno Seifert hat festgestellt, dass es an sich in der Diskussion im 16. Jh
ein Leichtes gewesen wäre, Wissenschaft als das zu definieren, was über das
Sinnlich-Singulare hinausgeht. Doch dieser Schritt ist nicht gewagt worden – im
Gegenteil, es ist die neu sich entwickelnde Naturwissenschaft in wesentlichen
Teilen innerhalb des Historia-Konzepts im aristotelischen Sinne verblieben.
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|
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Mit dem zu Beginn des 17. Jhs einsetzenden Empirismus sind
auch in die Historia-Diskussion im Wege von Anforderungen neue Ansätze eingebracht
worden. In dem 1613 erschienen „Lexicon philosophicum“ des Marburger Philosophen
Rudolf Goclenius wird für die dort dritte Begriffsbedeutung von „historia“ auf Galen zurückgegriffen; für den Historia „Kenntnis [ist], die aus eigener oder
fremder Sinneserfahrung im Lauf der Zeit zusammengetragen worden ist“45. Historia wird damit (auch)
zu Erfahrung. Dies wird deutlich bei den Medizinern, die sich von der historia naturalis her des Historie-Problems
annahmen, und ganz besonders bei Francis
Bacon – die Frage der theoretischen Abgrenzung zwischen Historia und
Wissenschaft wird damit insoferne berührt, als die Frage in Diskussion gerät,
inwieferne man der Erfahrung anderer vertrauen könne und damit unter diesem Aspekt
die scientia-Bedingung erfüllt werden könne.
Dass Erfahrung unumgänglich sei, steht außer Streit. Kant wird in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ formulieren: „Erfahrung [all das, was dem Menschen im Wege
seines Bewusstseins widerfährt] ist das erste
Produkt unseres Verstandes, mit ihr fängt alle Erkenntnis an“.
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Das in Bezug auf die Historia Neue, das Francis
Bacon in seiner Wissenschaftslehre aufbringt, ist die Wertschätzung der
Historia als eines Reservoirs an experientia,
an Erfahrungen in der Vergangenheit, mit deren Hilfe die neue Wissenschaft auf
eine umfassende, möglichst erschöpfende Basis gestellt und zu effizienter Arbeit
auf Grundlage der Induktion befähigt werden soll. Es eignet dieser Zielsetzung ein
enzyklopädisches, polymathisches Element, das natürlich über die klassische
Historie im Sinne eines Produkts von Historiographie hinausweist.
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Es stellt dieses Vorgehen einen Akt bewusster Historisierung dar, die
zwar um 1500 in der Vorstellung von der Allgegenwart des historischen Elements im
Wissenschaftsprozess schon vorhanden war, der aber damals noch die theoretische
Fundierung gefehlt hatte46. Francis
Bacon verlangt historischen Empirie: Die Historie habe wohl noch
Wissenschaft über sich, aber auch diese sei wie alle Wissenschaft existentiell auf
das Fundament der Historie angewiesen, der damit – wie ja etwa gleichzeitig auch
bei bereits erwähnten Autoren und bei Vossius – neuerlich eine höchst bedeutende,
ja zentrale Funktion zugeschrieben wird: Wissenschaft ohne Historie sei absolut
unmöglich! Die Forderung nach der Behebung des diesbezüglich bestehenden Defizits
hat Francis
Bacon in der Widmung des „Novum Organon“ an den König adressiert. Da die
Basisarbeit so lange vernachlässigt worden sei, forderte er eine Unterbrechung der
Arbeit, bis die erforderliche Historia naturalis auf den erforderlichen Stand
gebracht sei – die Historie (be)schafft die Gegenstände für die rationale
Erkenntnis! Dies bedeutet eine wesentliche Historisierung der Welt, die weit über
die bisherigen „Anwendungsgebiete“ der Historia hinausgeht.
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Francis
Bacon hat sich aber auch eingehend mit der Historia in einem engeren
Sinne befasst, wenn er auf die Historia
civilis eingeht, die er als Instrument einer neuen doctrina de homine sieht und in drei Unterarten gliedert
|
– |
die Kirchengeschichte |
– |
die Literaturgeschichte (diese nicht so sehr in
poetisch-literarisch-ästhetischem Sinne denn als „Forschungsgeschichte“,
Literatur im Sinne von „philosophischer“, d.h. rational wissenschaftlicher
Forschungsliteratur) und
|
– |
die Historia civilis
specialis, cuius dignitas atque authoritas intra scripta humana eminet –
die Historia civilis im eigentlichen Sinne,
deren Würde und Autorität sich aus den schriftlichen Zeugnissen ehellt.
|
|
Die Bedeutung, die Francis
Bacon der Historia beimisst, ergibt sich auch aus dem Umstand, dass er in
seiner Wissenschaftssystematik, die von den französischen Enzyklopädisten zu ihren
gemacht worden ist, auf drei wesentliche, ihm zentrale geistige Fähigkeiten des
Menschen zurückgreift, nämlich auf die ratio,
die memoria und die imaginatio.
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Für das Verständnis der Wandlung der
erkenntnistheoretischen Positionen in der Historia-Diskussion ist es wesentlich zu
beachten, dass sich in den reformierten Ländern die Theologie als eine „doctrina practica“ definierte, also den von
Thomas von
Aquin und in der katholischen Sphäre weiterhin beanspruchten Rang einer
scientia nicht mehr für sich reklamiert hat.
Dies hatte natürlich auch Auswirkungen auf die anderen Bereiche.
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Francis
Bacon hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Stellung der Historia als
Erkenntnisweg neben oder in Zusammenhang mit der Philosophie außer Streit stand
und damit die zentralen Fragen nicht mehr nur innerhalb des überkommenen Systems,
sondern viel mehr auch von Seiten der Naturwissenschaft aufgerollt werden und die
Philosophie die Historie in ihren Bereich, in ihr Instrumentatrium einbringt. Dies
war nur möglich unter Loslösung von den aristotelisch-scholastischen Vorgaben.
|
Joachim Jungius, Logiker und Bahnbrecher der Empirie in Deutschland, greift in
den 1630er Jahren den Faden in der Diskussion der Singularienerkenntnis wieder
auf, wenn er – an Francis
Bacon anknüpfend – hinsichtlich der experientia differenziert zwischen der experientia ex singularibus de singularibus und der experientia ex singularibus de universalibus. Jungius
hat die Historia als „locuplentissimum
compendium alienae experientiae“ bezeichnet.
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Offen war nun aber doch noch die Frage nach der
Zuverlässigkeit der Grundlagen des empirischen gesicherten Erkennens, also die Frage der Qualität der Erkenntnis aus der
Historia, der Qualität der facta – was
geht eigentlich vor dabei? Wer erkennt und auf welcher Grundlage? Am deutlichsten
wird dieses Problem erfasst im Falle der Trennung zwischen erfahrendem und
verarbeitendem Subjekt, das gilt ganz besonders für die Nicht-Zeitgeschichte. Cognitio singularium wurde stets als cognitio propria, sensu proprio aufgefasst.
Jetzt aber fragte man sich, inwieweit eine cognitio
aliorum sensibus – etwa von Historiographen – möglich sei und inwieweit
hier Zuverlässigkeit vorausgesetzt werden könne.
|
Tommaso Campanella stellte dazu fest, dass die Glaubwürdigkeit von Nachrichten
von der autoritas der Sinne abhänge. Die als
selbstverständlich zugrunde gelegte Glaubwürdigkeit der eigenen Sinneswahrnehmung
wollte er bona fide und in der Theorie wohl
nur auch anderen Menschen zugestehen47 – sicuti enim
propriis sensibus fidem adhibet meum, ita et alienis.
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Als Ergebnisse der Diskussion bis um 1625 bleiben
festzuhalten
|
– |
dass historische Erkenntnis als Erkenntnis von empirischen
Tatsachenwahrheiten nur im Wege der Wahrnehmung – der eigenen gleichermaßen wie
der anderer Individuen – möglich sei,
|
– |
dass sie eine für alle weiteren Stufen der Erkenntnis
unentbehrliche cognitio logica (et probabilis) sei, indem sie die Gegenstände
für die rationale Erkenntnis beschaffe,
|
– |
dass eine logisch stringente Reduzierung auf die Geschichte
des Menschen nicht gelungen ist, auch wenn sie in der Praxis gehandhabt wurde
und
|
- |
dass - wie sich noch herausstellen wird – auch die Problematik der
Wahrnehmung sensibus alienis nicht
befriedigend gelöst ist.
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|
Und: es ist auf die außerordentliche Dichte und Intensität
dieser Diskussion hinzuweisen, die den hohen Stellenwert bezeugt, den man der
Sache beigemessen hat.
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In seinem bahnbrechenden „Discours De La Methode Pour bien
conduire sa raison, et chercher la verité dans les sciences“ verwirft René Descartes 1637 in radikalem Skeptizismus in Hinblick auf
wissenschaftsgeleitete Erkenntnis die sinnliche Wahrnehmung als Grundlage der
Erkenntnis und damit natürlich auch die Berechtigung bzw. Tragfähigkeit von
Erkenntnis aus der Historie – als Wissenschaft akzeptabel erscheint ihm nur, was
„cognitio indubitata“ liefere, nämlich das
mathematische Verfahren. Diesem stellt er die „Wahrscheinlichkeitsschlüsse der Scholastik“ gegenüber48 und die Auffassung, „alles als
beinahe falsch anzusehen, was nur wahrscheinlich ist“, die der Bereitschaft
nahesteht, „etwas als absolut falsch zu verwerfen,
sobald sich der geringste Zweifel regt“49. Damit bot
Descartes seinem Gegner Gottfried Wilhelm Leibniz später die Möglichkeit, den Vorwurf der Geschichtsverachtung
gegen ihn zu erheben, was einige Wirkung nach sich zog. Descartes löste nämlich einen unter der Bezeichnung Pyrrhonismus bekanntgewordenen radikalen Kritizismus aus, der sich
jedoch letztlich in seiner Überzogenheit (vor allem bei Jean Hardouin SJ, der weite Teile der Geschichte des Mittelalters als
Produkte systematischer Fälschungstätigkeit bezeichnete) sehr positiv für die
Geschichtsforschung auswirkt, indem er über Pierre Bayle die Entwicklung der kritisch-akribischen Geschichtsforschung
fördert: Bayle wandelt das generelle, die Historie an sich betreffende Argument
des Descartes in ein Argument der Kritik um, die in Bezug auf die „facta“ anzuwenden sei; und diese Kritik hat
Bayle an seinem berühmten „Dictionnaire historique et critique“
demonstriert.
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Überhaupt gewinnt im Verlaufe des 17. Jhs die historische Praxis an
Boden gegenüber der theoretischen Grundlegung der Historia.
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Giovannbattista Vico hat in seinen „Principii l'una scienza nuova d'intorno alla commune
natura delle nazioni“ – Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die
gemeinschaftliche Natur der Völker – um 1725 Descartes seine Auffassung entgegengestellt, dass gerade die historische
Welt erkennbar sei, da sie im Unterschied zur Natur durch den Menschen geschaffen
worden sei, der sie eben deshalb erfassen könne50.
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In England und im romanischen Bereich gab man sich vorerst
mit den Ergebnissen der Theoriediskussion bis auf Bacon zufrieden und vor
allem in Frankreich hat Francis
Bacon die weitere Entwicklung im Wege der Enzyklopädisten langehin
maßgeblich bestimmt – die entsprechende Systematik in der Encyclopedie Diderots und d'Alemberts (1751–1780) entspricht der Francis
Bacons:
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Im deutschen Sprachraum ist die Diskussion jedoch fortgeführt
worden, wobei es primär um die Absicherung der Wahrscheinlichkeit jener Inhalte
ging, die sensu alieno eingebracht wurden.
Infolge begrifflicher Unschärfen und der Vermengung verschiedener unter dem Wort historia erfasster Bereiche verlief die Diskussion
allerdings zeitweise wenig fruchtbar.
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Um 1700 wurde das, was die Historie an Erkenntnis lieferte, als „historische Wahrheit“, nicht selten aber auch als
„historischer Glaube“ bezeichnet – der
rationalistische Philosoph und Leibniz-Exeget Christian von Wolff51 vertrat 1754 die
Ansicht, dass die historische Praxis nicht Wissenschaft sein könne, da man die „historische Wahrheit“ nicht wissen könne, sondern
glauben müsse.
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Francis
Bacon hatte die Demonstrierbarkeit der der Philosophie zugrundezulegenden
Aussagen gefordert. Natürlich erwies es sich, dass die geforderte demonstratio in der historischen Praxis nicht zu erbringen war,
weshalb man in der Historia auf die fides
angewiesen zu sein schien, die ihrerseits auf Wahrscheinlichkeit gegründet sei – cum enim fides historica tota [...] in verisimilitudine fundetur. Christian Thomasius hat im Zuge seiner Untersuchung hinsichtlich der Qualität der
historischen Aussagen, fortführend, was noch relativ unbestimmt bei Keckermann und anderen berührt worden war, hervorgehoben, dass die
Qualität der historischen Erkenntnis die einer Wahrscheinlichkeit in einem doppelten
Sinne sei, indem nämlich einmal der Tatsachenbestand an sich nur wahrscheinlich sei
und zweitens auch die ihn bezeugende Überlieferung als Historia nur
Wahrscheinlichkeitswert habe.
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Das bewegende Problem bestand immer noch im Unterschied zwischen der
eigenen Sinneswahrnehmung und der anderer, also darin, dass man der Argumentation
Campanellas nicht so einfach zu folgen vermochte (zumal ja auch Campanella zuerst einen bedeutenden Unterschied geortet hatte, den er dann
erst wieder hinweg argumentierte). Damit blieb das alte scholastische Argument der
auctoritas, des locus ab auctoritate, also der auf Autorität unterschiedlicher
Glaubwürdigkeit gestützten Aussage, das schon Peter Abaelard in Frage gestellt hatte, relevant. Auch dies war nun in seiner
Abstufung ein Argument der probabilitas, der
Wahrscheinlichkeit.
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Es war offenbar der spanische Spätscholastiker Melchior Cano
(1509–1560), der zuerst die Idee verfolgte, das bis dahin stets als Negativum
empfundene Element der auctoritas bzw. der probabilitas, die Ungewissheit der dialektischen
Prämissen, positiv zu besetzen bzw. zu kalkulieren, als etwas, was eher der
Gewissheit, der certitudo, nahekomme als der
völligen Ungewissheit und „Un-Wahrscheinlichkeit“. Im 17. Jh war nun die Entwicklung
der Wahrscheinlichkeitsrechnung in Gang gekommen, was die positive Besetzung des
Begriffes verisimilitudo bzw. probabilitas natürlich steigerte. Es war dann Gottfried Wilhelm
Leibniz, der die probabilitas als eine
Eigenschaft von Schluss-Sätzen, also in einem logischen Verfahren auffasste, was für
den locus ab auctoritate nicht beansprucht
werden hatte können52.
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Thomasius ist in seiner Dissertation „De fide juridica“ (1699) diesen
Fragen nachgegangen. Er gelangte zur Überzeugung, dass Wissenschaft dann vorliege,
„wenn ich meine eigenen Empfindungen und die
Ursachen derselben vollkommen erkenne". Daraus folgt ihm, „dass aller Beweis nur wahrscheinlich sey, wenn der Grund desselben in
experientia aliorum oder conceptu ex inductione orto fundirt ist.
Wahrscheinlichkeit heißt, wenn ich fremde Erfindungen und Ursachen sowohl der
eigenen als fremden Empfindung unvollkommen erkenne“. Damit umfasst der
Bereich des nur als wahrscheinlich Erkennbaren alles, was aus dem sensus alienus stammt.
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Aus diesen Überlegung resultierte eine Zweiteilung der historischen
Erkenntnis: die sensu proprio erkannten
Bereiche, soweit sie als gewiss der scientia
zugeordnet werden können, und die sensu alieno
erkannten, denen diese Qualität generell nicht zukam. Historia wäre demzufolge
wieder nicht mehr als nuda facti notitia – bloße
Wahrnehmung des Geschehenen.
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Hermann Samuel Reimarus (1694–1768), ein Schüler Christian Wolffs, hat in seiner 1756 erschienen „Vernunftlehre als eine Anleitung
zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntnis der Wahrheit“ alle Erkenntnis
aus der Erfahrung als „ein historisches Erkenntnis,
soferne es wirkliche Dinge und Begebenheiten vorstellet“, bezeichnet bzw.
„des historischen Erkenntnisses Wahrheit [als]
durch die Einstimmung unserer Vorstellung mit dem
Empfundenen bestimmt“; da aber alle Vernunfterkenntnis Erfahrung voraussetze,
hätten wir „nicht Ursache, die Erfahrung unter dem
Namen des historischen Erkenntnisses verächtlich anzusehen“. Gleichzeitig hat
sich Chladenius mit der Historie in Hinblick auf das Geschehen, das Problem
seiner Wahrnehmung und deren Überlieferung beschäftigt, wobei er bemerkt, dass es
„auch schon längst gewöhnlich“ sei, „dass wenn man von Geschichten handelt, man dadurch die
Begebenheiten der Menschen verstehet“.
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Klarheit hat im deutschen Bereich erst wieder Kant
geschaffen.
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Zu Beginn des 18. Jhs ergibt sich so für die Auffassung von
Erkenntnis aus der Historie das grundlegende Eingeständnis, dass über den
Wahrscheinlichkeitscharakter von historischer Erkenntnis nicht hinauszukommen sei,
dass durch historische Erkenntnis höherer Gewissheitsqualität nicht zu erlangen sei.
Daraus leitete man die Notwendigkeit der Akzeptierung eines entsprechenden, eigenen
Modus des Erkennens ab, wie dies in Zedlers Universallexikon53 zum Ausdruck gebracht wurde: dass man
nur eine der Struktur und Organisation des Erkenntnisbereiches adäquate
Erkenntnisgewissheit fordern könne (wie dies ja Aristoteles bereits in der „Nikomachischen Ethik“ formuliert hatte);
selbst die Vernünftigeren unter den Mathematici wüssten nun schon, dass man die
mathematische Methode „nicht allezeit
applicieren“ könne, schon gar nicht auf die philosophischen Wissenschaften,
die "zum größten Teil nur auf Wahrscheinlichkeit
beruhen" – dies signalisiert das endgültige Aus des
scholastisch-thomistischen Aristotelismus – "Wie sehr
dem Fortgang der Wissenschaft die Knechtschaft zu philosophieren geschadet hat,
bezeugt die Historie von allen Jahrhunderten. Wer weiß nicht, wie wenig Fortgang
man in der Weltweisheit verspüret, solange man nicht eines Nagels breit von der
aristotelisch-scholastischen Philosophie abgehen durfte" (Zedler s.v. Wissenschaft). Zedlers Universallexikon stellt weiters fest: die Erkenntnis, d.h. das auf
Grundlage der Ratio erfolgende Erkennen ist dreifacher Natur: historisch,
philosophisch, mathematisch. Damit ist die Historia in
den Bereich der Ratio einbezogen.
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Dementsprechend ist das bei Zedler (ca. 1730–1750) gegebene Wissenschaftssystem gegliedert:
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Die Theorie dazu lieferte Kant
nach. 1752 – im selben Jahr, in dem Chladenius seine „Allgemeine Geschichtswissenschaft“ erscheinen lässt –
veröffentlicht Georg
Friedrich Meier, ein Anhänger Christian Wolffs, seine „Vernunftlehre“. Dieses Werk ist die unmittelbare Vorlage
für Kants Auffassungen in bezug auf die Historie. Deshalb seien hier Meiers
und Kants zum Teil nur kommentierende bzw. präzisierende Formulierungen
unmittelbar zusammengestellt.
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Georg
Friedrich Meier unterscheidet wie Wolff die sogenannte „Vernunfterkenntnis
aus Gründen“ von der „gemeinen Erkenntnis,
welche man auch die historische Erkenntnis nennet“ und der das Vermögen
fehlt, „aus den Gründen auf eine deutliche Art zu
zeigen, dass die Sache sey, dass sie so und nicht anders sey“. Kant
brachte dies auf den Punkt: „Alle Gelehrsamkeit ist
entweder historisch oder rational; sie hat entweder Objecte der Geschichte oder
Objecte, die nur durch Vernunft denkbar sind“54. Historische Erkenntnis liege dann vor, „wenn man [...] das Allgemeine aus
dem Besonderen zieht oder auch das Besondere vor [= für] sich betrachtet [...] Erfahrung
lehrt uns wohl, was da sei, aber nicht, dass es gar nicht anders sein könne“.
Den Stellenwert der historischen Erkenntnis setzt Georg
Friedrich Meier sehr hoch an: „Die gemeine
Erkenntnis ist der vernünftigen Erkenntnis unentbehrlich“, wie die gelehrte
Geschichte zeige, und überhaupt sei der „größte Theil
der menschlichen Erkenntnis, im Ganzen betrachtet, bloß historisch“,
beispielweise hätten es die „Naturlehrer in der
historischen Erkenntnis der electrischen Kraft ungemein weit“ gebracht, nicht
aber hätten sie die Vernunfterkenntnis darüber erlangt. Kant
fasst zusammen: „Die Experimentalphysik ist
historisch; denn sie geht auf einzelne Fälle zurück. Sobald man sie aber durch
allgemeine Sätze erkläret, wird sie vernünftig. Die Historie schafft nur
Gegenstände zur rationalen Erkenntnis“.
|
In Fortführung eines Wolff’schen Ansatzes vertritt Georg
Friedrich Meier die Auffassung, dass in den historischen Wissenschaften
„die Wahrheiten nur zufällig“, in den
dogmatischen [= rationalen] Wissenschaften aber „wenigstens mehrenteils schlechterdings notwendig“ sei. Die beiden Formen der
Erkenntnis schienen ihm in einander überführbar. Kant
hat dies weit deutlicher und prägnanter gefasst: „Es
kann ein historischer Gegenstand rational und ein rationaler historisch erkannt
werden. Vernunfterkenntnisse sind von den historischen nicht der Materie, sondern
nur der Form nach unterschieden. [...] alles
Erkenntnis [ist] subjektiv, entweder
historisch oder rational“.
|
Hinsichtlich der Erkenntnisgewissheit führt Georg
Friedrich Meier auf Grundlage dreier Quellen drei Ebenen an:
|
1) |
unsere eigene Erfahrung = ihre Sätze sind in dieser Welt
gewiss
|
2) |
Vernunftsbeweise a priori = alles, was aus sachlich oder
logisch Vorangehendem erschlossen wird
|
3) |
„die Erfahrung anderer Menschen.
Wenn ein anderer um eines Zeugnisses willen etwas für wahr hält, so glaubt
er |
|
– |
die Sache,
|
– |
dem Zeugen und
|
– |
dem Zeugnisse [...] Wir nennen diesen Glauben den historischen Glauben,
weil er sich bloß auf würkliche Sachen erstreckt, und die Historie von
dergleichen Dingen handelt, während die allgemeinen Wahrheiten [...] aus der Vernunft und aus der eigenen Erfahrung
bewiesen werden müssen“. |
|
Kant
formuliert in Bezug auf Punkt 3 hinsichtlich des Bestimmung, um welche Art von
Erkenntnis es sich handle: „Die historische
Erkenntnis ist cognitio ex datis, die rationale aber cognitio ex principiis. Eine
Erkenntnis mag ursprünglich gegeben sein, woher sie wolle, so ist sie doch bei
dem, der sie besitzt, historisch, wenn er nur in dem Grad und so viel erkennt, als
ihm anderwärts gegeben worden, es mag dieses ihm nun durch unmittelbare Erfahrung
oder Erzählung oder auch durch Belehrung (allgemeine Erkenntnisse) gegeben
sein“.
|
Hinsichtlich des „historischen Glaubens“ teilt Kant
in seiner noch stark an Georg
Friedrich Meier angelehnten Logikvorlesung dessen Auffassung, wenn er
schreibt: „der größte Teil unserer historischen
Erkenntnis entspringt aus dem Glauben“. Doch hat er hier in der Folge eine
wesentliche Differenzierung vorgenommen: In seiner Schrift „Was heißt: Sich im
Denken orientieren“ (1786) vertritt er die Ansicht: „Der historische Glaube [...] kann ein Wissen
werden. Etwas bloß auf Zeugnis für wahr halten“ und es doch wissen, „das steht ganz wohl beisammen“. 1790 nimmt er dann
in seiner „Kritik der Urteilskraft“ die endgültige Zuteilung auf die drei „Modi des Fürwahrhaltens“ vor:
|
– |
Wissen (= scibile)
= rational und empirisch fundiertes Fürwahrhalten
|
– |
Meinen (= opinabile)
= empirisch fundiertes Fürwahrhalten
|
– |
Glauben (= credibile
= Fürwahrhalten in allen Bereichen, in denen es kein scibile und kein opinabile
gibt.
|
|
„Der sogenannte historische
Glaube kann daher eigentlich auch nicht Glaube genannt und als solcher dem Wissen
entgegengesetzt werden, da er selbst Wissen sein kann. Das Fürwahrhalten auf ein
Zeugnis ist weder dem Grade noch der Art nach vom Führwahrhalten durch eigene
Erfahrung unterschieden“55 und weiter führt er später aus: „Denn ob uns gleich, was wir nur von der Erfahrung anderer durch Zeugnis lernen
können, geglaubt werden muss, so ist es doch darum noch nicht an sich
Glaubenssache; denn bei jener Zeugen einem war es doch eigene Erfahrung und
Tatsache, oder wird als solche vorausgesetzt. Zudem muss es möglich sein, durch
diesen Weg (des historischen Glaubens) zum Wissen zu gelangen; und die Objecte der
Geschichte und Geographie, wie alles überhaupt, was zu wissen nach der
Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen wenigstens möglich ist, gehören nicht zu
Glaubenssachen, sondern zu Tatsachen“56.
|
Über die Differenz zwischen der eigenen Wahrnehmung und jener sensu alieno ist aber auch Kant
nicht hinweggekommen: „Die empirische Gewissheit ist
eine ursprüngliche (originarie empirica), sofern ich etwas aus eigener Erfahrung,
und eine abgeleitete (derivative empirica), sofern ich durch fremde Erfahrung
wovon [= von etwas] gewiss werde. Die letztere
pflegt auch historische Gewissheit genannt zu werden; [...] das historische oder mittelbare empirische Wissen beruht auf der
Zuverlässigkeit der Zeugnisse“57.
|
In erkenntnistheoretischer Hinsicht hat Kant
für den deutschen Sprachraum für nahezu 150 Jahre einen Schlusspunkt unter die
Diskussion um die Erkenntnisqualität von Historia gesetzt. Man hatte zwar nicht die
Fundierung der Erkenntnis aus der Historie in einem aristotelischen Maßstäben
entsprechenden Sinne erreicht, aber doch nach eingehender kritischer Durchleuchtung
der Probleme auf akzeptabler Basis eine kompromisshafte Anpassung der
Wissenschaftsauffassung an das als möglich Erkannte herbeigeführt, die bewirkte,
dass die Diskussion an Brisanz verlor. Dazu hatte auch die Entwicklung der
Geschichtsforschung und einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit beigetragen.
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Aber noch während Kant
an der Arbeit war, wurde anderweitig bereits wieder der Versuch unternommen, doch
über die nun nach langem Ringen gesetzte und weithin anerkannte Grenze
hinauszugehen. Turgot und Condorcet beginnen jene Vorstellungen zu entwickeln, die im 19. Jh in
massiver Weise zur Auseinandersetzung mit der scheinbar gesicherten Grundlage der
Geschichtswissenschaft, ja der Geisteswissenschaft des deutschen Idealismus führen
werden. In dieser Auseinandersetzung ist auf die eben dargestellte Diskussion in der
Frühen Neuzeit so gut wie nicht zurückgegriffen worden.
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Im ausgehenden 14. Jh setzt eine Überlagerung der
traditionellen, aus dem Mittelalter heraufreichenden Historiographie durch Arbeiten
der frühen Humanisten ein, die sich an klassisch-antiken Vorbildern orientieren und
aus ihrer philologisch-kritischen Haltung und aus einer gewissen Distanzierung zum
kirchlich-theologisch dominierten Weltbild heraus eine neue Wahrnehmung des
Historischen und vor allem einen neuen Quellenbegriff entwickeln.
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Diese Entwicklung nimmt in Italien ihren Anfang und breitet sich rasch,
aber in unterschiedlichem Ausmaß über ganz Europa aus. Ihr Fortgang wird wesentlich
bestimmt durch die Ausweitung der Kritik von der literarisch orientierten
philologischen Textkritik auf die historischen Quellen einschließlich der Bibel, im
16. Jh noch auf eine sachlich-inhaltsbezogene Kritik bis schließlich zu einer auch auf
fundamentale weltanschauliche Bereiche übergreifenden inhaltlichen Kritik selbst am
Alten und am Neuen Testament.
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„Italien“ ist das Geburtsland des Humanismus und der
humanistischen HistoriographieZur Geschichte der neueren
Historiographie ist immer noch unverzichtbar Eduard Fueter, Geschichte der
Neueren Historiographie, München-Berlin 1911 (= Handbuch der Mittelalterlichen
und Neueren Geschichte, hg. von Georg von Below und Friedrich Meinecke,
Abteilung I: Allgemeines). Zur Geschichtsschreibung des Humanismus ist auch
immer noch Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in
Deutschland unter dem Einfluss des Humanismus, Leipzig 1910 (= Beiträge zur
Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 6), zu vergleichen. In
Hinblick auf Österreich ist unverzichtbar Alphons Lhotsky, Österreichische
Historiographie, Wien 1962 (Österreich Archiv), Alphons Lhotsky, Quellenkunde
zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs, Graz-Köln 1963 (= MIÖG Erg.Bd
19).. Von dort strahlt sie aus auf das übrige Europa. Dieser
Prozess ist maßgeblich stimuliert worden durch die politische Entwicklung –
Erkenntnis der Bedeutung eines Gleichgewichts der Kräfte und der Notwendigkeit der
Stabilisierung des politischen Systems durch Diplomatie und dann den Einfall der
Franzosen in Italien im Jahr 1494 – beides lässt die Frage nach dem idealen Staat
und nach den Gründen für die Leistungsfähigkeit oder Ohnmacht von politischen
Systemen vor dem Hintergrund des alten römischen Imperiums als Vorbild der
Einigkeit Italiens zentrale Bedeutung gewinnen und macht die Beschäftigung mit der
Historie zu einem Instrument der Politik.
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Der Ausweitungsprozess über Italien hinaus erstreckt sich bis weit in
das 16. Jh hinein. Die durch die wegweisenden Humanistenhistoriker vertretenen
Ideen erweisen sich in weiterer Folge bis in das 18. Jh hinein als fruchtbar,
indem sie in entsprechend erneuerter und ausgeweiteter Form zur Grundlage neuer
„Wellen“ der Entwicklung der Geschichtsforschung und schließlich der
Geschichtswissenschaft werden.
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Die Anfänge Francesco
Petrarca (1304–1374) stammte wie Bruni aus Arezzo und ist der Begründer des Humanismus auf christlicher
Grundlage; Studium der Rechte in Montpellier und Bologna, niedere Weihen, im
Dienste des Kardinals Colonna; Petrarca wurde 1341 auf dem Kapitol zum poeta laureatus gekrönt und setzte die von Dante begonnene poetische Tradition fort, ist in seiner Zeit aber vor
allem wegen seiner Begeisterung für die Antike und für die Auseinandersetzung mit
den klassischen Autoren bekannt. Als er von Karl IV. 1358 um seine Meinung
bezüglich der Maius-Reihe befragt wurde, erkannte er die Unechtheit des Caesar- und des Nero-Inserts im Privilegium maius; aber nicht
mehr. Als Historiograph war er kritisch wegweisend mit seiner Geschichte Roms in
Biographien ("Quorundam clarissimorum heroum epitoma", meist zitiert als "Liber de
viris illustribus"), die nach seinem Tod von Schülern fortgesetzt wurde. Dieses
Werk entsprang nicht wissenschaftlicher Zielsetzung, sondern der schwärmerischen
Rückbesinnung auf die einstige Größe Roms (= Italiens). Zu seinen wichtigsten
Schriften zählen seine Briefe, die in mehreren Sammlungen überliefert sind.
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Giovanni Boccaccio (1313–1375) griff seines Lehrers Petrarca Ideen auf, verfasste mit "De claris mulieribus" ein weibliches
Gegenstück zu Petrarcas Biographien und zahlreiche weitere Biographien; auch er ist
noch weit weniger kritisch denn poetisch. Mit seinen Novellen gilt er als der
Schöpfer der italienischen Prosa.
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Bedeutende Wirkung entfaltete Lorenzo
Valla (1407–1457) aus Piacenza, als er die Unechtheit der
Konstantinischen Schenkung nachwies – ein Faktum das an sich nicht neu war
(bereits von Nikolaus von
Kues vermutet und von Bischof Reginald Peacock in England bereits nachgewiesen), nun aber allgemein anerkannt
wurde und an die 100 Jahre lang für Aufregung sorgte. Lorenzo
Valla unterzog wohl als erster den Text des Neuen Testamentes einer
Kritik, übersetzte Homer, Herodot, Thukydides, Xenophon und schrieb eine Abhandlung zum Humanistenlatein. Er war mit
Nikolaus von
Kues und Kardinal Bessarion befreundet.
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Und in Venedig Bernardo Giustiniani (1408–1489) tritt als kompetent sachkritischer Historiker
hervor.
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Diese Steigerung des historischen Bewusstsein durch den
Humanismus hatte eine Nebenwirkung in der Herstellung einer Fülle von
humanistischen Fälschungen bis in das 17. Jh hinein, die konkreten privaten,
politischen und ideologischen Zwecken dienten und zumeist Lücken in der
Überlieferung stopfen sollten.
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Die humanistische Geschichtsschreibung in Italien ist
geprägt von
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dem Bemühen um eine den klassischen Vorbildern entsprechenden
Rhetorik, also eine ästhetisch-künstlerisch gewissen Regeln entsprechende
sprachlich-kompositorische Gestaltung,
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der Loslösung von traditionell kirchlich-dogmatischen
Elementen = Säkularisierung und
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der bald auftretenden Einflussnahme politischer Tendenzen:
gegen den Papst und gegen das Reich, denn den Hintergrund für diese
historiographischen Neuerungen bildeten die spätmittelalterlichen
Territorialstaaten.
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Eine früh gepflegte Gattung der humanistischen
Geschichtsschreibung war die der historischen Biographie nach dem Vorbild Suetons und auch Plutarchs, eingeführt durch Boccaccio mit seinen Künstlerbiographien und „De claris mulieribus“
und durch Filippo Villani (1325–1405); für Österreich ist diesbezüglich interessant Enea
Silvio de Piccolominibus = Papst Pius II. (1405–1464) mit seinen „De viris illustribus“ mit 65 Biographien,
darunter auch solche von Habsburgern.
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Aus der Intensivierung des kritischen Studiums der
vorbildhaften klassischen Autoren wie vor allem des Livius, aber auch des Tacitus entwickelte sich die humanistische Annalistik, als deren
"Erfinder" und Initiator betrachtet wird:
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Leonardo Bruni (1369–1444), verfasste eine enorme Vorbildwirkung entfaltende
Geschichte der Stadt Florenz ("Historiarum Florentinarum libri XII"), die bis
1404 reicht, sowie eine Geschichte Italiens ("Rerum suo tempore in Italia
gestarum commentarius") verfasste, deren Stoff streng nach dem Vorbild der
antiken Annalen gegliedert wird; die Darstellung unterliegt allerdings noch
stark der Vorbildwirkung bzw. dem Streben um poetisch-literarische Geltung, was
die freieren Ansätze in seiner Arbeit zunichte macht. Bruni schuf auch zahlreiche Übersetzungen und mit „De interpretatione
recta“ eine Anleitung zur Erstellung solcher sowie eine Anleitung zum Studium
der Klassiker („De studiis et litteris“).
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Bruni wurde nicht nur in Florenz nachgeahmt, sondern rasch in ganz
Italien – in Venedig sind vor allem Marcantonio Coccio (ca. 1436–1506), mit einer Geschichte Venedigs und einer in
ihrer Konzeption wichtigen Weltgeschichte ("Enneades sive Rhapsodia
historiarum") und Pietro Bembo, 1470–1547, zu nennen. – Fueter schreibt: „Nach dem Ablaufe
einer Generation ungefähr besaß jeder größere italienische Staat eine
Landesgeschichte neuen Stils“ – und strahlte aus auf „Spanien“ (Zurita) und England (Morus und Vergilio) – s.w.u.
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Unabhängiger ist Paolo Giovio (1483–1552) mit seinen "Historiarum sui temporibus [1494–1547]
libelli XLV" und Biographien, stark journalistisch, um Autopsie der Orte und
Interviews bemüht, darstellungsmäßig aber eher schwach.
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Die humanistische Annalistik wird in einer „neueren Annalistik“
gegen Ende des 17. Jhs wieder aufgegriffen. Die „Annales ordinis sancti
Benedicti“ des Jean Mabillon, Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) mit seinen "Annales imperii occidentis
Brunsvicensis" und Ludovico Antonio Muratori (1672–1750) mit seinen „Annali d'Italia del principio
dell'era volgare sino all'anno 1749“ (fortgeführt bis 1870!) sind die
bedeutendsten Beispiele.
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Diese Richtung eröffnet nahezu vorbildlos eine bedeutende
neue Strömung mit der systematischen topographischen Bearbeitung eines Raumes
wesentlich unter Heranziehung nichtschriftlicher Quellen. Ihr Begründer Flavio
Biondo (1388–1463) aus Forli ist um die reine Historie ohne
künstlerischen Anspruch bemüht; er war ab 1434 Sekretär an der Kurie. Biondo betrieb antiquarische, quellenkundliche Studien, vornehmlich
zur römischen und italischen Altertumskunde, und sammelte: er reiht Exzerpt an
Exzerpt und liefert eigentlich nur das Material für eine künftige
Geschichtsschreibung. Wir verdanken ihm
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1446: die erste ernstzunehmende Topographie Roms: "Roma
instaurata" = Darstellung der Stadt Rom und damit auch der römischen Ruinen im
damaligen Zustand, was sehr wertvoll ist, da in der Neuzeit große Teile der
antiken Ruinen als Steinbrüche verwendet und abgetragen wurden; das Werk wurde
1446 abgeschlossen und 1471 gedruckt, sowie
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1453: ein Werk, das durch Jahrhunderte Vorbildfunktion
hatte: die „Italia illustrata“, eine
topographisch gegliederte archäologisch-antiquarisch-historische Beschreibung
Italiens (es fehlen allerdings Süditalien und Sizilien), ein Lexikon, das 1453
abgeschlossen und 1474 gedruckt wurde. Wie der Titel des Livius’schen Werkes bis in das 19. Jh. hinein nachgeahmt worden ist,
so hat auch dieser Titel fortgelebt. Viele deutsche Humanisten beabsichtigten,
ein Gegenstück, die "Germania illustrata" zu schaffen; doch wurde keines der
zahlreichen Vorhaben je verwirklicht. Der Titel aber bedeutete ein Trauma, er
wirkte als Verpflichtung und Vorbild bis in das 18. Jh hinein (1722 erscheint
des Melker Benediktiners Philibert Hueber "Austria ex archivis Mellicensibus illustrata") und greift
auch auf andere Bereiche über: z.B. Ferdinand Ughelli (1594–1670) "Italia sacra" (Rom 1644–1662), der dann eine
„Germania sacra“ nacheifert.
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1459: "Roma triumphans", ein Handbuch der römischen
Altertümer, das 1459 fertig gestellt und 1472 gedruckt wird,
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Biondo schrieb auch eine trockene, aber durch ihr Material sehr
wertvolle Geschichte des Mittelalters von 412-1440, die sehr häufig
ausgeschlachtet worden ist
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einen Traktat über das Vulgärlatein „De verbis Romanae
locutionis“.
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Biondo verwendete das argumentum ex
silentio und verkörperte erstmals die gelehrte puristische
Geschichtsschreibung, die auf eigenen Nachforschungen und auf Kritik
überlieferter Quellen beruht und auf jeglichen literarisch-künstlerischen
Anspruch verzichtet. Sein historisches Urteil wird allerdings als von mäßiger
Qualität eingeschätzt.
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Die drei genannten Hauptrichtungen – Annalistik,
Biographie und historische Topographik – haben in allen wichtigen europäischen
Ländern Nachfolger gefunden.
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Zu Ende des 15. Jhs kommt es, vor allem in Florenz durch
Macchiavelli, zur Ausweitung des Interesses an der Historie über die
moralische Beispielwirkung und über die originär humanistischen Interessen
hinaus, indem die Beschäftigung mit der Historie und damit die Historiographie
zugunsten der Politik instrumentalisiert werden; es entwickelt sich die
politisch-tendenziöse Historiographie, die in gewisser Hinsicht die Annalistik
in Italien überwindet:
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Niccolo Macchiavelli (1469–1527) war nicht nur Autor des berühmten "Il
Principe" und von Komödien, nicht nur Verfasser hochinteressanter
Gesandtschaftsinstruktionen und -berichte, sondern auch Historiograph, oder
besser historiographischer Publizist. In seiner
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"Geschichte der Stadt Florenz" ("Istorie fiorentine" in 18
Büchern), deren Material wesentlich von Biondo übernommen war und die 1525 fertig gestellt wurde, versucht
er eine Darstellung von der Völkerwanderungszeit bis 1492 nach Wirkung und
Ursache zu geben, die der natürlichen Entwicklung der Stadt entspricht. Macchiavelli wies auf Zusammenhänge zwischen Faktoren hin, die weit
auseinanderzuliegen schienen (sieht z.B. den Einfluss der inneren Entwicklung
auf die Außenpolitik etc.). Der antiken Biographie verpflichtet ist seine
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"Vita di Castruccio Castracani" (1520), eine idealisierende
Biographie des Tyrannen von Lucca, dem er jene Eigenschaften zuschreibt, die
er vom ersehnten Einiger Italiens erwartete.
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Die Geschichtsschreibung ist für Macchiavelli Instrument der Politik, seine Hauptleistung ist die
florentinische Geschichte von den Anfängen bis etwa 1420, in der er zu echter
historischer Analyse jenseits der Facta und zu sachlicher Komposition und
realistischer Sprache vordringt.
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Einige Proben aus den „Istorie fiorentine“ (nach Wagner):
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„Fürwahr, nicht grundlos haben gute
Geschichtsschreiber, wie Livius gewisse Vorfälle ausführlich und
deutlich beschrieben, damit die Nachwelt daraus lerne, wie man sich in
ähnlichen Fällen zu verhalten habe. |
Nichtsdestoweniger greift bei der
Einrichtung, der Republiken, der Erhaltung der Staaten, der Regierung der
Reiche, der Einrichtung des Heerwesens und der Kriegführung, bei der
Rechtssprechung über die Untertanen und der Erweiterung der Herrschaft kein
Fürst oder Freistaat, kein Feldherr oder Bürger auf die Beispiele der Alten
zurück. Das kommt nach meiner Ansicht nicht [...] von unserer schwächlichen Erziehung, [...] als vielmehr von dem Fehlen jeder wahren Geschichtskenntnis, da
man beim Lesen der Geschichte weder ihren Sinn begreift noch den Geist der
Zeiten erfasst. Zahllose Leser finden nur Vergnügen darin, die bunte
Mannigfaltigkeit der Ereignisse an sich vorüberziehen zu lassen, ohne das es
ihnen einfällt, sie nachzuahme. Sie halten die Nachahmung nicht nur für
schwierig, sondern für unmöglich, als ob Himmel, Sonne, Elemente und Menschen
in Bewegung, Gestalt und Kräften anders wären als ehedem. |
Wer also sorgfältig die Vergangenheit untersucht,
kann leicht die zukünftigen Ereignisse in jedem Staat vorhersehen und
dieselben Mittel anwenden, die von den Alten angewandt wurden, oder wenn er
keine angewandt findet, kann er bei der Ähnlichkeit der Ereignisse neue
ersinnen.
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Wenn ich den Lauf der Welt bedenke,
so finde ich, dass die Welt stets das gleiche war. Es gab immer soviel Böses
wie Gutes, aber beide wechselten von Land zu Land. So wissen wir aus der
Geschichte, dass die alten Reiche durch den Verfall der Sitten bald stiegen,
bald sanken; die Welt aber blieb die gleiche, nur mit dem Unterscheid, dass
die Tugend [virtú], die zuerst in Assyrien
blühte, nachher nach Medien und Persien verpflanzt wurde, bis sie endlich nach
Italien und Rom kam. Wenn auf das Römische Reich kein Reich von längerer Dauer
mehr folgte, in dem die Welt ihre ganze Tugend vereint hätte, so zeigt diese
sich noch unter verschiedene tüchtige Völker verstreut. Derart war das
fränkische Reich, das der sarazenische Stamm, der so Großes vollbracht, so
viele Länder erobert und schließlich das Oströmische Reich zerstört hat. In
all diesen Ländern und bei all diesen Völkern herrschte nach dem Verfall des
Römischen Reiches jene Tugend, die man zurücksehnt und mit Recht preist, ja
man trifft sie zum Teil noch jetzt an. |
Es ist von Natur den menschlichen
Dingen nicht gestattet, stille zu stehen. Wie sie daher ihre höchste
Vollkommenheit erreicht haben und nicht mehr steigen können, müssen sie
sinken. Ebenso wenn sie gesunken sind, durch die Unordnungen zur tiefsten
Niedrigkeit herabgekommen und tiefer nicht mehr sinken können, müssen sie
notwendig steigen. [...] Sind die Menschen
durch das Unglück weise geworden, so kehren sie, wie gesagt, zur Ordnung
zurück, es müsste sie denn eine außerordentliche Kraft erstickt
halten.“
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Francesco Guicciardini (1483–1540) bricht endgültig mit den historiographischen
Idealen des Humanismus; seine "Storia fiorentina 1378–1509", der ab 1492 des
Verfassers eigenes Erleben zugrunde liegt, ist als das erste Werk der modernen
analysierenden Geschichtsschreibung bezeichnet worden: klar, präzise, nüchtern;
Wunder werden zwar berichtet, die Aussage aber relativiert (relata refero), literarisch-poetische Konventionen bleiben
unberücksichtigt. Auch Guicciardini vertritt wie Macchiavelli einen bestimmten politischen Standpunkt, erhebt sich aber
weit über den lokalen Horizont, verlässt mit seiner "Geschichte Italiens" die
Ebene der Landesgeschichte und wendet sich der Universalgeschichte zu. Wie
wenige hat er das Urteil der Nachwelt über seine Zeit maßgeblich und lange
bestimmt.
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Eine Sonderstellung nimmt Marino Sanuto (1466–1533) in Venedig ein. Sanuto wurde 1492 mit der Abfassung einer Geschichte der Signorie von
Venedig beauftragt (keine Regierung in Italien hat sich so systematisch und
nachdrücklich um die Geschichtsschreibung gekümmert wie die in Venedig) und
erhielt dafür Zutritt zu vielen Staatsgeschäften. Sanuto begann mit der Sammlung von Material, indem er ein Tagebuch
führte. Auf diese Weise hat Sanuto ein ungeheures Material zusammengetragen (Venedig war damals
neben Rom eines der Zentren Europas und verfügte auf Grund hervorragender
Organisation des Gesandtschaftswesens wie des allgemeinen Nachrichtendienstes
wohl über den besten Kenntnisstand in politicis). Zur eigentlich beabsichtigten
historiographischen Darstellung selbst ist Sanuto nie gekommen, dafür hat er uns seine "I diarii" (1494/96–1533)
hinterlassen, deren engbedruckte Folioausgabe (1879–1903) 36 Bände umfasst!
Sanuto ist neben Zurita (s.w.u.) die mit Abstand beste Einzelquelle dieser Zeit, zumal
sein Werk zahllose Abschriften bzw. Inhaltsangaben von verschiedensten
offiziellen Schriftstücken verschiedenster politischer Mächte enthält.
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Hier fasst der Humanismus vorerst in der Historiographie
nicht in jener Weise Fuß wie etwa in England und Spanien, gleichwohl entwickelt
sich aber eine Annalistik im Gefolge Brunis. Durch die Verschmelzung der nordfranzösischen und flandrischen
Chroniktradition und des Typus des spätmittelalterlichen Fürstenspiegels mit der
humanistischen Memoirenform entsteht in Frankreich ein Werk von
außergewöhnlicher Bedeutung und Wirkungsgeschichte:
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Philippe de Commines (1446–1509) war einer der besten Kenner der Diplomatie seiner
Zeit, er kannte zahlreiche europäische Fürsten und Diplomaten persönlich und
wirkte auch als „Pilot“ am französischen Hof; auf dieser Grundlage entstand in
seinen "Memoires" ein Werk, von dem mit Recht behauptet wird, dass wir heute
nicht mehr festzustellen vermögen, wie unser Bild des 15. Jhs ohne Kenntnis
dieser Darstellung aussähe. Allein bis zum Jahr 1900 hat dieses Werk 123
Auflagen in zahlreichen Sprachen erlebt; es ist heute noch eine hochinteressante
Lektüre.
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Hier fanden beide italienisch-humanistische Schulen und
die florentinische Historiographie Anhänger:
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Thomas Morus (1478–1535), 1529–1532 Kanzler von England, schuf mit seiner
"Geschichte Richards III." das erste – durch die Annalistik Brunis beeinflusste – landessprachliche Geschichtswerk moderner
Prägung.
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Polydor Vergilio (1470–1555) stammte aus Urbino (er kam als päpstlicher
Vizekollektor für den Peterspfennig nach England) und arbeitete im Stile Biondos. 1507 erhielt er von Heinrich VII. den Auftrag zur
Erstellung einer englischen Geschichte. Heinrich VII. und nach ihm Heinrich VIII. erwarteten von Vergilio eine ihrer jungen Dynastie förderliche Darstellung
(angebliche Abstammung der Tudors aus Wales etc.). Vergilio hat 26 Jahre lang Material gesammelt, bis er die "Angliae
historiae libri XXVII" schrieb, die bis 1538 reichen und in denen Vergilio den geforderten Legenden „historische Wahrheit“
gegenüberzustellen suchte. Vergilio ist ausgezeichnet durch den exzellenten Umgang mit den
Quellen.
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Francis
Bacon de Verulam (1561–1626) schrieb in geistiger Nachfolge auf Macchiavelli und Guicciardini eine "Geschichte Heinrichs VIII." (1622, sollte nur der
Beginn einer Geschichte der Tudors sein). Er war als Begründer des
Empirismus einer der bedeutendsten Köpfe der Frühen Neuzeit.
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In England entwickelt sich in der Folge eine ausgeprägte politische
Parteigeschichtsschreibung.
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In „Spanien“ – eine Ansammlung von Königreichen, die nach
und nach zusammengeführt wurden – hatte sich bereits im Mittelalter in Kastilien
eine ausgeprägte "nationale" legendenhafte Geschichtsschreibung entwickelt, die
(ähnlich wie in Frankreich und in Deutschland) dem Eindringen der humanistischen
Vorbilder entgegenstand. Es kommt zu einem Kompromiss mit der Annalistik Brunis; anders als in Deutschland wird hier die Entwicklung aber nicht
durch konfessionelle Auseinandersetzungen gestört.
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Hernando del Pulgar (1436–1492/1500) schrieb in Kastilien als Auftragswerk eine
Geschichte der katholischen Könige, die allerdings bei weitem übertroffen werden
sollte durch
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Geronimo Zurita (1512–1580), dem durch die Unterstützung Philipps II. das große
Archiv zu Simancas offenstand. Zurita schuf mit den „Annales de la corona de Aragon“, deren letzte
zehn Bücher unter dem Titel „Historia del Rey Don Hernando el Catolico“ den bei
weitem wertvollsten, da kritisch fundierten, Teil ausmachen, ein höchst
bedeutendes Werk, da er ähnlich wie Sanuto auf erstklassiges, z.T. heute nicht mehr erhaltenes,
Quellenmaterial zurückgreifen konnte, das er ausführlich präsentiert.
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Juan de Mariana (1535–1625) schuf eine große spanische Geschichte von den
Anfängen (Besiedelung unter Noahs Enkel) bis 1492, dann fortgesetzt bis
1621.
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In weiterer Folge entstand in Spanien eine ausgeprägte
Militärgeschichtsschreibung, die an die Leistungen des in der Reconquista und in
Unteritalien kämpfenden Gran Capitan Gonsalvo da Cordoba anknüpfte, und – von Spanien ausgehend in andere
Länder – unter dem Eindruck der Entdeckungen die ethnographische
Geschichtsschreibung (Amerika, Afrika) – Petrus Martyr (1457–1526) aus Oberitalien, dessen "Opus epistolarum" eine
auch in Bezug auf die Entdeckungsgeschichte sehr interessante, in ihrer
Glaubwürdigkeit aber etwas unsichere Quelle ist, vor allem aber auch Bartolome
de las
Casas mit seiner die Rechtsstellung der Indios betreffenden
Auseinandersetzung.
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Pontus
Heuterus (1535–1602) aus Delft schrieb drei den
burgundisch-niederländischen Raum betreffende Werke vom
katholisch-royalistischen Standpunkt aus; durchaus noch in der humanistischen
Tradition stehend, pflegte er seine Werke rhetorisch zu stilisieren.
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Aus Delft kam auch Hugo Grotius (1583–1645). Grotius, bekannt vor allem als Staats- und Völkerrechtler ("De jure
belli ac pacis") und weniger als der hervorragende klassische Philologe und
neulateinische Dichter, schrieb neben zahlreichen anderen historischen Werken
vor allem eine nach dem Vorbild des Tacitus verfasste niederländische Geschichte "Annales et historia de
rebus belgicis" (für die Jahre 1559–1609), die erst 1657 gedruckt wurde.
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Im deutschen Sprachraum halten sich ähnlich wie in
Frankreich die mittelalterlichen Traditionen langehin, während gleichzeitig
humanistisches Gedankengut wirksam wird. So kommt es zu keinem so raschen
Umbruch wie in Italien. Der deutsche Humanismus ist außerdem stark bestimmt
durch die Beschäftigung mit den Realien (Geographie, Kartographie, Mathematik
und Geschichte), weniger durch die poetisch-literarischen Ideale des
italienischen Humanismus. Die Dominanz des territorialstaatlichen Elements
innerhalb der Heiligen Reiches deutscher Nation wirft (ebenfalls im Unterschied
zu Frankreich oder England) erhebliche organisatorische und kompositorische
Probleme auf – was ist, was kann und soll "deutsche Geschichte" sein? Außerdem
unterbricht die konfessionelle Auseinandersetzung den Gang der Entwicklung: Die
Geschichte wird zum Instrument des Glaubenskampfes und die Historiographie des
konfessionellen Zeitalters erhält apologetischen Charakter, ist dabei natürlich
parteiisch, aber – weil sie sich auf reiches Faktenmaterial stützt –
realistisch, in den Einzelheiten zuverlässiger, und zugleich auch
unpersönlich.
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Die noch in der mittelalterlichen Tradition stehende Chronik hatte
mit Hartmann Schedls (um 1440–1514) 1493 gedrucktem "Liber Chronicarum" (von Adam
bis Maximilian I. bzw. bis zum Jüngsten Gericht) ihre letzte Ausgestaltung
erfahren, wenngleich sie in Johannes Sleidans unter anderem Vorzeichen geschriebenen Werk "De quatuor
summis imperiis" (1556) zumindest noch im Titel anklingt;
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Johann Philippi
(1507–1566), nach seinem Geburtsort Schleiden Sleidan genannt, war ein vornehmlich in Frankreich ausgebildeter
Jurist, der als Sekretär des Bischofs Jean du
Bellay die Verhandlungen mit dem Schmalkaldischen Bund führte, dessen
bestellter Historiograph er dann war. Als solcher schuf er die erste aktenmäßig
belegte Darstellung der Reformation, die er mehr als einen politischen
Befreiungsakt von geistlicher Bevormundung denn als kirchengeschichtliches
Phänomen beschreibt; auf Grund der zahlreichen Quellenexzerpten aus Akten und
Streitschriften ist Sleidans Darstellung "Commentarii de statu religionis et rei publicae
Carolo V. Caesare" bis zur Öffnung der Archive im 19. Jh laufend als
Quellenedition benützt worden. Sleidan ist zwar der Begründer der pragmatischen Geschichtsschreibung
nördlich der Alpen, bleibt aber – im Vergleich zu Macchiavelli – im Material hängen und gewinnt nicht den großen
Überblick samt der aus einem solchen resultierenden Komposition.
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Ein wesentliches Bemühen der deutschen Humanisten galt –
wie schon angedeutet – der Schaffung eines deutschen Gegenstückes zu Biondos „Italia illustrata“, also einer „Germania illustrata“. Diesen
Versuch unternahmen Rudolf
Agricola, Beatus
Rhenanus (1486–1547, ein Freund des Erasmus, der die fragmentarisch bleibende "Rerum Germanicarum libri
tres" verfasst, die in eingehender Weise nur bis in die Völkerwanderungszeit und
skizzenhaft bis zu den Ottonen reichen), Aventin und andere. Realisiert hat das Vorhaben niemand.
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Da Maximilian I. und auch Karl V.
mittelalterlichen Vorstellungen vom Kaisertum huldigen, kommt es in einer
Übergangsphase zur Ausbildung einer im Inhaltlichen traditionalistischen,
methodisch aber modernistisch bestimmten Geschichtsschreibung bzw. -forschung,
vor allem im Umkreis Maximilians I.:
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Johannes Spießheimer, lat. Cuspinianus, (1473–1529), verfasste beispielsweise eher mittelmäßige
"De Caesaribus" – Kaiserbiographien von Caesar bis auf Maximilian I., in die er allerdings die
oströmischen Kaiser und die Sultane als deren Nachfolger einbezieht, und eine
"Austria", die in etwa dem Biondo-Vorbild entsprechen sollte, an dieses freilich bei weitem nicht
herankam.
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Größere Bedeutung kam der Sammeltätigkeit zu, die mit den von Maximilian I. vor allem für habsburgisch-genealogische Forschungen
beschäftigten Humanisten (Johann Stabius, Ladislaus Sunthaym, Jakob Mennel u.a.) einsetzte und auch in den nachfolgenden zwei
Jahrhunderten von Humanisten, humanistisch orientierten Jesuiten und Adeligen im
Interesse der Geschichte ihrer Landschaft fortgeführt wurde; so entstanden
umfangreiche Collectaneen, d.h. Sammlungen von Exzerpten, Abschriften,
Nachzeichnungen aus und von Handschriften, Urkunden, Briefen, Siegeln, Münzen
und Inschriften, die mitunter in wahlloser Zusammenstellung gebunden wurden und
oft bis heute nicht systematisch durchforstet sich erhalten haben. Von Konrad
Peutinger wissen wir, dass er bereits eine Sammlung von deutschen
Kaiserurkunden angelegt hat, durch ihn ist auch die Kopie der Weltkarte des
Castorius als die heute berühmte Tabula Peutingeriana überliefert
worden.
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Aus der Zersplitterung der kaiserlichen Macht und dem
gleichzeitigen Erstarken der Territorien im Zusammenhang mit der Türkengefahr
und mit der Reformation resultierte ein neues Selbstwertgefühl der weltlichen
Stände – erst des Adels, dann auch der Städte. Darin liegt eine wesentliche
Wurzel für die Entstehung der landesgeschichtlichen Geschichtsschreibung und
bald Forschungsarbeit, indem es einzelne Landherren unternahmen, die Materialien
zu einer Geschichte ihres Landes zu sammeln. So entstanden neben der dynastisch
orientierten Geschichtsschreibung eine landständisch-adelige und eine
landständisch-städtisch-bürgerliche Historiographie. Die Ausformung einer
analogen kirchlichen Historiographie fiel vorerst den konfessionellen
Auseinandersetzungen zum Opfer.
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Dieser Prozess sei am Beispiel Österreich beleuchtet: |
Zur dynastischen
Historiographie (am Beispiel der Habsburger) Sie ist eher konventionell
und entartet im Barock zur Panegyrik. Es werden mitunter gewaltige Entwürfe
erstellt, die deren Schöpfer aber trotz reichlicher Förderung nicht zu
realisieren vermögen: so z.B. durch
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Franz Guillimann (1568–1612) aus der Schweiz; er plante eine "Habsburgica
sive de antiqua et vera origine Domus Austriae [Historia]", die alle in
irgendeinem Zusammenhang habsburgischen Besitzungen im österreichischen,
spanischen, portugiesischen Bereich und auch in Australien erfassen und
Österreich als eine Weltmacht „auf allen Kontinenten“ und als eine noch größere
Einheit als das Hl. Römischen Reich darstellen sollte.
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Zu Ende des 16. und hauptsächlich im 17. Jh konzentriert sich die
Historiographie des österreichischen Barock vornehmlich auf die Person des
Kaisers, des Herrschers; die höfische Geschichtsschreibung entsteht, die wegen
des zumeist stark panegyrischen Charakters von minderer Qualität und heute
weitgehend uninteressant ist. Eine Ausnahme davon macht Graf Franz Christoph
Khevenhüller (1588–1650), der – angeregt durch seine diplomatische
Tätigkeit – die "Annales Ferdinandei" (= Ferdinand II.) zusammenstellte,
eine historiographisch bedeutungslose, als Quelle aber sehr wertvolle
Arbeit.
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Die immer häufiger werdende Form des Fideikommiss führte
zur Schaffung von Familienbüchern, -archiven und -kollektaneen. Hier seien die
obderennsischen Jörger
von Tollett genannt, die ihre Briefe mit Martin Luther im Druck veröffentlichten, aber auch eigene Urbare etc.
anlegten. Derartige Sammlungen von historisch-rechtlich relevanten Materialien
einzelner Familien, mit mitunter ausgelagerten Abschriften besonders wichtiger
Stücke, sind die Vorläufer der modernen Urkundenbücher.
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Auf landschaftlicher Ebene (Landschaft = die Gemeinschaft derer,
die im Lande [= Landtag] sitzen, also die Landstände) entwickelt sich bei den
Herren aus dem ausgehenden Mittelalter heraus ein starkes, dem Landesfürsten
gegenübertretendes Selbstverständnis, das sich im 16. Jh im Zusammenhang mit der
Reformation in manchen Ländern bedeutend steigert und gegen Ende dieses
Jahrhunderts in der Form einer Landesgeschichtsschreibung zu artikulieren
beginnt, die aber nicht eo ipso dem Landesherrn gegenüber negativ eingestellt
sein muss, ja oft genug von diesen unterstützt worden ist; es sind dies die
frühesten Formen einer neueren Portionierung von Geschichte. Im habsburgischen
Bereich wird diesem Selbstverständnis der Länder entsprechend die
Gesamtbetrachtung der österreichisch-habsburgischen Länder völlig
vernachlässigt, zumal ja das Gesamte des habsburgischen Herrschaftsbereiches
keine staatsrechtlich relevante Fassung aufwies.
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Am Anbeginn derartiger Landesgeschichtsschreibung und national
betonter Historiographie im deutschsprachigen Raum stehen
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Johannes Turmair, gen. Aventin (1477–1534), mit seinen „Annales ducum Boiariae“ (er verfasst
auch ein erstes Buch einer „Germania illustrata“) und
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Ägidius Tschudi (1505–1572), der in der Schweiz systematisch Urkunden und
Inschriften sammelte und diese systematisch für die Darstellung auswertete; er
neigte allerdings zu genealogischen Erfindungen, zu poetisierenden Ausmalungen
im allgemeinen (Sage von Wilhelm Tell). In seinem Gefolge ist Franz Guillimann (um 1568–1612) zu sehen, der die ältere Schweizer
Geschichte nach den Regeln der Biondo-Schule behandelte und diesbezüglich ein kritischer,
verständiger, nüchterner Forscher war, der allerdings Tschudi als Autorität betrachtete (hinsichtlich der Tellsage und der
Gründung der Waldstätten war er skeptisch, durfte aber als Katholik, als der er
von den Urkantonen abhängig war, seine Ansicht darüber nur in Andeutungen und
das nur unter Protest der Stände veröffentlichen). Guillimann wurde von Erzherzog Maximilian III. von Tirol mit
allen Mitteln gefördert; nach seiner großen Schweizer Geschichte von 1598 plante
er eine monströs angelegte Geschichte des Hauses Österreich als Weltmacht, in
die alle Erdteile einbezogen werden sollten (s.o.).
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Im österreichischen Bereich ist der evangelische Baron Reichard
Streun von Schwarzenau (1538–1600) hervorzuheben, der umfangreiches
Material sammelte, und zwar mit besonderer Unterstützung durch das
Herrscherhaus; die so erstellten Streun’schen Kollektaneen sind ein heute noch interessantes, weil noch
immer nicht ganz ausgewertetes Quellenmaterial, in dem manches überliefert ist,
was ansonsten verlorengegangen ist59). Streun wurden sogar die Originale der Freiheitsbriefe mit nach Hause
gegeben (das Heinricianum wird in einer Nachzeichnung durch ihn überliefert und
von ihm, samt dem Caesar- und Nero-Insert (die er als nicht echt erkennt)
auf Grund der Bestätigung durch Friedrich III. als rechtsgültig verteidigt).
Seine „Annales historici“ – von der Römerzeit bis 1559 – sind aber eher ein
Tabellenwerk; seine wesentliche Hinterlassenschaft sind die Kollektaneen.
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Der oberösterreichische Baron Job Hartmann Freiherr von Enenkel (1576–1627), der wohl unter
dem Eindruck der 1600–1611 in drei Bänden in Frankfurt erschienenen „Scriptores
rerum Germanicarum“60 des pfälzischen
Historikers Marquard Freher (1565–1614) die „Scriptores
rerum Austriacarum“ plante, die in einer lateinischen und in einer deutschen
Reihe als umfassende Quellenpublikation zur österreichischen Geschichte von
Eugippius bis ins 16. Jh publiziert werden sollten; tatsächlich
erschienen ist aber nur das Fürstenbuch des Jans Enikel (1618), mit dem sich Enenkel wohl verwandt glaubte. Die obderennsischen Stände verweigerten
die finanzielle Unterstützung, weil sie vermuteten, dass es sich um eine
dynastisch orientierte Kompilation panegyrischen Charakters handle. – Die Idee
eines derartigen Werkes ist zu Beginn des 18. Jhs durch den Melker Benediktiner
Hieronymus Pez, dann durch Adrian Rauch und schließlich in der Mitte des 19. Jh durch die neuegegründete
Kaiserliche Akademie der Wissenschaften aufgegriffen bzw. realisiert worden.
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In Kärnten wirkte Hieronymus Megiser, später ein Mitarbeiter Enenkels, der seine „Annales Carinthiae“ allerdings zum größten Teil
aus Materialien bestritt, die der Predikant Michael Gotthard Christalnick gesammelt und verwertet
hatte. Der Jesuit Marcus Hansiz sammelte umfangreiche
Materialien für eine Geschichte Kärntens, die er allerdings nie geschrieben hat;
das Material, das er bis zu den Karolingern zusammenstellte, wurde teilweise zu
Ausgang des 18. Jhs veröffentlicht.
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In Krain schuf Johann Weikhard Valvasor mit seinem Werk "Ehre des
Herzogtums Krain" (1689, Neudrucke im 20. Jh!) ein Musterbeispiel des hier zu
besprechenden Genres und eine heute noch verwendete Monographie, die die
Gesamtheit eines Landes in denkbar umfassender Weise beschreibt.
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Für die Steiermark erschien Leopold Ulrich Schiedlbergers "Ehrenruf
Steiermarks" (1710). Das von Franz Leopold Wenzel von Stadl 1731 in neun Bänden fertig
gestellte Manuskript "Ehrenspiegel des Herzogtums Steyer" ist nicht mehr
gedruckt worden (es liegt heute im Steiermärkischen Landesarchiv und ist ein
wertvoller adelsgeschichtlich-genealogischer Behelf).
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Im 17. Jh gelangten auch Städte zu einer Identität, die
in eine stadtspezifische Historiographie mündete. Um 1630 schuf der
Stadthistoriograph von Steyr, Valentin Preuenhueber die "Annales Styrenses", welches Werk eine interessante
und weit über die Stadt hinausreichende Quelle ist. Weiter sind in diesem
Zusammenhang zu nennen die „Eisenerzer Chronik“ des Leopold Ulrich Schiedlberger und – als ein
Sonderfall – die „Dorfchronik von Goisern“,
die vom 15. Jh bis 1866 geführt worden ist.
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Mit der weitgehenden Verselbständigung der Territorien
innerhalb des Reiches, dessen verfassungsrechtliche Konstruktion praktisch nicht
mehr nachvollziehbar war und zu den verschiedensten Interpretationen zum eigenen Vorteil einzelner Landesfürsten einlud,
entwickelte sich eine Form der Historiographie, die eigentlich nichts anderes
war als die Instrumentalisierung der Historiographie als Ableitungs- und
Legitimierungsverfahren für bestimmte Vorgangsweise innerhalb des Reiches, also
als Verteidigungsschriften im Zuge von Prozessen bzw. der Rechtfertigung
gegenüber dem Reich. Diese Art von Historiographie war zwar ganz klar tendenziös
und zweckorientiert, aber eben doch im Detail, in der Recherche oft sehr
zuverlässig, da sie ja Gegendarstellungen standhalten musste. Die Kunst dieser
Historiographie besteht so recht in fuga et in
electione.
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Ein erster Vertreter diese Richtung war |
Johannes Philippi, gen. Sleidan (1507–1566) mit seiner Arbeit "Commentarii de statu religionis
et rei publicae Carolo V. Caesare" (1555), in der er die Haltung der
evangelischen Stände gegenüber dem Kaiser verteidigt bzw. die politischen
Auswirkungen der Reformation analysiert.
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Das berühmteste Beispiel ist aber |
Samuel von Pufendorf (1632–1694); er war erst Professor in Heidelberg, ab 1670
Professor in Lund, wurde 1677 zum schwedischen Hofhistoriographen bestellt, bis
er schließlich im Jahre 1686 als brandenburgischer Hofhistoriograph nach Berlin
berufen wurde. – Er war der bedeutendste Vertreter der reichspublizistischen
Historiographie. Er verfasste Werke zur schwedischen Geschichte und eines über
Friedrich Wilhelm den Großen (1695). Er benützte für letzteres das
brandenburgische Archiv, brachte es aber nicht zu einer geschlossenen
Darstellung, sondern reihte die Ereignisse nach der Zeit bzw. nach dem Gang der
Akten. Nicht die Bedeutung der Ereignisse an sich wurde in den Mittelpunkt der
Betrachtung gestellt, sondern die Stellung seiner Helden zu den Ereignissen, wie
dies ihm als Hofhistoriograph des schwedischen Königs und des Kurfürsten von
Brandenburg auch zukam – seines Herren Sentimente zu exprimieren. Seine
bedeutendste Leistung liegt aber wohl im Bereich des Naturrechts: Er
veröffentlichte 1667 unter dem Pseudonym Severinus a Monzambano „De statu
reipublicae Germaniae“ und 1672 De jure naturae et gentium“. Berühmt geworden
ist seine Behauptung, das Heilige Römische Reich sei (rechtlich gesehen) ein
Monstrum, dessen rechtliche Verwicklungen niemand mehr wirklich erkennen
könne.
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Eine ähnliche Stellung wie die Reichspublizisten – zu ihnen ist
auch Hermann Conring zu zählen, der noch zu
erwähnen sein wird – zur politischen Geschichte nahmen die Reichsjuristen zur
deutschen Rechtsgeschichte ein, wenn sie in ihren Gutachten über Fragen des
Reichsrechtes – zumeist in die Form rechtshistorischer Gutachten gekleidet –
praktische und pädagogische Zwecke verfolgten.
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Im Gefolge dieser Strömung sind die Arbeiten österreichischer
Archivare am 1749 begründeten Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu sehen, die sie zur
Untermauerung der habsburgischen Position etwa in Auseinandersetzungen mit
Bayern vertraten – diese Arbeiten mündeten aber nicht mehr in veröffentlichte
historiographische Arbeiten, sondern hatten eher den Charakter von
Rechtsgutachten auf der Grundlage historischer Quellenarbeit. Zu erwähnen sind
hier Theodor Anton Taulow
von Rosenthal (1702–1779), der das historische Unterrichtsmaterial für
Josefs II. Ausbildung erstellt hat, Franz Ferdinand von Schrötter (1736–1780) mit seinem 1771 vorgelegten "Versuch einer
österreichischen Staatsgeschichte von dem Ursprunge bis nach dessen Erhöhung zum
Herzogtum". Ein Schüler von Taulow
von Rosenthal war der Piarist Adrian Rauch (1731–1802), der 1793/94 „Rerum Austriacarum Scriptores“ in drei
Bänden herausbrachte.
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Die Kirchliche Geschichtsschreibung erfuhr eine enorme
Belebung durch die Reformation. Es waren zuerst die Protestanten, die aus ihrer
Auseinandersetzung mit dem Papsttum eine neue Darstellung der Kirchengeschichte
anstrebten und auch ins Werk setzten. Dies hatte naturgemäß katholischerseits
„Gegendarstellungen“ zur Folge.
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Reformierte
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Der aus Istrien stammende Flacius
Illyricus (1520–1575) begann um die Mitte des 16. Jhs die Bearbeitung
einer protestantischen „Ecclesiastica Historia, integram Ecclesiae Christi ideam
[...] secundum singulas centurias complectens“, 13 Foliobde, Basel 1559–1574,
also einer Kirchengeschichte der ersten 13 Jahrhunderte ins Werk zu setzen. Das
Unternehmen wurde von ihm geplant und von fünf „gubernatores“ geleitet, unter denen zwei architectes und sieben studiosi61 arbeiteten – diese Gruppe wurde unter der
Bezeichnung „Magdeburger Zenturiatoren“ bekannt, weil sie in Magdeburg und nach
einer arbeitsteiligen Gliederung nach Jahrhunderten arbeitete – es war dies wohl
das erste systematisch geplante historische Forschungsunternehmen. 1594–1604
erschien ein Auszug in neun Bänden; eine deutsche Übersetzung gab es nur für die
ersten vier Jahrhunderte (Jena 1560–1565); eine calvinistisch beeinflusste
Neubearbeitung erschien in Basel 1624. Das Werk wurde von den Katholiken als ein
"pestilentissimum opus" bezeichnet. Als
„Widerlegung“ erschienen die „Annales ecclesiastici“ des Baronius. Das Unternehmen, das wohl das erste große
Gemeinschaftsunternehmen war und trotz der Parteilichkeit die Kirchengeschichte
auf neue Grundlagen stellte, übte Einfluss auf England aus.
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An weitere reformkirchlichen Historiographen seien erwähnt für
Schottland (John Foxe, 1516–1587), für Frankreich (Theodore Bèze, 1519–1605) und für die Schweiz (Heinrich Bullinger, 1504 –1575).
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Katholiken
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Katholischerseits wurde natürlich versucht, dem
Unternehmen des Flacius
Illyricus ein adäquates Werk aus katholisch-päpstlicher Sicht
entgegenzustellen. Dies unternahm der Bibliothekar der Bibliotheca Vaticana
Caesar Baronius (1538–1607), der aus umfangreichen Materialien die nicht
minder parteiischen „Annales ecclesiastici“ erarbeitete, die in 12 Bänden bis
1198 reichten und 1588–1607 in Rom erschienen. In weiterer Folge
sind zahlreiche Fortführungen entstanden, zuletzt Augustin Theiner, „Annnales ecclesiastici“, 27 Bde Bar-le-Duc 1864–1874 und 37
Bde Paris-Fribourg-Bar-le-Duc 1887 (reicht bis 1571). – Baronius wurde in vielem von dem moderaten Hugenotten Isaac Casaubon (1559–1614) berichtigt.
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Jacques-Benigne Bossuet (1627–1704) schuf als Lehrer des Dauphins mit seinem „Discours
sur l'histoire universelle“ eine wenig originelle katholische Kirchengeschichte
bis in die Zeit Karls des Großen; Fueter hat diesem Werk den Charakter einer Geschichtsdarstellung
überhaupt abgesprochen und es als Predigt bezeichnet, die vom Walten Gottes in
der Geschichte handle. Daneben veröffentlichte Bossuet u.a. eine Geschichte der Veränderungen der reformierten
Kirchen, die er als Entwicklung zum Sektenwesen interpretierte. Immerhin
versucht er aber als erster die Reformation in ihrer universalen Nachwirkung zu
erfassen.
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Festzuhalten ist, dass die Kirchengeschichte auf Grund
der übernationalen Struktur der Kirche wie auch der Orden auf europäischer
Grundlage gepflegt wird, während die einsetzende Beschäftigung mit dem
Mittelalter eher auf der Grundlage nationaler Orientierung erfolgte.
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Im Verlaufe des 17. Jh wird der vor allem in der
kirchengeschichtlichen Forschung aggressive Ton ruhiger, und man nähert sich
einer relativ "neutralen" Kirchengeschichtsschreibung; 1699 erscheint sogar eine
"Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie" von Gottfried Arnold, die eine protestantische Opposition gegen die Magdeburger
Zenturien war. Ähnliches gilt für den lutherischen Theologen Johann Lorenz Mosheim, der 1726 seine „Institutiones historiae ecclesiasticae Novi
Testamenti“ herausbringt.
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Bezüglich62 der Praxis der
Geschichtsforschung ist zu erinnern an die bereits angesprochenen, aus der
humanistischen Tradition herrührenden Aktivitäten und vor allem darauf
hinzuweisen, dass im 16. Jh sich in Frankreich eine Auseinandersetzung mit dem
Historischen entwickelt hatte, die nicht bloß aus dem Humanismus herausgekommen
war, sondern aus einer Mischung mehrerer Faktoren resultierte: nämlich aus
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dem dort besonders deutlich entwickelten sogenannten
„Vulgärhumanismus“ (einer nationalistischen Variante des Humanismus),
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– |
einer aus dem früh entwickelten Berufsjuristentum her
rührenden stark rechtshistorischen Sicht der Entwicklung (die frühen
französischen Kronjuristen haben schon im 14. Jh ganz klar Recht als eine
weltliches und von Macht abhängige Struktur erkannt, deren Kenntnis den Gang
der Dinge zu erfassen erleichtere63), es bewirkt dies zusammen mit anderen
Faktoren einen sehr wichtigen Schritt der Relativierung,
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– |
aus dem nicht zu unterschätzenden Einfluss spanischer
Spätscholastiker, die wie Luis Vives etwa nach Frankreich emigrieren, und aus
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– |
dem wachsenden Empfinden der zentralistischen Macht der
Krone, dass der König auch ein Hüter und Mäzen des Wissens sei, dessen
Entwicklung auch seinem Splendor zugute komme64.
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Indem sich an den bereits hochentwickelten Institutionen der
Staatsorganisation eine relativ unabhängige, selbständige bourgeoisie de robe zu entwickeln beginnt, entsteht auch ein
Substrat für ein intensives intellektuelles Leben, das ein reiches Reservoir an
geistiger Kapazität darstellt.
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Aus dieser pointiert weltlichen Position heraus entwickelte sich –
auf Bodin aufbauend – die außerordentlich fortschrittliche Vorstellung von
einer „historie nouvelle“, die alles zu
umfassen habe – alle vergangenen Kulturen in allen ihren Erscheinungsbereich,
Geschichte wird als die Geschichte des menschlichen Fortschritts, der
menschlichen Freiheit und der Entwicklung der Nationen betrachtet. Damit bahnte
sich eine enorme Historisierung, ein wesentlicher Schritt der Säkularisierung
an65. Einer der führenden Köpfe in dieser Entwicklung war
Henri la
Popeliniere (1541–1608), der neben anderen Werken 1599 in Paris seine
„Idée de l’histoire accomplie“66
und seine Arbeit „La vraye et entiere histoire“ veröffentlichte, in der er
expressis verbis die Forderung nach einer „nouvelle histoire“ formulierte. Diese neue Geschichte sollte alle historischen Ereignisse erklären und zwar vollständig erklären, und damit sollte der Schritt
über die bloßen chroniqueurs (wie etwa Sleidan) zu den historiographes
getan werden. Es sollte die gesamte Geschichte Frankreichs erfasst und in ein
einziges großes Ganzes ihrer Ursachen und Motive zurückgeführt werden. la
Popelinieres Geschichtsauffassung war die einer Gesamtgeschichte, einer
Darstellung, die alle Erscheinungen umfasst, in seinem Alterswerk „Idée de
l’histoire“ erklärt er: „l’histoire digne de ce
nom doit estre generale“. Der zeitgenössische Nicolas Vignier (1530–1596), als einziger in dieser Gruppe von Juristen ein
professioneller Historiker und königlicher Historiograph67, forderte in Zusammenhang damit, dass
jedermann jederzeit seine Quellen – und als solche betrachtete er nicht mehr nur
die erzählend-literarischen Schriften – nachzuweisen, zu zitieren und deren
zeitliche Distanz vom dargestellten Ereignis anzugeben habe.
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Im Unterschied zu den reinen Theoretikern, waren Leute wie la
Popeliniere, Vignier und Estienne Pasquier Praktiker. Pasquier veröffentlichte 1560 seine bedeutsamen „Recherches de la France“. Als dieses Werk erschien, stieß
man sich an den laufenden Quellenzitaten, die die klassischen Autoren auch nicht
geboten hätten, die aber doch mit der Zeit Autoritäten geworden seien; außerdem
kämen längere Zitate Plagiaten gleich. Doch Pasquier schrieb nicht für die Zukunft, sondern für seine Gegenwart,
er betrachtete seine Arbeit als einen Teil eines Rekonstruktionsprozesses der
Vergangenheit, der – das blieb freilich unausgesprochen – transparent und
nachvollziehbar sein sollte. Pasquier hat das Neue seiner Untersuchungsmethode – nicht
Darstellungsmethode, das Werk heißt „Recherches“ (Untersuchungen!) – ganz bewusst herausgearbeitet und
betont. Wenn auch nicht alles originär war, so war es doch die Zusammenführung
und die Anwendung auf einen konkreten Gegenstand, auf die Geschichte
Frankreichs. Und la
Popeliniere schrieb auch Französisch und nicht Lateinisch, auch die
Zitate aus dem Lateinischen übersetzte er ins Französische. Im Unterschied zu
seinen Vorgängern setzte Pasquier auch nicht mit Troia und
mit Priamos als den klassischen Vorfahren der Franken ein68, sondern –
auf der Grundlage von Caesars „De bello Gallico“ – mit den Galliern. Dies ist insoferne sehr
bemerkenswert, als damit die Geschichte Frankreich mit einem Volk, eben den
Galliern, beginnt und nicht mit einem König – etwa dem legendenhaften König
Faramund als einem Vorgänger Chlodwigs. So existiert gewissermaßen Frankreich
vor und separiert von einer Dynastie, vor
der Kirche etc., und indem Pasquier
Caesars Ausführungen analysiert, stellt er fest, dass die Gallier von
allen bei Caesars erwähnten Barbaren die am wenigsten barbarischen und die
kultiviertesten gewesen seien, ja Caesar habe sie überhaupt nur zweimal, und im Affekt, als Barbaren
bezeichnet. Er versucht, aus Caesar ein Bild von den Galliern zu gewinnen, „wie ein Jäger aus der Fährte auf die Größe des Wildes
schließt“. Was er dabei beabsichtigt, ist, die historische Kontinuität
bestimmter Einrichtungen zu erweisen: Frankreich bestehe als einziger Staat seit
dem Zusammenbruch der römischen Macht, während andere zerfallen oder erst später
entstanden seien – die Historie erkläre dies. Pasquier kennt natürlich die Vorstellungen vom Aufstieg und Fall der
einzelnen Staatsgebilde und, parallel dazu, ihrer Kultur. Die „histoire nouvelle“ entwickelt sich zu einem Instrument des
französischen Nationalismus69. Aus der Erkenntnis der ständigen „mutation“ der Erscheinungen leitet Pasquier ab, dass das römische Recht überholt und durch das
französische zu ersetzen und dass es sinnlos sei Lateinisch und nicht
Französisch zu schreiben und zu sprechen. Auch hat er sehr klare Vorstellungen,
worauf er in den Quellen sein Augenmerk legt: Auf die ersten Versammlungen der
keltischen Gallier, des merowingischen Adels u.ä. als Vorläufer der Parlamente,
denen er eine bedeutende Rolle in der Geschichte Frankreichs zuschreibt, die er
in zwei Essays innerhalb seines Werkes näher beschreibt. Im Unterschied zu den
gleichzeitigen Theoretikern sind diese französischen Historiker tatsächlich und
ständig als Historiker aktiv.
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Gleichzeitig aber strebt Loys le
Roy (1510–1577) mit seinem Werk „De la vicissitude ou varieté des
choses en l’univers et concurrence des armes et des lettres par les premieres et
plus illustres nations du monde, depuis le temps ou a commencé la civilité et
memoire humaine iusques à present“ (Paris 1575) erstmals nach einer
vergleichenden Geschichte der alten Kulturen, wobei er über die bereits mehrfach
monierte geringe zeitliche Tiefe der klassisch-griechischen Historiographen
hinausgehen möchte, was in dieser Zeit natürlich noch kaum tatsächlich möglich
ist. le
Roy möchte Sprachen, Religionen, Aufstieg und Niedergang der Künste und
der Wissenschaften, Erfindungen, Entdeckungen und vieles mehr behandeln70. le
Roy hat damit ins Werk umzusetzen gesucht, was neun Jahre zuvor bereits
die Grundvorstellung Bodins gewesen ist. Nach eingehender Überlegung, mit welchem der
zahlreichen Völker – Inder, Äthiopier, Ägypter, Skythen, Chaldäer, Juden, Araber
– die Weltgeschichte einsetze, entschließt er sich für die Ägypter. An der
Genesis rüttelt er nicht.
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Die revolutionäre neue französische Geschichtsforschung betrachtet
die geschichtliche Entwicklung – wenn dies auch mitunter etwas kaschiert wird –
als einen rein säkularen Prozess und auch nicht als einen Verfallsprozess. Was
man als grundsätzlichen Unterschied gegenüber der Geschichtsschreibung des
klassischen Altertums erkennt und auch als neues Problem in Hinblick auf die
Forschung, war, dass man im Gegensatz zu den Alten nicht mehr nur und sogar kaum
mehr Zeitgeschichte schrieb. Da die Alten mit ganz wenigen Ausnahmen nur das
getan und gekonnt hätten, lägen nur Partikulargeschichten vor, deren
Zusammenstellung aber immer noch keine histoire
universelle, denn „weder Xenophon noch Thukydides mit seiner Beschreibung
eines Krieges ermöglichen dem Leser ein Verständnis für das Leben im alten
Griechenland, Kenntnis von ihren Beamten und Ämtern, der Religion, ihrem
Recht, ihren Sitten und – im allgemeinen – von der Natur der griechischen
Gesellschaft“, wie das von einer histoire
universelle zu erwarten sei. Thukydides habe eben nicht griechische Geschichte geschrieben, sondern
nur die Geschichte der Athener zur Zeit des Peloponnesischen Krieges.
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la
Popeliniere war sich darüber im Klaren, dass das von ihm formulierte
Ideal der Geschichtsdarstellung unerreichbar sei, man werde ihm nahekommen
können, es aber nie erreichen. Als Praktiker gesteht er auch ein, dass es ihm
mitunter kaum möglich sei, die unumgänglich notwendigen Beurteilungen
vorzunehmen71; wenn man
erst erkannt habe, dass von einer historischen Darstellung Gewissheit nicht zu
erhoffen sei, falle die Arbeit leichter – man solle vom Historiker nicht mehr
erwarten als „Argumente, die einen so hohen Grad
der Wahrscheinlichkeit ihres Zutreffens haben, dass sie den Leser überzeugen,
dass des Historikers Version hinsichtlich der Darstellung dessen, was
Geschehen sei, die wohl plausibelste sei; und das mit dem Verständnis dafür,
dass diese Version abgeändert werden könnte, sobald jemand anderer mit einer
überzeugenderen Hypothese auftritt“72. Das letzte Ziel der
Historie sei es, zu erklären, was der Mensch sei. Unter diesem Aspekt betrachtete la
Popeliniere auch die Menschen der Neuen Welt: Man müsse sie studieren,
denn vielleicht befinden sie sich in jenem Stadium, in dem sich die Menschen der
Alten Welt vor der Erfindung der Schrift befunden hätten73.
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Wie weit die Historisierung bei la
Popeliniere voranschreitet, erweist seine „Histoire des histoires“:
Alle Historie ist Produkt von Historie, auch die Auseinandersetzung mit Historie
und ihre Ergebnisse sind historische Ereignisse und Produkte, und als solche
relativ und von den jeweiligen Zeitläuften beeinflusst: „L’histoire se regle au compas du gouvernement de l’Estat“ –
deshalb solle der neue Historiker alle Unterstützung und Abhängigkeit von sich
weisen.
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la
Popelinieres Anschauungen haben keine weite Verbreitung gefunden, seine
„Idée“ hat keine zweite Auflage erlebt. Fueter kennt seinen Namen ebenso wenig wie spätere
Historiographiehistoriker. Dennoch blieb er nicht wirkungslos, denn er stand
nicht isoliert, sondern in einem größeren Gefüge, in dem seine Ideen doch
aufgenommen worden sind. Andere – wie Pasquier – sind aus religiösen Gründen von den Jesuiten angegriffen
worden, und seine „Recherches“ haben – wohl allein schon des Materials wegen –
eine Reihe von Auflagen bis in das 18. Jh hinein erlebt. Für Vignier lässt sich eine Brücke hin bis zu den Bollandisten und den
Maurinern nachweisen.
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Im Gefolge des Humanismus, der wie oben erwähnt die
Säkularisierung forcierte, und unter dem Eindruck der naturwissenschaftlichen
Forschungen und Erkenntnisse – Kepler, Galilei, Descartes – kam es zum Durchbruch einer tatsächlich freien und
wissenschaftlich-gelehrten Geschichtswissenschaft und einer ihr adäquaten
Historiographie. Dies geschah vor allem darin, dass man nun unter dem Einfluss
des neuen systematischen Denkens nach einer möglichst vollständigen, eben
systematischen und kritischen Erfassung der Quellen strebte, wobei der
Quellenbegriff als solcher rasch über die bis dahin primär wesentlich erachtete
Historiographie hinaus auf andere schriftliche, bald aber auch auf bildliche und
auf materielle Überlieferungen ausgeweitet wurde. Es entwickelte sich das, was
später unter dem Begriff „Hilfswissenschaften“ zusammengefasst wurde, der
ursprünglich für die heute als klassisch zu bezeichnenden engeren
fachspezifischen Bereiche angewendet, aber bereits im 18. Jh als letztlich
unabgrenzbar verstanden wurde, indem eben prinzipiell alle Erkenntnisbereiche
für die historische Arbeit herangezogen werden können. Gleichzeitig fand die
antike Doktrin von der Historiographie als einer auch ästhetischen Disziplin ein
Ende. Die neue Auffassung wurde auch von der in Frankreich stark entwickelten
juridischen, ja rechtshistorischen Argumentation mitbestimmt und hielt den von
den Humanisten erhobenen Anschein freier literarischer Form nicht mehr aufrecht;
damit wurden auch der Nachweis der Quellen und damit die Nachvollziehbarkeit der
Argumentation möglich, ja erforderlich.
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Die wesentlichsten Elemente in dieser Entwicklung waren das Streben
nach systematischer und gesamthafter Erfassung der historischen Erscheinungen,
die Anwendung der mittlerweile als wesentliches Erkenntnisinstrument erkannten
Kritik auch in diesem Prozess und damit die Preisgabe der alten Auffassung, dass
„die historische Wahrheit“ bereits in den historiographischen Quellen vorhanden
und nur noch nicht entsprechend ausgewertet worden sei – nun wird die Erkenntnis
allgemein, dass die hochgerühmten historiographischen Aussagen nur
unterschiedlich wertvolle „Abbilder“ der „historischen Wahrheit“ lieferten und
dass auch die Entstehung und der Weg der Tradierung kritisch zu untersuchen
seien; damit wird eine neue Dimension der Betrachtung, der Arbeit des
Historikers hinzugewonnen.
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Neben diesen Aspekten dürfen aber auch ganz banale Neuerungen nicht
übersehen werden:
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Die Intensivierung des wirtschaftlichen und diplomatischen Lebens
im 16. und 17. Jh ermöglicht eine Intensivierung der Kommunikation auch im
wissenschaftlichen Bereich, die eine unabdingbare Voraussetzung für die
Zusammenführung von Information und Material und zugleich der gelehrten
Diskussion in jener Dimensionen gewesen ist, wie sie nun notwendig wurde.
|
Andere Wissenschaftsbereiche hatten mittlerweile Fortschritte
gemacht und Ergebnisse geliefert, die in die historische Forschung eingebracht
werden konnten und deren neue Qualität erst ermöglichten; hier ist insbesondere
auf die (klassische) Philologie zu verweisen, die eben auch gerade in Frankreich
eine enorme Blüte erlebt hatte.
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Im 17. Jh entwickelten sich aus im Wesentlichen zwei
Bereichen heraus die historischen Hilfswissenschaften: die Diplomatik, die
Paläographie, die Chronologie, aber auch die sogenannten "kleinen"
Hilfswissenschaften (Epigraphik, Numismatik, Heraldik, Lexikographie und
Genealogie), die ihrerseits nun Gegenstand systematischer und umfänglicher
Forschungsarbeit wurden.
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1) |
In Deutschland im Zuge der sogenannten Bella diplomatica, d.h. im Zusammenhang mit den
zahlreichen Prozessen, die nach dem 30jährigen Krieg um die Echtheit von
Urkunden als Rechtstiteln geführt wurden; dabei trat insbesondere Hermann
Conring (1606–1681) in Erscheinung, der 1672 im Rahmen eines großen
Prozesses zwischen der Stadt und dem Kloster Lindau seine „Censura diplomatis
quod Ludovico imperatore fert acceptum coenobium Lindaviense“, den ersten
Ansatz zu einer Methodenlehre der neueren Kritik, veröffentlichte. Aus dieser
von den Juristen gepflegten Urkundenkritik erwuchs die forensische, d.h.
gerichtliche Urkundenkritik, die im deutschen Sprachraum vornehmlich an den
juridischen Fakultäten beheimatet war.
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2) |
Als in Frankreich 1664 die Benediktiner der Kongregation
St. Maure die „Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti“ und die „Annales
Ordinis Sancti Benedicti“ in Angriff nahmen, traten auch sie in die
Urkundenkritik ein, wobei sie in Konkurrenz zu den Jesuiten standen (s.w.u.).
Ihre diesbezüglichen Leistungen finden ihren ersten Höhepunkt in Jean Mabillons (1632–1707) „De re diplomatica libri sex“, die 1681
erschienen. Mit diesen Arbeiten beginnt in den 1670er Jahren die moderne
Kritik der Überlieferung, die die „discrimina
veri ac falsi“ – die Unterscheidungsmerkmale zwischen dem Echten und
dem Unechten oder Gefälschten – zu erkennen lehrt und so die echten von den
verfälschten etc. Dokumenten zu trennen suchte (s.w.u.).
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|
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In Frankreich, dem in kultureller Hinsicht im 17. Jh die
Führung Europas zugefallen war, erwiesen sich als die bedeutendste Kraft die
Ordensgemeinschaften der Jesuiten und der Benediktiner, die im Falle der
Benediktinerkongregation der Mauriner74 über ungeheure Geldmittel verfügen (etwa 8 Millionen
Pfund pro Jahr). Beide Orden waren durch ihre verzweigte übernationale
Organisation besonders gut in der Lage, über große Räume hinweg Material zu
erfassen, zu sammeln und so die komparative Methode auf einer ganz neuen Ebene
anzuwenden. Während die Jesuiten bewusst konkret apologetische, kirchliche Ziele
verfolgten, waren die Benediktiner – in der Meinung, dass das Material an sich
die Richtigkeit der Position der sancta Romana ecclesia erweisen würde – um eine
an sich objektive Erfassung des Materials bemüht – darin liegt der Grund dafür,
dass ihre enormen Leistungen mehr noch als im 18. Jh im 19. Jh gewürdigt und
fruchtbar herangezogen worden sind, und zwar ungeachtet konfessioneller
Aspekte.
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Die Jesuiten
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Früher als die Mauriner haben die französischen Jesuiten
die historische Arbeit aufgenommen, und zwar im Zusammenhang mit der Edition von
Konzilsakten ab den 1620er Jahren. In den gegenreformatorischen südlichen
Niederlanden entwickelte der Jesuit Heribert Rosweyde in Antwerpen den Plan von "Fasti sanctorum quorum vitae in belgicis bibliothecae manuscriptae" –
einer kritischen Sichtung des Materials zu den von Legenden überwucherten
Heiligenviten. Als Rosweyde 1629 starb, sichtete Jean Bolland (1596–1665) dessen Papiere. Bolland legte daraufhin 1630 seinen großen Plan der „Acta Sanctorum“
(= AA SS) vor, der von den Ordensoberen genehmigt wurde – die Jesuiten waren ja
im Zuge der Verteidigung der Heiligen gegen die Angriffe der Protestanten und
der Humanisten bestrebt, mit den Mitteln der historischen Kritik die Zeugnisse
der Vergangenheit der römisch-katholischen Kirche sicherzustellen. 1643 erschien
der erste Band der AA SS; nach Bollands Tod wurde die Arbeit vor allem durch Daniel van Papenbroek75 (1628–1714) ab 1659 und Godfried Henschen fortgeführt. Bis 1773 erschienen in Antwerpen 50 Bände (bis
Oktober III), 1794 erschienen drei weitere Oktoberbände; als 1837 die
niederländische Jesuitenprovinz wieder errichtet wurde, nahmen die Bollandisten ihre Arbeit wieder auf, wobei die östliche Hagiographie
nun mit einbezogen wurde. Bis 1940 erschienen weitere 17 Bände bis November IV
bzw. Einleitung zu Dezember. Seither stockt das Unternehmen76.
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Papenbroek brachte 1675 ein "Propylaeum antiquarum circa veri ac falsi
discrimen in vetustis membranis" heraus und löste durch seine darin geäußerte,
sehr negative Kritik der merowingischen Diplome Mabillons Aktivitäten aus.
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Die Benediktiner bzw. die Mauriner
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1648 legte Dom Luc d’Archery, der Bibliothekar von Saint-Germain-des-Pres, einen
Studienplan vor, der auch Studien zur Ordensgeschichte anregte; in der Folge
erschienen zahlreiche Textausgaben, Florilegien etc.
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Die Benediktiner der Kongregation des heiligen Maurus bemühte sich
dem von d'Archery vorgelegten Programm entsprechend um die Weiterentwicklung der
Wissenschaften vor allem im „geisteswissenschaftlichen“ Bereich und stellten im
Zusammenhang damit umfassende Studien, die sich auf Archive und Bibliotheken
erstreckten; 1664 nahm man die „Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti“ und die
„Annales Ordinis Sancti Benedicti“ in Angriff. Und damit traten auch die
Benediktiner in die Urkundenkritik ein. Dies wurde von großer Bedeutung, als es
nämlich Jean Mabillon (1632–1707) in Reaktion auf Daniel van Papenbroek, der in AA SS Propylaeum zu April II alle ältesten Urkunden
der Benediktinerabteien zu St. Denis und Corbie für unecht erklärt hatte,
unternahm, systematisch ein System der Urkundenkritik zu erarbeiten, was in die
Publikation seiner berühmten "De re diplomatica
libri VI"Buch 1: Alter der Schrift, Beschreibstoffe;
Buch 2: Stil, Unterschriften, Siegel, Datierung; Buch 3: Bedeutung der
Formelbücher und Chartulare; Buch 4: Verzeichnis der Königspfalzen als
Ausstellungsorte von Diplomen; Buch 5: Zeichnungen von Schriften, Stiche von
Urkunden; Buch 6: 200 Urkunden als Beweismaterial. Die Bücher 1–3 enthalten
somit die Regeln, die Bücher 4–6 das Beweismaterial. (Paris 1681
und 1709, weiters Neapel 1789) mündete, die gewissermaßen als Fundament der
klassischen Hilfswissenschaften eingestuft werden. Mabillon nahm darüber hinaus auch wesentlichen Anteil an den durch
d'Archery herausgegebenen „Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti“
(= AA SS OSB) (Paris 1668-1701, 2. Aufl. Venedig 1733–1738, reichen bis gegen
1100) und edierte vor allem auch in seinen „Jahrbüchern" = „Annales Ordinis
Sancti Benedicti“ (bis zum Jahre 1157), 6 Bde Paris 1703–1739, zahlreiche
Urkunden.
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Mabillons hilfswissenschaftliche Arbeit wurde fortgeführt durch
Charles-Francois Toustain (1700–1754) und René Prosper Tassin (1697–1777) mit dem „Nouveau Traité de Diplomatique..." (4 Bde
1750-1765), die wiederum Johann Christoph Gatterer (1727–1799) in Göttingen und damit die Entwicklung der
Hilfswissenschaften im deutschen Sprachraum beeinflusst haben, wo Abt Gottfried Bessel in Göttweig das Werk Mabillons zeitlich fortführen sollte (s.w.u.).
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Die Kehrseite des Unternehmens bestand darin, dass die Mauriner die
Materialien mit Hilfe ihrer Methode zwar aufbereiteten, dass es aber zu keiner
Historiographie im eigentlichen Sinn kam, zumal für sie die Geschichte
vorwiegend chronologisch und genealogisch zusammenhing, Entwicklungstendenzen
und innere Zusammenhänge der Geschichte wurden von ihnen nicht gesehen. Bei
dieser Bewertung darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, welch
ungeheures Material nun vielfach erstmals kritisch ediert, bearbeitet und
zugänglich gemacht wurde, denn die kritische Material- bzw. besser
Quellenerfassung war ja der eigentlich Ausgangspunkt; man unternahm den Versuch,
die Quellen über bestimmte zeitliche und inhaltliche Abschnitte der Geschichte
vollständig und erforderlichenfalls gleichsam europaweit zu sammeln, sodass der
Historiker erstmals in die Lage versetzt sei, das Material über gewisse Perioden
zu überblicken, das Echte vom Falschen nach methodischen Grundsätzen zu scheiden
und die Texte philologisch möglichst exakt zu interpretieren.
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Die Arbeiten der Mauriner wirkten nicht nur im Bereich
der Kritik und der Hilfswissenschaft fort, sondern auch in der durch Mabillons „Annales Ordinis Sancti Benedicti“ (6 Bde, Paris 1703–1739)
maßgeblich belebten neueren Annalistik. Zu erwähnen sind in diesen
Zusammenhängen:
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– |
die Geschichte der römischen Kaiser ("Histoire des
Empereurs et des autres princes qui ont regné durant les six premieres siécles
de l'Eglise", Paris 1690–1738) von Louis-Sébastien Tillemont (1637–1698), einem Jansenisten, der außerordentlich
penibel und solid arbeitete
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– |
die braunschweigischen Reichsannalen („Annales imperii
occidentis Brunsvicenses“ für die Zeit 768-1005, 1703–1716) von Gottfried
Wilhelm Leibniz (1646–1716), der nach französischem Vorbild umfassende, die
Geschichte des gesamten Reiches umspannende Pläne verfolgte, die aber nicht
realisiert werden konnten und schließlich auf die Dimension Braunschweigs
reduziert worden sind;
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– |
Ludovico Antonio Muratori (1672–1750) mit seinen "Rerum italicarum scriptores ab anno
aerae christianae 500 ad 1500" (1723–1751) und seinen "Annali d'Italia del
principio dell'era volgare sino al'anno 1749", die den Annalen des
Benediktinerordens nachgebildet und im 20. Jh gedruckt worden sind;
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– |
auch in der Entwicklung der Geschichtsforschung im Rahmen
der kirchlichen Erneuerung in Österreich:
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a) |
durch die mit den Maurinern in Kontakt stehenden Melker Benediktiner, die die neuen Ansätze
zugunsten einer Art "Landesgeschichtsforschung" in Österreich umsetzen, indem
sie Urkunden kritisch heranziehen und edieren bzw. überhaupt in großem Stil
kritische Editionen schriftlicher Quellen erarbeiten:
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* |
Anselm Schramb (1658–1720) veröffentlichte 1702 das „Chronicon
Mellicense“
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* |
Philibert Hueber (1662–1725) "Austria ex archivis Mellicensibus illustrata",
1722)
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* |
Bernhard Pez (1683–1735) mit seinem "Thesaurus anecdotorum
novissimus" (6 Bde, 1721–1729), einer Edition exegetischer, dogmatischer und
liturgischer Traktate, nur der letzte Band enthält auch anderes
Quellenmaterial (Urkunden), und sein Bruder
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* |
Hieronymus Pez (1685–1762) mit seinen "Scriptores rerum
Austriacarum" (3 Bde 1721, 1731 und 1745), der bis heute noch nicht gänzlich
ersetzten ersten systematischen Edition historiographischer Quellen zur
Geschichte Österreichs;
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Die Melker Benediktiner stehen am Beginn der "uninteressierten quellenmäßigen Historie als Leistung
mönchischer Askese" (Troeltsch) und am Anfang der modernen Historiographie und
Geschichtsforschung in Österreich;
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b) durch zwei Göttweiger Äbte78: nämlich
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* |
Gottfried Bessel (1672–1749), der die Fortsetzung von Mabillons "De re diplomatica" für die Karolingerzeit bzw. den
deutschen Raum zu schaffen unternimmt, was er in der Einleitung - dem
Prodromus (1732/33) – zum "Chronicon Gotwicense" (einer Geschichte des Stiftes
Göttweig) ins Werk setzt, von der eben nur der Einleitungsteil mit der
Diplomatik des deutschen Hochmittelalters erscheint, die ihm den Beinamen
"deutscher Mabillon" eingetragen hat, und
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* |
(Johannes) Magnus Klein (1717–1783), der Gottfried Bessels Arbeit für den Bereich der Privaturkundenlehre
(ungedruckt) fortführte und eine umfassende "Notitia Austriae" plante, von der
allerdings nur die „Austria Celtica“, 1781, erschienen ist.
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Im Zusammenhang mit der neueren Annalistik ist auch die
"Universal History from the earliest account of time to the present" (London
1736–1765) zu sehen; es ist dies die erste Weltgeschichte, die wirklich über das
jüdisch-christliche Weltbild und über Europa hinausgreift, indem Nordafrika und
Asien inklusive China miteinbezogen werden, was inhaltlich freilich nicht immer
eingelöst werden konnte und nicht frei von gewollten Konstruktionen war (der
Begründer des chinesischen Reiches wird mit Noah gleichgesetzt, der mit seiner
Arche dort gelandet sei79, etc.). Es handelt sich bei diesem Werk um
eine große Teamarbeit, bei der einzelne Bereiche von verschiedenen Autoren
geschrieben wurden (John Campbell, George Sale, John Swinton, Archibald Bower u.a.).
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Neben den Maurinern bzw. den durch die Mauriner
aktivierten Benediktinern auch in anderen Kongregationen und Ländern wie neben
den Bollandisten stehen unabhängige Editoren und Lexikographen, deren ungeheurer
Arbeitsleistung wir bis heute Bedeutendes verdanken:
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André Duchesne (1584–1640) war Geograph und dann – unter Richelieu – Historiograph des Königs von Frankreich und edierte in der
1. H. des 17. Jhs eine Reihe von historiographischen Quellen zur normannischen
(Historiae Normannorum scriptores antiqui 838–1220, Paris 1619) und zur
französischen Geschichte (Historiae Francorum scriptores [...], 5 Bde Paris
1636–1649) und wurde dabei zu einem Begründer der wissenschaftlichen Genealogie,
die er mit Hilfe von Urkunden zu stützen suchte.
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Étienne Baluze (1630–1718) war eng mit Mabillon befreundet, dem er nicht viel nachstand; Baluze hat für Colbert (dessen Bibliothekar er war) und für sich mittelalterlichen
Handschriften und Urkunden gesammelt und Tausende Stücke kopiert und vieles
ediert (z.B. 2 Bde „Capitularia regum Francorum“, Paris 1677, Konzilsakten
etc.).
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Der bedeutendste Mediävist des 17. Jhs neben Mabillon war aber wohl Charles du Fresne Seigneur du
Cange (1610–1688); er hat systematisch Tausende Texte gelesen,
abgeschrieben und exzerpiert, als königlicher Schatzmeister Frankreichs hatte er
Zugang zu den großen Archiven der Rechnungskammern in Amiens und in Paris und
auf diesen Grundlagen erstellte er sein „Glossarium ad scriptores mediae et
infimae latinitatis“, das erstmals 1678 in 3 Bänden in Paris erschienen ist;
1688 stellte er diesem Werk noch sein „Glossarium mediae et infimae graecitatis“
zur Seite. du
Cange ist nicht nur als Philologe bedeutend, sondern auch als
Enzyklopädist der Geschichte des Mittelalters und Kenner der mittelalterlichen
Autoren.
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Bereits innerhalb der Mauriner kam es zur Entwicklung über die
Urkundenlehre hinaus, indem man im Bestreben um eine möglichst komplexe
Erfassung des Materials bald auch auf materielle und bildliche Quellen
auszugreifen begann. Es sind in diesem Zusammenhang zu nennen:
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Bernard Montfaucon (1655–1741) veröffentlicht nach seiner griechischen
Paläographie sein monumentales Werk „L'Antiquité‚ explique et represente en
figure" (15 Bde, 1719ff.) und „Les monuments de la monarchie francaise" (5 Bde,
1729–1733) mit zahlreichen Kupferstichabbildungen.
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In Österreich wird dies in Hinblick auf die Habsburger nachgeahmt
durch
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Marquard Herrgott OSB (1694–1762) mit seinen
"Monumenta augustissimae domus Habsburgicae" (7 Foliobde, 1750–1772, reich
illustriert von Salomon Kleiner), als deren 4. Band seine "Taphographia"
(= Gräberbeschreibung, 1762) erschien; Herrgott, ein Benediktiner aus St. Blasien im Schwarzwald, war der
erste österreichische Historiker, der in St. Germain des Prés bei den Maurinern
ausgebildet wurde; er hat auch denkmalschützerische Vorstellungen entwickelt und
eine umfassende und in der damaligen Lage des Hauses Habsburg wichtige
„Genealogia diplomatica augustae gentis Habsburgicae“ (1737) veröffentlicht.
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Als weitere Beispiele derartiger Unternehmungen sind zu
erwähnen:
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William Dugdale (1605–1686) zu erwähnen, der 1675–1676 zwei Bände „The
baronage of England“ in London erscheinen ließ und 1655–1673 ein dreibändiges
„Monasticon anglicanum“;
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Francois Sweerts (1567–1629) in Antwerpen schuf „Rerum belgicarum annales
chronici et historici“, Frankfurt 1620;
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Antoon Sanders (1586–1644) in Gent veröffentlicht in Köln 1641 seine
„Flandria illustrata sive Descriptio comitatus istius“ in zwei Bänden.
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Nach den zahlreichen Anregungen zur Kirchenreform im
Spätmittelalter schärfte der Humanismus die Kritik sowohl hinsichtlich des
ideellen Elements des Glaubens als auch hinsichtlich der mit der Kirche in
Verbindung stehenden Fakten und Gegebenheiten, und es bewirkte die Reformation
eine Relativierung der katholischen Kirche insgesamt.
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Hatte man im Spätmittelalter – als Beispiel sei Thomas Ebendorfer erwähnt – weltliche und kirchliche Geschichte als getrennte
Bereiche aufgefasst und separiert von einander behandelt, so stellten nun Melanchthon und Peucer in ihrer Universalhistorie beide Bereiche erstmals synoptisch
dar; im 17. Jh hat man dann das kirchliche Geschehen mit der politischen
Geschichte – der Historia civilis – zusammengeführt, wobei nun nur mehr der
weltliche Bereich der Kirchengeschichte berücksichtigt worden ist, d.h. es sind
die kirchenhistorischen Ereignisse nur mehr als ein besonderer
Geschehenszusammenhang menschlicher Entscheidungen innerhalb der
Menschheitsgeschichte aufgefasst und der spirituelle Bereich ist ausgeklammert
worden. Damit ist die Historia ecclesiastica der profangeschichtlichen
Betrachtungsweise unterworfen worden – dies kommt sehr deutlich zum Ausdruck im
„Proemium generale“ der Universalhistorie des Christoph Cellarius von 1685: der kirchliche Bereich sei nicht ausgeschlossen,
denn es könne der eine ohne den anderen gar nicht richtig verstanden werden –
die Kirche wird hier als ein rein weltliches Phänomen betrachtet und es wird auf
jede sakrale Interpretation des kirchlichen Geschehens als Bereich göttlichen
Wirkens innerhalb der Menschheitsgeschichte verzichtet, ebenso aber auch auf die
theologisch-eschatologische Interpretation des universalhistorischen Ganzen. Die
Universalhistorie des Cellarius ist in diesem Zusammenhang auch deswegen interessant, dass
wir hier nicht nur in der Fassung von 1685ff. erstmals die Gliederung Altertum –
Mittelalter – Neuzeit finden, sondern vor allem darin, dass dieses Werk erstmals
nicht mit der Erschaffung der Welt, sondern mit der Geschichte der Chaldäer als
dem "initium imperiorum" beginnt; Christi
Geburt wird nur noch in einem Nebensatz erwähnt. Auch gibt es keine
eschatologischen Interpretationen der Weltgeschichte und keine Erörterung von deren
Ende.
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Die abendländische Chronologie operierte im Mittelalter
und in der Frühen Neuzeit mit einer Jahreszählung von der Erschaffung der Welt
an, der sogenannten Weltära. Derartige „Weltären“ gab es allerdings in großer
Zahl, da unzählige Versuche unternommen wurden, aus dem Alten Testament
Zahlenwerte zu gewinnen – man hat rund 200 verschiedene Datierungsansätze
ermittelt, von 6894 bis 3483 vChr; die Jüdische Weltära setzte die Erschaffung
der Welt in das Jahr 3761 vChr, Luther ging auf 4000 vChr und datierte Noah auf 2000 vChr. Joseph
Justus Scaliger berechnete das Alter der Welt von 3947 vChr und ließ
Jesus 4 vChr. zur Welt kommen; Adam wurde demnach am 23. April
geboren. Kepler ging von den Werten 3992 und 4 vChr. aus. Am genauesten wurden
die Iren und die Briten: Bischof James Usher (1581-1656) hat in seinen Annalen des Alten und des Neuen
Testaments (1650-1653) den ersten Schöpfungstag mit Sonntag, dem 23. Oktober und
den Tag der Erschaffung Adams mit Freitag, dem 28. Oktober 4004 vChr. errechnet:
John Lightfoot gab dann sogar noch die Uhrzeit an: Adam sei um 9 Uhr
vormittags erschaffen worden. Newton allerdings gab der Welt 500 Jahre weniger.
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Alle diese Berechnungen gerieten in Widerspruch zur inneren
Chronologie des Alten Testaments und natürlich bald auch zu den zeitlichen
Einschätzungen der Geologen und Paläontologen – Buffon (1707–1788) nahm bereits an, dass die Erde zumindest 75.000
Jahre alt sein müsse.
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Die ursprünglich christliche Gliederung war die in eine
vorchristliche und eine christliche Zeit – wird dann transformiert in Altertum
und [Mittelalter] – noch bei Otto
von Freising und bei Biondo. Durch den Humanismus und die Reformation kommt die Idee auf,
es habe ein neues Zeitalter begonnen – diese Dreiteilung als historisches
Gliederungsprinzip ist zuerst wohl von dem reformierten niederländischen
Theologen (Universität Utrecht) Gisebert Voetius (1588–1676) angewendet worden, und zwar im Bereich der
Kirchengeschichte, da ihm mit Luther ein neues Zeitalter beginnt (Zeit bis Augustinus, Zeit von Augustinus bis Luther, Zeit seit Luther). Allgemein gültig wurde die Dreiteilung dann, wie bereits
erwähnt, durch Christoph Cellarius (1634–1707), der das Altertum von der Erschaffung der Welt
bis auf Konstantin, das Mittelalter dann bis zur Eroberung
Konstantinopels laufen ließ und von da an von der Neuzeit sprach.
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In die Zeit des ausgehenden 16. und des 17. Jhs fällt der Beginn
der Erarbeitung einer neuen Chronologie, die nicht zuletzt aus der Bibelkritik
erfloss, als man die Differenzen zwischen den Weltären, nichtchristlichen
Chronologien und den chronologischen Angaben im Alten Testament erkannte und zu
analysieren begann – es ist hier vor allem auf Joseph
Justus Scaliger (1540–1609), der in
seinem Werk „De emendatione temporum“ 1583 die erste systematische Erfassung der
Chronologie vorlegt, und Denis Petau SJ (1583–1652), der diesen 1627 aus rein praktischen Gründen in
seinem „Rationarium temporum“ bzw. seinem dreibändigen „Opus de doctrina
temporum“ in manchem verbessern konnte und bereits die Zählung nach Jahren "ante Christianam Aeram" vorschlug (die
übrigens schon im 15. Jh erstmals aufgetaucht war), was allerdings nicht
realisiert wurde. Trotz aller Kritik hat sich die Jahreszählung nach Weltären –
die ein wesentlicher Ausdruck des christlichen Weltbildes ist, indem sie vom
Schöpfungsakt ausgeht – bis in die 2. H. des 18., ja in Lehrbüchern bis in das
19. Jh hinein gehalten; der Übergang zur ausschließlichen Verwendung der von
Dionysius Exiguus um 525 eingeführten Inkarnationszählung und der
rückläufigen Zählung für die Zeit vor Christi Geburt ist erst in der 2. H. des
18. Jhs durch Gatterer durchgängig vollzogen worden.
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Aus diesem Prozess ergab sich auch die Notwendigkeit der kritischen
Revision der Alten Geschichte bzw. der Frühgeschichte der Menschheit, also des
Alten Testaments, die im Zusammenhang mit der Sintflutfrage zur Annahme
präadamitischer Völker führte: Isaac de La Peyrere (1594–1676) hat ab 1635 die biblische Geschichte mit der
Erschaffung Adams als lediglich eine Partikulargeschichte des jüdischen Volkes
interpretiert, die neben der Geschichte der nichtjüdischen Völker stehe, weshalb
es in der Genesis auch zwei verschiedene Schöpfungsberichte gebe – einen für die
Welt, die gesamte Natur und den Menschen allgemein und einen zweiten
hinsichtlich Adams und Evas als Stammeltern des auserwählten jüdischen VolkesDementsprechend
vertrat er auch die Ansicht, dass die
Sintflut nicht die ganze
Welt betroffen habe; die Erbsünde (peccatum originale) gelte nur für das
jüdische Volk, die
heidnischen Völker unterlägen nur einer natürlichen
Sündhaftigkeit (peccatum
naturale).. Die Bibel sei demnach nicht ein Handbuch der
frühen Universalhistorie, sondern nur ein partieller Auszug. Wenn im Alten
Testament nirgendwo von den Präadamiten die Rede sei, so dürfe daraus nicht
geschlossen werden, dass sie nicht existiert hätten. Auf Grund seiner Analyse
der Geschichte anderer Völker des Vorderen Orients kommt er zu dem Schluss, dass
deren Geschichte um Jahrtausende weiter zurückreiche als die der Juden. 1655 hat
er sein „Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi“ anonym in den
Niederlanden erscheinen lassen; er musste in der Folge zwar unter kirchlichem
Druck widerrufen, seine Theorie hat aber natürlich enormes Aufsehen erregt und
die Diskussion angeheizt. – 1678 brachte Richard Simon (1638–1712) seine „Histoire critique du Vieux Testament“ in
Paris heraus, in der er Peyreres Kritik am Pentateuch aufgreift und nachzuweisen sucht, dass
keine der Überlieferungen des Alten Testaments für sich allein eine tragfähige
Grundlage für eine Chronologie biete – eine vollständige Weltchronologie müsse
deshalb zweifellos auch auf außerbiblische Geschichtsquellen zurückgreifen.
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Als weiteres Moment der Säkularisierung im Wege der Relativierung
der europäischen Kultur und damit des Christentums ist die räumliche Erweiterung
des Betrachtungsfeldes, wie sie sich durch die Entdeckungen angebahnt hat –
vielfach waren es gerade Geistliche, die im Wege der Missionstätigkeit durch
ihre Berichte sehr dazu beigetragen haben; ein schönes Beispiel dafür ist die
Einbeziehung von China im 17. und 18. Jh, wobei diese langehin mit der
biblischen Überlieferung in Einklang gesehen wurde81, was bei der amerikanischen Welt nicht mehr
möglich war.
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Auch die neuen, aus der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse wurde
der Kirche und ihrem Dogma gegenüber ins Treffen geführt – so wird ein Beweis
der Unmöglichkeit der Auferstehung des Fleisches geführt: 1 Land = 41.600 Dörfer
zu je 22 Familien zu je 9 Personen = 38,230.000 Einwohner = 10,400.000 Kubikfuß
Fleisch – diese Masse erneuert sich alle 60 Jahre, sodass sich in 10.000 Jahren
eine Fleischmasse ergibt, deren Volumen größer ist als das der Erdkugel; also
sei die Auferstehung des Fleisches rechnerisch klar als Unmöglichkeit
erwiesen.
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Gegen das Jahr 1700 hin kommt Aufbruchsstimmung auf, die Begriffe
„modern“ und „neu“ sind in aller Munde; der französische Historiker Paul Hazard formulierte dazu: „man verließ
die Partei der großen Toten“, eine Komödienfigur jener Jahre sagt: „4000 Jahre
auf dem Buckel zu haben, ist kein Ruhm, sondern eine unerträgliche
Last!"
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In der christlichen Auffassung, die an sich eher statisch
ist, ist keine Rede von einem Voranschreiten, außer in der Zeit hin auf das
Jüngste Gericht. Anders allerdings die stoische Philosophie, die von der
zunehmenden Beherrschung der Natur durch den Menschen („zweite Natur“) spricht
und ein Fortschreiten einer Entwicklung postuliert.
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Im 13. Jh hat Roger
Bacon Vorstellungen entwickelt, dass die Wissenschaft zur Verbesserung
der Situation des Menschen beitragen könne. Bodin betrachtet die Weltgeschichte als einen fortschreitenden, sich
entwickelnden Prozess; der Skeptiker Montaigne (1533–1592) vertritt die Vorstellung, dass die Philosophie
eher mit der Glückseligkeit des Menschen auf Erden, denn im Jenseits zu tun
haben müsse. Um 1600 gewinnt die Vorstellung vom Neuen und der unerhörten
Bedeutung des Neuen für eine bessere Zukunft an Boden.
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Explizit hat Bernard de Fontenelle (1657–1757, Neffe Corneilles, ein Skeptiker und Vorläufer der Aufklärung) sich vor allem
in seinem „Dialogues des morts“ (1683) mit der Frage des Fortschritts
auseinandergesetzt. Während er zur Ansicht gelangte, dass die Alten und die
zeitgenössischen Generationen in der Kunst gleichrangig seien, konstatierte er,
dass in Wissenschaft und Wirtschaft ein Fortschritt gegenüber den Alten
unzweifelhaft gegeben sei und dass eine unreflektierte Verherrlichung des
Altertums diesem Fortschritt im Wege stehe. Fontenelle hat in seinen „Relation de l’ile de Borneo“ eine Satire auf
die Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Protestanten verfasst. Charles
Perrault (1628–1703, war eigentlich
Dichter und einer der ersten Märchensammler, lange vor den Grimms, Mitbegründer der Kunstakademie unter Colbert) hat in einem seiner Werke – „Parallèle des anciens et des
modernes“, 4 Bde, Paris 1688–1696 – das Altertum und die Modernen verglichen,
nachdem er 1687 in der Academie de France mit seinem Gedicht „Le siècle de
Louis-le-Grand“ eine tiefgehende Auseinandersetzung über den Wert des Neuen
gegenüber dem Alten vom Zaun gebrochen hatte. Perrault empfand seine Zeit als unüberbietbaren Höhepunkt82.
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Claude Adrien Helvetius (1715–1771) hat in seinem berühmten Werk „De l’esprit“
(1758) alle menschlichen Leistungen aus dem Gefühls- bzw. Auffassungsvermögen
abgeleitet und den Egoismus als die eigentliche, zentrale Motivation dargestellt
– das Buch wurde 1759 auf Befehl des Parlaments öffentlich verbrannt, Helvetius ging nach England und dann nach Berlin). Kant leitet in seiner Schrift „Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“
die positive Entwicklung von der Unleidlichkeit der Menschen ab.
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Giovannibattista Vico (1668–1744) entwickelte eine
Fortschrittslehre, der er zwar einen Zyklus zugrunde legte, gleichzeitig aber
auch ständiges Fortschreiten zuschrieb – gewissermaßen ein spiralförmiger
Fortschritt.
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Pierre Bayle (1647–1706), mit dem Beinamen "Vater der Aufklärung", war der
Begründer der akribischen Geschichtsforschung in dem Sinne, dass er Descartes' Skeptizismus gegenüber die Möglichkeit von Erkenntnis aus
der Geschichte – die dieser schlichtweg für unmöglich erklärt hatte – vom
Prinzipiellen hinwendet zum Konkreten, indem er die Skepsis, die Kritik bei der
Beurteilung von Fakten, von Ereignissen in der Geschichte (und eben nicht auf
die Befassung mit der Historie insgesamt) zur Anwendung bringt. In seinem „Projet et Fragment d’un Dictionnaire critique
...“ (1692) liefert Bayle eine überzeugende Gegenüberstellung von mathematischer und
historischer Gewissheit, also Vernunftwahrheit und „Tatsachenwahrheit“. Damit
transponiert er die bis dahin wesentlich auf dem Gebiet der Hilfswissenschaften
vollzogene Entwicklung der Kritik – zur Gewinnung der discrimina veri ac falsi, d.h. der formalen Kriterien – auf
die Auseinandersetzung mit den Inhalten. Seine diesbezügliche Hauptleistung ist
das "Dictionnaire Historique et Critique" (2
Bde, Rotterdam 1697, zahlreiche spätere Auflagen bzw. Ausgaben in drei Bänden,
die 11. Auflage im Octavformat mit 16 Bdn; 1740 ins Deutsche übersetzt, 4 Bde,
Leipzig 1741-1744), das aus der Rezensierung eines älteren Werkes, des „Grand
Dictionnaire historique“ von Louis Moréri (1643–1680) entstanden ist. Bayle forderte absolute Unparteilichkeit83 und Objektivität (Ideal des Melchisedek, s.u.), den
exakten Nachweis übernommener Anschauungen, Textstellen etc. (Anmerkungen) und
erkannte den hermeneutischen Zirkel als solchen.
|
„Wer die Gesetze der Geschichte
kennt, der wird mir zugestehen, dass ein Geschichtsschreiber, der seine
Aufgaben getreu erfüllen will, sich vom Geist der Schmeichelei und von dem der
üblen Nachrede völlig freimachen muss. Er muss sich, soweit als irgend
möglich, in den Zustand eines Stoikers versetzen, der von keiner Leidenschaft
bewegt wird. Unempfindlich für alles andere, darf er nur auf die Interessen
der Wahrheit achten, und ihr muss er die Empfindlichkeit über ein Unrecht, das
ihm widerfahren, wie das Gedächtnis einer Wohltat, ja selbst die Liebe zum
Vaterlande opfern. Er muss vergessen, dass er einem bestimmten Lande angehört,
dass er in einer bestimmten Erkenntnis erzogen ist, dass er diesem oder jenem
zu Dank verpflichtet ist, dass diese oder jene seine Eltern, seine Freunde
sind. Ein Historiker als solcher ist wie Melchisedek ohne Vater, ohne Mutter
und ohne Abstammung. Fragt man ihn, von wo er kommt, so muss er erwidern: Ich
bin weder Franzose noch Deutscher, weder Engländer noch Spanier; ich bin
Weltbewohner; ich stehe weder im Dienste des Kaisers, noch des Königs von
Frankreich, sondern ausschließlich im Dienst der Wahrheit; sie ist meine
einzige Königin, der ich den Eid des Gehorsams geleistet habe.“Aus dem Artikel „Usson“ des Dictionnaire. |
Was uns heute an rein technischer Gestaltung einer
wissenschaftlichen Arbeit selbstverständlich ist, hat maßgeblich Bayle eingeführt.
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„Ich glaube, dass man die Kunst des
Zitierens auf zwei Klassen von Schriftstellern zurückführen kann. Einige
begnügen sich damit, die modernen Autoren zu plündern und die Kompilationen
anderer, die dasselbe Gebiet bearbeitet haben, in einem Werk zusammenzufassen.
Diese klären nichts auf und beziehen sich niemals auf die Originale
[...]
|
Doch es gibt auch solche, die sich
nur auf sich selbst verlassen. Sie wollen alles klären, sie gehen immer bis
auf die Quelle zurück und prüfen, welche Absichten der Verfasser verfolgte;
sie bleiben nicht bei dem Abschnitt stehen, den sie gerade brauchen, sie
betrachten vielmehr mit Aufmerksamkeit, was ihm vorausgeht und was ihm folgt.
Sie bemühen sich um schöne Schlussfolgerungen und suchen ihre Autoritäten gut
miteinander zu verbinden. Sie vergleichen sie untereinander, sie bringen sie
in Übereinstimmung oder aber sie zeigen, dass sie sich bekämpfen. Und damit
können sie zu denen gehören, die sich eine Religion daraus machen, auf dem
Gebiet der Tatsachen nichts vorzubringen, als was man beweisen kann.“
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Im Gefolge Descartes’ bzw. der cartesianischen Anschauungen entwickelte sich in
Frankreich im 18. Jh ein scharfer Kritizismus bis hin zum Hyperkritizismus – der
sogenannte Pyrrhonismus, nach dem griechischen Skeptiker Pyrrho von Elis –, der vor allem mit dem Namen des Jesuiten Jean Hardouin (1646–1729) verbunden wird, der schließlich erklärte, dass
der weitaus größte Teil der aus dem klassischen Altertum überlieferten Schriften
im 13. Jh erst als Fälschungen entstanden sei, dass die aus der Zeit vor dem
Tridentinum überlieferten Konzilien nie stattgefunden hätten etc.85 – Ähnlich radikale Vorwürfe sind im 19. Jh aus
nationalen Motiven erhoben worden und wurden auch im 20. Jh immer wieder als
finanziell einträgliche Sujets für pseudowissenschaftliche Literatur
herangezogen.
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Noch weit akkurater als Bayle verhielt sich der englische Mathematiker John Craig (1663–1731, ab 1711 FRS = Fellow der Royal Society); er war ein
strikter Anhänger Newtons und veröffentlichte 1699 seine „Theologiae christianae
principia mathematica“; in denen er auch versuchte, die Wahrscheinlichkeit der
Glaubwürdigkeit von mündlich und von schriftlich überlieferten Aussagen
mathematisch zu fassen. Er stellte dabei die Zahl der Bezeugungen eines Faktums,
den Zeitraum der Existenz einer bestimmten Nachricht und den zeitlichen Abstand
vom Ereignis in Rechnung. Die „Glaubwürdigkeitsphase“ einer mündlich
überlieferten Nachricht begrenzte er mit 800 Jahren – darnach würde die
Wahrscheinlichkeit für die Wahrhaftigkeit der Aussage unter einen tolerablen
Wert sinken; bei schriftlicher Überlieferung ging er auf 3150 Jahre. In
ähnlicher Weise beschäftigte sich ein anderer Autor (vermutlich George Hooper) zur selben Zeit in den „Philosophical Transactions“ der Royal
Society mit dieser Frage86.
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Viele der im 17. Jh entwickelten Ansätze gelangen erst im
18. Jh zur vollen Entfaltung. Der auf diesen Grundlagen erfolgende enorme Ausbau
des inhaltlich-materiellen Fundaments erst macht die – hier nicht mehr zu
behandelnden – neuen Forderungen der Aufklärungshistoriographie des 18. Jhs erst
sinnvoll.
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Im 18. Jh kamen in der Entwicklung der
Geschichtsforschung immer stärker nationale Aspekte zum Tragen, wobei nun die
Akademien und die Universitäten in die Entwicklung eintreten.
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Eine führende Rolle spielte dabei Frankreich, wo es zur Organisierung der ersten monumentalen weltlichen
nationalen Quellensammlung kommt, nämlich der "Rerum Gallicarum et Francicarum
Scriptores" = "Recueil des historiens des Gaules et de la France" (RHF), erster
Leiter ist Dom Martin Bouquet. 1738–1786 erscheinen 13 Bände, nach der Revolution nimmt die
Academie des Inscriptions et Belles-Lettres die Arbeit wieder auf, 1806-1904
erscheinen die Bände 14-24, die letzten Bände bearbeitete Leopold Delisle – die Reihe reicht bis in das 14. Jh. Als kirchliches
Gegenstück wurde ab 1710 von den Maurinern unter Dom Denis de Saint-Marthe die „Gallia christiana“ (Frankreich im alten Sinne, Rhein
als Grenze, nach Bistümern geordnet) herausgegeben (13 Bde: 1715–1785, Bde
14–16: 1856–1865).
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Diesen Quellensammlungen zur weltlichen und zur kirchlichen
Geschichte Frankreichs standen zur Seite die von den Maurinern herausgegebene
„Histoire litteraire de la France“, die alle Autoren – gleich welcher Sprache
und welchen Gebietes – behandeln sollte, 12 Bde, 1733–1763 (bisher 38 Bände bis
in das 14. Jh), und des Mauriners Bernard de Montfaucon (1655–1741) "Les monuments de la monarchie francoise", 5
Bde, Paris 1729–1733, die in Österreich durch Marquard Herrgott nachgeahmt worden ist; Montfaucon ist damit einer der Begründer der Mittelalter-Archäologie –
er war auch der Begründer der griechischen Paläographie (Palaeographia graeca,
Paris 1708).
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1711 bereits schlägt der Kanzler von Frankreich, Henri-Francois
d'Aguesseau, dem König die Errichtung eines öffentlichen, zentralen
Staatsarchivs vor. Die Idee wird erst gegen Ende des 18. Jhs realisiert. Wohl
aber wird 1762 als zentrales Depot für Abschriften in- und ausländische
Archivalien zur Geschichte Frankreichs das Cabinet des Chartes begründet; es
werden 40.000 Abschriften gemacht; das Cabinet wird 1790 aufgelassen bzw. in die
Bibliotheque nationale in Paris überführt („Fonds Moreau“, 284 Bände). Es werden
am Cabinet zwei Publikationsreihen erarbeiten: eine Textsammlung und eine
Regestensammlung.
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In ähnlicher Weise wie es in Frankreich geschah, strebte in Italien Ludovico Antonio Muratori (1672–1750), Bibliothekar der Herzöge von Modena und Präfekt
der Ambrosiana in Mailand, in unglaublicher Aktivität nach der Bewerkstelligung
einer die erstrebte nationale Einigung vorwegnehmenden Quellenedition, so
erschienen seine „Scriptores rerum italicarum“, 28 Bde, Mailand 1723–1738, und
seine "Annali d'Italia", 12 Bde, Rom 1744–1749.
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In Deutschland gelang derlei in
dieser Dimension nicht, da Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) seine Pläne, in Deutschland eine
Geschichtsforschung nach französischem und italienischen Muster zu installieren,
nicht realisieren konnte; seine eigenen „Annales imperii occidentis
Brunsvicenses“ (für die Zeit von 768-1005 und ursprünglich als Genealogie der
Welfen gedacht) blieben unvollendet und wurden erst im 19. Jh von Heinrich Georg
Pertz herausgegeben, und schon gar nicht hatte Leibniz es vermocht, die Mittel für ein Collegium historicum
Germanicum (als deutsches Gegenstück der Mauriner gedacht) aufzubringen bzw. die
Annalen als Reichsannalen zu betreiben; so entsteht lediglich eine
Materialsammlung rein personengeschichtlichen Zuschnitts.
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In England, wo 1622 William Camden an der Universität Oxford einen ersten Lehrstuhl für Geschichte
gestiftet hatte und 1627 eine analoge Professur in Cambridge geschaffen worden
war und die Bemühungen der Society of Antiquaries um ihre Anerkennung sich
höchst mühselig gestaltet hatten, veranlasste die Regierung zu Ausgang des
17. Jhs die Edierung der internationalen Verträge der englischen Könige nach dem
Muster des von Leibniz veranstalteten „Codex iuris gentium diplomaticus“, nämlich
Thomas Rymer, „Foedera“, 20 Bde, London 1704–1735 (reicht bis 1654), außerdem
edierte man 1783 das berühmte „Domesday Book“87.
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In Österreich entstand sehr früh
– auf Grund direkten Kontaktes mit den Maurinern – eine "nationale", aber auf
die Historiographie beschränkte Quellensammlung, nämlich die von Hieronymus Pez ins Werk gesetzten "Scriptores rerum austriacarum"
(3 Bde Leipzig-Regensburg 1721–1745), der gegen Ende des Jahrhunderts Adrian
Rauch mit seinen "Rerum austriacarum scriptores" (3 Bde, Wien
1793–1794) folgte.
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Nach dem Vorbild der "Italia illustrata" strebte man im
kirchlichen Bereich nach einer umfassenden historisch-topographischen Erfassung
der kirchlichen Welt. Das Idealbild gab Ferdinand Ughelli (1595–1670) vor, der 1644–1662 in Rom seine neunbändige "Italia sacra" herausbrachte, die eine ähnlich
große Herausforderung darstellte wie Biondos Werk zu seiner Zeit und von der bereits 1717–1722 eine
Neubearbeitung erschien. Analoge Werke folgten für andere Länder: die 1656
begründete, aber erst 1715 in Gang gebrachte „Gallia christiana“ und 1747–1879
die „Espana sagrada“ (in den 51 Bänden wurde auch Portugal erfasst) – eine
„Germania sacra“ ist – wie eine „Germania illustrata“ – nie erschienen,
bedeutende Vorarbeiten hat allerdings Marcus Hansiz erbracht, Magnus
Klein hat sich mit dem Gedanken getragen, Gatterer hat ein umfassendes Projekt ausgearbeitet und es ist sogar
eine gelehrte Sozietät zur Verfolgung des Planes gegründet worden, in
St. Blasien hat man dann 1790–1862 einen Torso von neun Bänden herausgebracht.
Um 1800 taucht das Projekt einer „Austria sacra“ auf, das ebenfalls nicht
realisiert worden ist, aber bis in unsere Zeit verfolgt wird.
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Neben diesen Bemühungen und den in anderem Zusammenhang bereits
erwähnten, von der Geistlichkeit getragenen Werken, kam es auf kirchlichem
Gebiet im 18. Jh vor allem in Italien und in Frankreich zu großen Editionen der
Konzilsmaterialien:
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In Frankreich gab Jean Hardouin 12 Bde „Acta conciliorum et epistolae decretales ac
constitutiones summorum pontificum“, Paris 1714–1715, heraus. N. Coleti, ein venezianischer Geistlicher, veröffentlichte auf Grundlage
vereinzelter französischer Ausgaben 23 Bde „Sacrosancta concilia“, Venedig
1728–1733, heraus; der Kardinal Giovanni Domenigo Mansi (1692–1769; EBF von Lucca) schuf mit seinen 31 Bänden „Sacrorum
conciliorum nova et amplissima collectio“, Florenz-Venedig 1759–1793, die bis in
unsere Zeit umfangreichste und vollständigste Sammlung mittelalterliche
Konzilientexte. Im 19. Jh kam es dann durch Jacques-Paul Migne (1800–1875) ab 1844 zur Herausgabe der patristischen Literatur
in Gestalt des „Patrologiae cursus completus“ (lateinische Reihe in 221 Bände,
1844/45!) sowie der griechischen Serie in lateinischer Übersetzung (165 Bände,
1857–1858). Dieses ungeheure Werk ist als flüchtig gearbeitet viel kritisiert,
aber in Ermangelung anderer Ausgaben auch viel benützt und bis heute nur
partiell durch bessere Ausgaben ersetzt worden.
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Erfolgreicher waren einmal mehr Unternehmungen auf Ordensbasis, wie
etwa die noch in Bearbeitung stehende „Germania Benedictina“.
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Obgleich England der Ausgangspunkt der Aufklärung war, so
wirkte sich der neue Geist wenig auf die Historiographie aus, weil die
Glorreiche Revolution die Interessen der einzelnen Schichten weitgehend
berücksichtigt hatte und damit kein Movens für eine Vermehrung der
Historiographie bestand.
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Anders waren die Verhältnisse in Frankreich, wo sich gegen Ende der
Regierungszeit Ludwigs XIV. massive Kritik erhob, die gegen das
überkommene System und die mit ihr verbündete Kirche zum Angriff überging. So
verbanden sich politische Spekulation, der Kampf gegen den Aberglauben und die
theologische Geschichtsbetrachtung.
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Eine grundlegende Veränderung jedoch war, dass die Geschichte
nunmehr von unabhängigen Gelehrten geschrieben wurde, die nicht mehr, wie bisher
fast ausschließlich gehandhabt, dem Herrscher und seinem Staat ergebene und
daher offiziöse, tendenziöse Geschichtsschreibung betrieben, wie dies ja selbst
bei den großen Florentinern der Fall gewesen war, die selbst den regierenden
Familien entstammend nur die Perspektive des Staates, die Staatsräson – wenn man
den Begriff vorwegnehmend gebrauchen will – kannten. So wird nun zum ersten Mal
die Geschichte aus der Sicht der Untertanen geschrieben, nämlich des
wohlhabenden dritten Standes, für den aber nicht nur die rein politische
Geschichte, wie sie bis jetzt – die ethnographische Geschichtsschreibung
miteinbezogen – betrieben worden war, von Interesse war, sondern ebenso
Wirtschaft, Handel und Industrie darstellenswert waren. So erschließt die
Aufklärung völlig neue Aspekte und neue Bereiche der Geschichtsbetrachtung.
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Zugleich vollzieht sich auf Grund der neuen freien Geisteshaltung
die endgültige Loslösung von der theologischen Geschichtstheorie; dafür freilich
sind die Werke der Aufklärer ihrer eigenen Doktrin des Nationalismus verhaftet.
Die Aufklärung gewinnt einen philosophischen Standpunkt der
Geschichtsbetrachtung, und mehr als zuvor werden Typisches und Allgemeingültiges
vom Zufälligen geschieden; die Suche nach Gesetzmäßigkeiten beginnt.
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Ein Beispiel für die Geschichtsauffassung der Aufklärung ist die
"Katastrophentheorie". In ihrer optimistischen vom Fortschrittsgedanken
geprägten Grundhaltung – (Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des
Menschen aus einer unmündigen Vergangenheit […] Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!" –
sapere aude!) – sieht sie sich mit
Negativa wie dem Niedergang von Kulturen konfrontiert, in denen ja die Ratio die
höchste Wirkung entfaltet haben sollte. Die Katastrophentheorie gewinnt den
Katastrophen Positives ab: Beispielsweise die Rückführung des Humanismus auf die
Auswanderung der Gelehrten anlässlich der Eroberung Konstantinopels im Jahre
1453, eine Theorie, die sich verschiedentlich bis heute gehalten hat. Freilich
war dieses Ereignis nicht bedeutungslos für ihre Entwicklung, aber keineswegs
das auslösende oder gar das allein verantwortliche Moment. Der Aufschwung der
italienischen Städte im späten Mittelalter wurde auf die Kreuzzüge und den
Einfluss der orientalischen Kultur zurückgeführt. Damit hatte man
Erklärungsmodelle für Erscheinungen, die nicht auf den Einfluss eines
Staatsmannes allein zurückzuführen waren.
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Das Verdienst der Aufklärung war es allerdings, dass man sich nun
tatsächlich mit Problemen der Kulturgeschichte beschäftigte.
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Die Historiographie in Frankreich stand im 18. Jh wesentlich unter
dem Einfluss philosophischer Überlegungen, die vor allem auf die Staatslehre und
auf ethisch-moralische Fragen angewendet wurden.
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Drei Momente sind im 18. Jh von besonderer Bedeutung: |
1) |
Dass 1752 der deutsche Theologe Johann Martin Chladenius (1710–1759) in seinem Buch "Allgemein
Geschichtswissenschaft" eine umfassende Erkenntnistheorie und Methodologie der
Geschichtswissenschaft gab. Chladenius bemüht sich expressis
verbis, die erkenntnistheoretische Lücke zwischen der Philosophie als
der nach allgemeinen Wahrheiten strebenden Wissenschaft und der nach
individueller = historischer Wahrheit strebenden Historie zu schließen. Er
stellt sich dabei allerdings als Theologe – vergeblich – gegen das „Idolum saeculi: probabilitas“ (so der Titel
einer seiner Schriften). Er analysiert, wie aus einer Begebenheit ein
geschichtliches Bild entsteht und welchen Veränderungen der ursprüngliche
Sachverhalt ausgesetzt ist, dass dazu ein "Zuschauer" notwendig ist, dass es
nur unterschiedliche Aussagen über ein und dasselbe Ereignis geben kann
(Sehepunkt) und dass man deshalb nur eine unvollkommene Information über das
Ereignis erlangen könne; besondere Bedeutung misst er dabei psychologischen
Fragen und dem Problem „Sprache“ zu.
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2) |
In Frankreich treten mit Montesquieu und Voltaire bahnbrechende Denker im Bereich der Geschichte und der
Geschichtsphilosophie auf. Die Geschichtsschreibung der französischen
Aufklärung resultiert aus dem Widerstand gegen das herrschende politische
System (das war in England nicht so, dort war man ab 1688 im Grunde genommen
zufrieden, für historische Auseinandersetzungen fehlten die Anlässe). Im
Wesentlichen entwickelten sich zwei Richtungen:
|
|
– |
politisch-spekulative Überlegungen, wie sie aus der
italienischen Historiographie des Humanismus (Macchiavelli, Guicciardini) übernommen wurden, führen hin zur Säkularisierung der
gesamten Geschichte, auch der antiken und biblischen Geschichte
|
– |
Kampf gegen Aberglaube und theologische
Geschichtsbetrachtung – weniger bedeutsam als die erste Richtung.
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|
3) |
Die
wesentliche Neuerung besteht nun aber darin, dass die
französische
Aufklärungshistoriographie erstmals Geschichte in einem
umfassenden Sinne nicht
vom Standpunkt der Regierenden, sondern, wie bereits
erwähnt, von dem des
Untertanen (freilich des wohlhabenden dritten Standes)
aus begreift und
darstellt; dies bringt neue Aspekte ein: die Geschichte des
Handels, der Industrie,
der Kultur. Den neuen Historikern kam keine politische
Verantwortung zu, denn sie
gehörten nicht der Regierungsebene an, waren nicht
wie die florentinischen
oder venezianischen Historiographen in diese
eingebunden; sie verfügten
daher zwar vielfach nicht über die erforderliche
Sachkenntnis, waren aber
unabhängig, in mancher Hinsicht vorurteilsloser und
nicht vorgeprägt und sie
waren die ersten, die die Geschichtsentwicklung auch
unter philosophischen
Aspekten allgemeiner und über große Zeiträume hinweg zu
erfassen und zu
interpretieren versuchten; sie suchten das Typische und
allgemein Gültige vom
Zufälligen zu unterscheiden; dies führt erstmals zu
einer großflächigen
Analyse im Gegensatz zu den kleinräumigen und an
unmittelbarer
Ursache-Wirkung orientierter florentinischer Behandlung der
Thematik. So entwickelt
sich in der französischen Aufklärung jener moderne
Typus von
Geschichtsschreibung, der im 19. Jh fortentwickelt wird und der
auch
heute noch Pate der
moderneren Richtungen ist. Es ist dies zugleich ein
Prozess der
Verselbständigung der wissenschaftlichen Geschichtsforschung; ihre
Träger stehen nicht mehr
im Dienste von Regierungen (preußische
Hofhistoriographen sind
Ausnahmen), sondern sind selbständig und verfolgen
ihre eigenen Interessen
und Intentionen. Sie untersuchen erstmals systematisch
nach Ursache und Wirkung
in großen Zusammenhängen (die humanistische
Annalistik bestand aus
einer unzusammenhängenden Abfolge von brillanten
Erzählungen von einzelnen
Fällen, die antiquarischen Historiker hatten Fakten
chronologisch
aneinandergereiht); zweifellos sind bei diesen
Erklärungsversuchen
zahlreiche voreilige, summarische und grob gefasste
Kausalketten begründet
worden, aber sie haben es eben erstmals versucht, sie
haben (jenseits der
Theologie) die Frage aufgeworfen, inwieweit unbewusste
Mächte –
Nationalcharaktere, Zeitgeist – den Gang der Ereignisse
mitbestimmten.
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Zu diesen drei Momenten tritt die Entwicklung des
Fortschrittsgedankens und dann auch der Vorstellung der Genese wie die
allgemeine Ausweitung des Betrachtungsfeldes der Historie über die bloße
Dynasten- und Kirchengeschichte hinaus auf Wirtschaft, Kultur, Bürgertum etc. In
dieser Weise werden in der 2. Hälfte des 18. Jhs Geschichtstheorie,
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung zusammengeführt. Die
Säkularisierung erfordert die Schaffung einer bewussteren Geschichtsphilosophie
als bis dahin.
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Ein Mangel der französischen Aufklärungshistoriographie besteht
allerdings im geringen Einfühlungsvermögen in frühere Zeiten und Personen; es
wird zu sehr aus der eigenen Zeit heraus geurteilt und gewertet. Daneben auch
Standardtopoi: Religion könne nur von schlauen Priestern zu ihrem eigenen
Vorteil erfunden worden sein; eine weise Verfassungsbestimmung müsse von einem
weisen Despoten oder Gesetzgeber erfunden worden sein – wird nicht als Ergebnis
einer langfristigen organischen Entwicklung angenommen. Aus dieser Haltung
heraus resultiert bzw. damit hängt zusammen der Utilitarismus der
Aufklärungshistoriographie. Cassirer hat die Geschichtsauffassung des 18. Jhs als „weniger ein fertiges in seinen Umrissen
feststehendes Gebilde“, sondern vielmehr „als eine nach allen Seiten hin wirkende Kraft“ bezeichnet.
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Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de Montesquieu (1689–1755) war Jurist
und ist einer der wichtigsten Begründer historischen Denkens in der Neuzeit.
1721 publizierte er seine „Lettres persanes“, eine schonungslose Kulturkritik
unter der Maske eines idealen Naturmenschen. Da er die Dominanz Europas durch
keine andere Hegemonie ersetzt, ist er ein Vertreter des Kulturrelativismus und
ein Wegbereiter der Kulturmorphologie. 1748 erscheint sein Werk „L'Esprit des
lois“, wobei der Begriff „Gesetz“ sich auf alle möglichen Bereiche bezieht:
Klimatheorie, Religion, Staatsgesetze etc. – die Summe ist ein allgemeiner Geist
= in etwa Volksgeist. Montesquieu fasst als Erster den Staat nicht nur als politisches
System auf, sondern als eine Gesamtheit unter gesellschaftlichen, kulturellen,
wirtschaftlichen, rechtlichen etc. Aspekten.
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„Esprit des lois“ bezeichnet den Beginn einer neuen Epoche: Montesquieu schreitet durch das Medium der Bayleschen Fakten hindurch zur Erfassung des Allgemeinen, der Gesetze,
die eigentlich den Gedanken des historischen Idealtypus bringen; der „Esprit des
lois“ ist eine politische und soziologische Typenlehre, in der die einzelnen
Staatsformen als Ausdruck bestimmter typischer Strukturen verstanden und
dargestellt werden, die uns in der Realität in verschiedenen Variationen
entgegentreten, aber gleichwohl dem Typus entsprechen; diesen Typen ordnet Montesquieu bestimmte Grundprinzipien zu (Republik – bürgerliche
Tugend; Monarchie – Ehre; Despotie – Furcht). Montesquieu zieht auch die natürlichen Faktoren in Betracht
(Klimatheorie), postuliert aber, dass der Mensch auf Grundlage des freien
Willens trotz natürlicher Widrigkeiten sein Geschick frei gestalten kann und
soll.
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Montesquieu hat den Boden vorbereitet für Francois Marie Arouet, bekannt als Voltaire, (1694–1778), den Cassirer in Hinblick auf seine Wirkung mit niemand geringerem als
Newton verglichen hat. Voltaire ist nach seiner eher noch konventionellen „Histoire de
Charles deuxieme“ (1731) im Jahre 1751 mit seinem Werk „Le siecle de Louis XIV“ hervorgetreten, dessen endgültige
Fassung allerdings erst 1766 erschienen ist. Es ist dies ein bahnbrechendes
Werk, das die alte dynastisch orientierte Historiographie durch eine
gesamthistorische Kulturgeschichte ersetzt – es soll die Gesamtheit des Lebens
dieser Zeit dargestellt werden. Voltaire ist allerdings vom Absolutheitsanspruch der Aufklärung
beseelt (es gibt nur vier Jahrhunderte, die von Belang seien, ähnlich auch Schiller und andere: Weltgeschichte ist Weltgericht. Geschichte als
Totenrichterin etc.). Dieses Werk ist in einer neuen Form gehalten: Voltaire ordnet die Ereignisse nicht nach ihrer Gleichzeitigkeit, gibt
also die annalistische Form auf und sucht und findet eine neue Ordnung der Dinge
nach ihrem inneren Zusammenhang. So behandelt er den Einfluss von Colberts Handelspolitik und der finanziellen Verhältnisse im
Allgemeinen auf die Außenpolitik Ludwigs XIV. In diesem
Werk spiegelt sich Voltaires Persönlichkeit – einerseits war er Vertreter der
arbeitsamen, auf Erwerb ausgerichteten Bourgeoisie, andererseits aber auch ein
Genussmensch des ästhetischen Vergnügens, der an Ludwig XIV. vor
allem das Mäzenatentum schätzte und dies offensichtlich gegenüber dem Nachfolger
Ludwig XV. hervorstrich. Er schrieb aus einer ähnlichen Intention wie
Macchiavelli (die Geschichtsschreibung habe der Wohlfahrt des Staates
zu dienen), doch war sein Hauptanliegen eine notwendige Reform des Staates von
oben; als ideale Staatsform sah er wie seine Schüler auch den aufgeklärten
Despotismus an. Als Vorbild stand ihm England vor Augen, dessen
Verwaltungssystem tatsächlich jenem Frankreichs überlegen war. Die Geschichte
der Menschheit ist nach Voltaire ein Kampf um Fortschritt und Bildung. Die
Geschichtsschreibung habe der Wohlfahrt des Staates zu dienen.
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1756 veröffentlicht Voltaire seinen "Essai sur l'Histoire
Gènèrale et sur les Moeurs et l'Esprit des Nations" – endgültige Fassung
1769. Bereits 1753 wurde der Essai von Gotthold Ephraim Lessing in der Vossischen Zeitung angekündigt; die
Anzeige beginnt mit der Bemerkung, dass die edelste Beschäftigung des Menschen
der Mensch sei, dass man sich mit diesem Gegenstand aber „auf eine gedoppelte Art“ beschäftigen könne: „Entweder man betrachtet den Menschen im Einzelnen
oder überhaupt. Auf die erste Art kann der Ausspruch, dass es die edelste
Beschäftigung sei, schwerlich gezogen werden. Den Menschen im Einzelnen zu
kennen; was erkennt man? Toren und Bösewichte [...] Ganz anders ist es mit der Betrachtung des Menschen überhaupt.
Überhaupt verrät er etwas Großes und seinen göttlichen Ursprung. Man
betrachte, was der Mensch für Unternehmungen ausführt, wie er täglich die
Grenzen seines Verstandes erweitert, was für Weisheit in seinen Gesetzen
herrschet, von was für Emsigkeit seine Denkmäler zeugen. [...] Noch hat kein Schriftsteller sich diesen
Gegenstand insbesondere erwählt, so dass der Verfasser der gegenwärtigen
Schrift mit Recht von sich rühmen kann: libera per vacuum posui vestigia
princeps“88. Die Weltgeschichte ist für Voltaire nicht mehr Gang der göttlichen Vorsehung, sie soll vielmehr
aus einem ihr innewohnenden Entwicklungsgesetz gedeutet werden, das eine
langsame Vervollkommnung der Vernunft zum Ziel hat; Voltaire bemüht sich daher um das Herausarbeiten großer Linien und
gibt – im Gefolge Montesquieus – die Auffassung, dass Mitteleuropa das Zentrum sei, auf,
er bezieht Asien und Amerika in seine Betrachtungen ein. Es soll eine „idèe gènèrale des nations qui habitent et qui
dèsolent la terre“ gewonnen werden. Der Geschichtskenntnis misst er große
Bedeutung zu: „Man schaffe das Studium der
Geschichte ab, und man wird vielleicht eine neue Bartholomäusnacht in
Frankreich und einen Cromwell in England erleben.“
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Voltaire warf den Historikern vor, vergessen zu haben, dass sie
Menschen seien, und nur Schlachten geschildert zu haben anstatt sich mit der
Geschichte des Geistes, dem einzig wahren Gegenstand der Historie zu
beschäftigen. Die Historie habe so zur Mythisierung und zum Heroenkult
beigetragen. Das allmähliche Voranschreiten des Geistes zu schildern und die
Hemmungen, die es zu überwinden galt, sichtbar zu machen, ist das Ziel des
„Essai sur les moeurs“. Der Geschichtsforscher hat für Voltaire wie der Naturforscher das Ziel, im Wandel und Gewirr der
Erscheinungen das versteckte Gesetz zu finden. Die kritische
Geschichtsschreibung hat dafür denselben Dienst zu leisten wie die Mathematik in
der Naturerkenntnis: "In der Physik lassen wir
nur das gelten, was bewiesen ist, und in der Geschichte das, was als die
größte Wahrscheinlichkeit erkannt worden ist. Niemals dürfen wir uns auf bloße
Hypothesen stützen, niemals dürfen wir den Anfang damit machen, irgendwelche
Prinzipien zu erfinden, mit denen wir darangehen, alles zu Erklären. Womit wir vielmehr beginnen
sollen, ist die exakte Zergliederung der uns bekannten Phänomene. Wenn wir
nicht den Kompass der Mathematik und die Fackel der Erfahrung zu Hilfe nehmen,
so können wir nicht einen einzigen Schritt vorwärts tun". Die Vernunft
ist zeitlos vorgegeben, der Fortschrittsgedanke orientiert sich daran, dass sich
die Vernunft im Verlaufe der Geschichte in ihrer Gestalt allmählich immer reiner
und vollkommener offenbart. Geschichte ist für Voltaire nicht Zweck, sondern nur Mittel, Instrument der
Selbsterziehung und Selbstbelehrung des menschlichen Geistes. Er ist von großem
Optimismus beseelt und glaubt die Menschheit dem Ziele nahe; Voltaire schreitet über die akribische Geschichtsforschung, die er
selbst geübt hat, hinaus.
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1765 hat Voltaire seine „Philosophie de
l'Histoire“ vorgelegt, mit der er in gewisser Hinsicht diese Disziplin in
einem bewussten Sinne begründet hat.
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Neben Voltaire steht Jean Jacques Rousseau (1712–1778), der 1750 auf
die Preisfrage der Academie in Dijon, ob der Fortschritt der Kultur die Menschen
gebessert habe, in seinem „Discours sur les arts et les sciences“ und mehr noch
in seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Ursachen der Ungleichheit unter
den Menschen“ (1755, von großer Bedeutung für die französische Revolution)
negativ beantwortet und einen Kulturpessimismus vertritt: Die Menschen werden
durch Kultur und Wissenschaft ins Verderben gestürzt. Rousseau vertritt hier eine Zyklentheorie, ähnlich wie Vico. 1762 vertritt er in seinem berühmten „Contrat social“ die
gegenteilige Ansicht, nämlich das Ideal eines politisch mündigen Bürgers, der
willentlich die naturgegebene Freiheit (die Rousseau jetzt als Anarchie auffasst) zugunsten des Kollektivwillens
zurückstellt und so an der Gestaltung des Staates („soziale Leistung“)
mitarbeitet – der Staat ist nun das Ordnungsprinzip bzw. die Möglichkeit einer
nicht-anarchischen Existenz (weist hin auf Kant und Hegel).
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Rousseau vertrat den Standpunkt, dass der Mensch frei geboren sei,
doch infolge des Entzuges der natürlichen Lebensverhältnisse und des Druckes der
Gesellschaft überall in Ketten liege. Mit dieser Ansicht übte er vor allem auf
Deutschland enormen Einfluss aus.
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Die Philosophie des 18. Jhs behandelte Naturprobleme und
historische Probleme als eine Einheit und suchte dieselben Fragestellungen und
dieselbe Methodik auf beide Bereiche anzuwenden, bis man erkannte, dass dies
eigentlich nicht möglich sei, da zwischen den beiden Bereichen ein fundamentaler
Unterschied bestehe. Cassirer spricht davon, dass man mitten in der Eroberung der
geschichtlichen Welt diese begrifflich habe fundieren und sichern müssen, und
betont in diesem Zusammenhang die zentrale Position von Voltaires „Essai sur les moeurs“.
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Sowohl Voltaire als auch Rousseau haben die Entwicklung der deutschen Historiographie maßgebend
beeinflusst. Man hielt sich hier im akademischen Betrieb – der sehr zum
Unterschied zu Frankreich den wesentlichen Teil der Beschäftigung mit der
Geschichte ausmachte – anfangs eher daran, die französischen und englischen
Entwicklungen vorzutragen, als eigene Ideen zu entwickeln. Die Professoren
verfassten in der Regel Lehrbücher für die Studierenden und schrieben nicht für
einen weiteren gebildeten Kreis wie im Ausland. Dennoch sind die Grundstrukturen
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte als einer akademischen
Disziplin in einem moderneren Sinne sind in Deutschland entwickelt worden, und
zwar wesentlich an der 1737 begründeten Universität Göttingen89 durch Gelehrte wie Achenwall, Gatterer und Schlözer, die die modernen Konzeptionen der philosophischen Historiker
wie Montesquieu, Voltaire, Gibbon und Iselin mit den handwerklichen Elementen der Textkritik bzw. der
historischen Hilfswissenschaften verknüpften. Das dort entwickelte Paradigma hat erst im 20. Jh seine Gültigkeit verloren, ohne dass dies
jedoch allseits akzeptiert worden wäre. Die Göttinger erkannten bereits das
Dilemma zwischen der rationalen und durch Hypothesen gestützten Annäherung an
den Untersuchungsgegenstand und die Grenzen, die dem rationalen, empirischen und
induktivem Denken hinsichtlich des Verstehens sinnhaltiger sozialer Beziehungen
gesetzt sind, da diese eine gewisse Einfühlung und miterlebendes Verstehen
erfordern, was jedoch einem streng methodologischen wissenschaftlichen Vorgehen
widerspricht; auch erwies es sich als unmöglich, rhetorische und emotionale
Elemente aus der Sprache zu eliminieren, wie dies in den Naturwissenschaften
möglich ist. Bedeutend und wesentlich ist, dass die Göttinger Historiker in
unglaublich moderner Weise versuchten, einen Kompromiss zwischen der Analyse
struktureller Untersuchungen und dem intuitiven Verstehen einzigartiger
historischer Erscheinungen zu bewerkstelligen – eigentlich das, was auch heute
zur Diskussion steht. Dieser Versuch ist in der Folge durch die idealistische
historische Schule Humboldt–Ranke zurückgewiesen worden.Als unter dem Einfluss vor allem Voltaires stehend können die Göttinger Historiker bezeichnet werden,
vor allem nämlich:
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August Ludwig Schlözer (1735–1809), Anhänger eines
aufgeklärten Absolutismus, Despotismus; reicht aber bei weitem nicht an Voltaire heran, dessen universalhistorische Prinzipien er übernahm.
Verbesserungen in der Chronologie, führte die Rückwärtszählung von Christi
Geburt an ein. Geschichte Russlands, Nordische Geschichte, Geschichte
Nordafrikas, Geschichte der Türken und Mongolen, Vorstellung von der
Universalhistorie, Weltgeschichte (reicht nur bis 500 nChr). Begnügte sich
damit, historische Tatsachen zu registrieren und zu zensieren.
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Johann Christoph Gatterer (1727–1799), gehörte einer
gelehrten Schule an, deren Hauptinteresse im Anschluss an die Mauriner
vornehmlich den Hilfswissenschaften, der Diplomatik, der Genealogie und der
Chronologie galt. Seine Werke waren für den Unterricht bestimmt, und als solche
sehr wirksam, haben aber in der Geschichte der Historiographie keine Bedeutung.
Sein Verdienst ist die Gründung des historischen Instituts in Göttingen in der
Mitte der 1860er Jahre.
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In Göttingen fanden sich im letzten Viertel des 18. Jhs zahlreiche
Historiker der aufklärerischen Richtung zusammen; diese junge Universität übte
wohl deshalb besonders große Anziehungskraft aus, weil die Professoren für ihre
Werke von der Zensur befreit waren.
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Mächtigen Einfluss auf die deutsche Historiographie nahm
Rousseau, der im Gegensatz zu Voltaire den Standpunkt des Volkes vertrat. Rousseaus Wirkung in Deutschland erklärt sich damit, dass dem
deutschen Bürgertum jenes Maß an gesellschaftlicher Gleichberechtigung fehlte,
welches das englische und französische genoss; so ist es nicht verwunderlich,
dass Rousseau weit mehr Anhänger in Deutschland als in Frankreich fand:
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Friedrich Schiller (1759–1805), war nicht nur
einer der Großen der deutschen Klassik, sondern auch Professor der Geschichte an
der Universität Jena; seine wichtigsten Werke „Geschichte des Abfalls der
Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung“ und „Geschichte des
Dreißigjährigen Krieges", zeigen deutlich Rousseaus Einfluss; berühmt wurde seine Antrittsvorlesung „Was heißt
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, die großen Einfluss
ausübte, natürlich auch auf Grund seiner Wirkung als Dichter.
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Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) stand
ebenfalls im Banne Rousseaus; er war Kantianer und fällt zeitlich bereits in die Zeit der liberalen
Historiographie. Schlosser, der eine bedeutende „Weltgeschichte in zusammenhängenden
Darstellungen“ (1816–1824), aber auch eine populäre „Weltgeschichte für das
deutsche Volk“ verfasste, verfolgte ein Programm der sittlichen Hebung des
Menschen nach den Lebensregeln des „wahren
rechtschaffenen Mannes“. Schlosser erkannte als einer der ersten die Literatur als politische
Potenz.
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Justus Möser (1720–1794) wirkte in
Osnabrück; er erlangte als Sozialhistoriker Bedeutung und war ebenfalls ein
Anhänger Rousseaus. Er hat mit seiner „Osnabrückischen Geschichte“ eine erste
Sozialgeschichte bzw. Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte überhaupt
geschrieben, klare und nüchtern-sachliche Darstellung zeichnen ihn aus. Die
Geschichte sollte bei ihm für sich selbst sprechen, die Ereignisse sollen
begriffen (= verstanden), nicht kritisiert werden. Diese Auffassung deutet
bereits auf die idealistische Geschichtsauffassung, auf den Historismus hin. Möser schreibt zur Belehrung des Untertanen, wie er sich unter den
verschiedenen Regierungsformen seine Freiheit bewahren könne.
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Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) war ein Schüler Montesquieus, den er übertrifft, er ist wichtig für die Entwicklung
der Wirtschaftsgeschichte, zumal er bereits auf Adam
Smith zurückgreifen kann.
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Johannes Müller (1752–1809) war ein
einflussreicher rezipierender Kompilator (er war Lehrer und Vaterfigur u.a. für
Hammer-Purgstall).
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Eine sehr wesentliche Rolle spielte Johann Joachim Winckelmann (1717–1768, ermordet in
Triest), der mit seiner „Geschichte der Kunst des Altertums“ (nicht der
Künstler!) eines der großartigsten historiographischen Werke der Aufklärung
überhaupt schuf. Winckelmann hat wohl noch die großen französischen Werke der
Historiographie der Aufklärung wahrgenommen, wovon seine Bemerkungen über den
Einfluss des Klimas auf die Entwicklung der griechischen Kunst zeugen, stand
aber mit seinem in Deutschland nachfolgend außerordentlich einflussreichen Werk
außerhalb der geistigen Strömungen seiner Zeit.
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So wie die Naturwissenschaften durch das mathematische
Modell zum Prototyp der exakten Erkenntnis werden, so wird die Geschichte im
18. Jh zu einem methodischen Vorbild, „an dem das
18. Jh ein neues und tieferes Verständnis von der allgemeinen Aufgabe und
Struktur der Geisteswissenschaften gewinnt“; dieser Prozess ist für Cassirer untrennbar verbunden mit der Befreiung der Geschichte von der
Theologie.
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Nicht zu übersehen ist, dass englische
Aufklärungshistoriker, die in enger Verbindung zu den französischen Kollegen
standen, häufiger als diese die theoretischen Forderungen in der Praxis
umzusetzen suchten:
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David Hume (1711–1776), Edinburgh, war
nicht nur ein berühmter Philosoph, sondern auch Historiker – vor allem mit
seiner „Geschichte Englands von der Invasion Cäsars bis 1688“ (ihr Schlussteil,
die Geschichte Englands unter den Stuarts, erschien zuerst als „History of
Great-Britain“); er wird als Historiker angeregt durch das Erscheinen von Voltaires „Jahrhundert Ludwigs XIV.“; für ihn ist
Geschichte aber „entertainment“ ohne
besondere soziologisch-politische Aspekte.
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William Robertson (1721–1793), Edinburgh,
„Geschichte Schottlands bis 1603“, „Geschichte Karls V.“ (eine
Geschichte Europas vom Untergang des Imperium Romanum bis auf Kaiser Karl V.), „Geschichte Amerikas“, schließt direkt an Voltaire an, seine größte Leistung ist die Einleitung zur „Geschichte
Karls V.“; er war der wichtigste Vertreter der Katastrophentheorie und
leitete eine Überschätzung der Kreuzzüge ein.
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Edward Gibbon (1737–1794), London,
verfasste eine “History of the Decline and Fall of the Roman Empire”, 1776–1788.
Er vernachlässigte zwar die Wirtschafts- und Finanzgeschichte und schrieb
leidenschaftslos, vorsichtig, dennoch vollbrachte er eine große Leistung und
gilt als einer der außerdeutschen Väter der Alten Geschichte.
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Es ist bereits erwähnt worden, dass die in Frankreich vor allem
mit Voltaire angebahnte Entwicklung in Deutschland nicht wirklich Fuß fassen
konnte, zumal die durch die frühen Positivisten vertretenen Ansichten in weiterer
Folge – nicht zuletzt wohl auch in Zusammenhang mit den politischen Wirren im Übergang
vom 18. auf das 19. Jh – den in Deutschland entwickelten Vorstellungen
entgegengerichtet waren und bald strikt abgelehnt worden ist.
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Gleichwohl begann der mittlerweile in Frankreich entwickelte Positivismus
auf Deutschland überzugreifen und mit ihm tauchten in Bezug auf die
Geschichtsforschung und damit auch auf die Theorie der Historia neue,
naturwissenschaftlich dominierte Vorstellungen auf; die vermeintlich gelösten Probleme
wurden wieder aufgeworfen, indem sie die Historia neuerlich mit den Forderungen einer
Wissenschaftsvorstellung konfrontierten, die von Wissenschaft im alten aristotelischen
Sinne geprägt war und auf die Erklärung der
historischen Vorgänge auf Grund von Gesetzen, also von Universalien abzielte.
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Wie der noch zu behandelnde Begriff „Historismus“ ist auch der Begriff „Positivismus“ nicht unproblematisch und nicht eindeutig fassbar90. Er begegnet im Deutschen ab 1830
und – wohl unabhängig – im Französischen als programmatische oder polemische Selbst-
oder Fremdetikettierung in philosophischer Hinsicht. Im Spätlateinischen bedeutet
„positivum“ ein „non natura, sed positione, arte constitutum“, d.h. etwas
Unnatürliches, artifizielle Geschaffenes; im Deutschen ist das Wort „Positivismus“
deshalb negativ besetzt, als künstlicher, rationaler Gegensatz zum Natürlichen,
organisch Gewachsenen und oftmals gekoppelt mit anderen Vorstellungen
(Illiberalismus, Irrationalismus, Supranaturalismus etc.). Im Französischen fehlt
dieser Gegensatz und das Wort ist positiv belegt.
In der Tradition von Saint-Simon bezeichnet es die wahre wissenschaftliche Methode („exactitude et positivisme“ der „vraie méthode scientifique“), die in der Faktenerhebung durch
Beobachtung und ihre Systematisierung besteht – alle anderen Denker werden von den
Positivisten als Träumer bezeichnet.
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Die Anfänge des Positivismus reichen weit zurück. Die Entwicklung führt von Francis
Bacon, über Berkeley, Hume, d'Alembert, Turgot zu Comte, Mill
und Spencer. Spät erst entwickelt sich eine deutschsprachige Variante (Mach,
Avenarius), die als Empiriokritizismus bezeichnet wird.
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Grundprinzipien sind: jede echte Wissenschaft hat sich an den
Ergebnissen und Methoden der Naturwissenschaften zu orientieren; jede echte
Erkenntnis muss intersubjektiv überprüfbar und in einer intersubjektiv
verständlichen Begriffssprache formuliert sein. Wirklichkeitserkenntnis durch reines
Denken ist unmöglich und allein auf Grund von Sinneserfahrungen möglich (die
„älteren Positivisten“ akzeptierten jedoch die Theoriebildung bzw. Leitung der
Erkenntnisarbeit durch Theorien, vertraten also keinen reinen Sensualismus). Ziel
der Wissenschaft ist die exakte Beschreibung des aus der Erfahrung Gegebenen und die
Erklärung
von Zusammenhängen mittels allgemeiner Gesetze und Theorien. Alles geschieht zum
Zwecke der Erhöhung der Verfügungsgewalt. Alle Wissenschaften sollen hinsichtlich
Aufbau, Methode und Begriffssprache vereinheitlicht werden, jede Unterscheidung (wie
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften) wird abgelehnt. Die positive =
wissenschaftliche Philosophie hat die Aufgabe den Entwicklungsprozess der
Einzelwissenschaften im Rahmen der positiven Philosophie zu lenken, hat also auch
eine wissenschaftsbegründende Funktion: Philosophie = allgemeine Wissenschaft.
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Neben bzw. nach Voltaire und Rousseau treten Turgot und Condorcet auf, die den Gedanken des Fortschritts in verstärktem Maße
entwickeln.
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Ame Robert Turgot Baron de Aulne (1727–1781), der zeitweise Finanzminister Ludwigs XVI. war, entwickelte 1750 den "Plan zweier Erörterungen
der Universalgeschichte", in dem er gewissermaßen das Comte’sche Dreistadiengesetz vorwegnimmt – Phase des Götterglaubens, der
Metaphysik und schließlich der Kausalerkenntnis.
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Verstärkt noch finden sich diese Vorstellungen bei Marie Jean Antoine
Nicolas Caritat Marquis de Condorcet (1743–1794), der
Mathematiker, Enzyklopädist und Präsident der Nationalversammlung war und in
seinem posthum (1794/95) erschienen Werk „Esquisse d'un tableau historique des
progrés de l'esprit humaine“ die allgemeinmenschliche Aufwärtsentwicklung (in
Analogie zur individuellen) skizziert – und auch die französische Revolution als
Verwirklichung der Freiheit und der Vernunft feiert (möglicherweise aber einfach
aus Angst vor Verfolgung): „Dieser Fortschritt ist
denselben allgemeinen Gesetzen unterworfen, die man in der allgemeinen
Entwicklung unserer Fähigkeiten beobachtet, da er ja das Resultat dieser selben
Entwicklung ist, die zur selben Zeit in der zur Gesellschaft vereinigten großen
Zahl von Individuen beobachtet wird“. Dabei ist „das Resultat jedes Augenblicks vom Resultat der vorhergehenden
[Augenblicke] abhängig und bestimmt die
folgenden“. Condorcet ist der unmittelbare Vorläufer Comtes. Er geht von den Faktoren aus, die den Verlauf der Geschichte
bedingen und unterscheidet die Anlagen des Menschen, die äußeren Natureinflüsse,
die gegenseitige Einwirkung der Menschen aufeinander und die ersten
Kulturerrungenschaften als Grundbedingungen geschichtlicher Entwicklung, als deren
Ziel und Inhalt er die Beseitigung aller Ungleichheit zwischen den Nationen und
innerhalb jeder Nation, die Vervollkommnung der Menschen und ihrer Fähigkeit
ansieht. "Bis jetzt war die Geschichte nur die
Geschichte einiger Menschen; was wirklich das Menschengeschlecht ausmacht, die
Masse der Familien, die fast nur von ihrer Arbeit leben, ist vergessen worden,
und selbst in der Reihe derer, die öffentlichen Geschäften hingegeben, nicht für
sich, sondern für die Gesellschaft handeln, haben die Führer allein die Augen
der Historiker auf sich gezogen." So gelangt Condorcet zur Betrachtung der großen Masse und der
Kulturerrungenschaften, die ihr zu verdanken sind. Damit stellt er jene Verbindung
zwischen der soziologischen Betrachtung und den Methoden der Naturwissenschaft
her, die für die weitere Entwicklung in Frankreich so bedeutsam ist, denn wer die
Masse in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, gewinnt den Eindruck der
Regelmäßigkeit, des Konstanten und der Berechenbarkeit, des Gesetzmäßigen. So
folgert Condorcet: „Weshalb sollte das Prinzip
der Naturwissenschaften, dass die allgemeinen Gesetze, welche die Erscheinungen
des Weltalls bedingen, notwendig und konstant sind, weniger gültig sein für die
Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen als für
die anderen Betätigungen der Natur?“ |
Ausgebaut wurden diese Ansätze durch Claude-Henri de Rouvroy, Graf
von Saint-Simon, (1760–1825), der als liberaler Adeliger in Amerika gekämpft
und dann in Frankreich die Revolution unterstützt hatte und als lange nachwirkend
einflussreicher Publizist hervorgetreten ist. 1814 veröffentlichte er sein
„Memoire sur la science de l’homme“ und eine Reihe von gesellschaftspolitischen
Schriften zur Frage der Industrie im Sinne der durch Erfindungen und organisierte
Arbeit ausgeweiteten Produktion, durch die den Unternehmern wie den Arbeitern eine
gegenüber dem parasitären Adel und den bloßen Händlern große Bedeutung zukomme. In
seinen späten Jahren hat Saint-Simon diese Vorstellungen mit dem Christentum verküpft – 1825
erscheint sein Buch „Le Nouveau Christianisme“, das mit der Vorstellung der
Brüderlichkeit ohne Priester und ohne Dogma die Strömung eines christlichen
Sozialismus (gegenüber dem atheistischen marxistischen Sozialismus) auslöst. Saint-Simon hat zwei nachfolgend bedeutende Autoren als Sekretäre
beschäftigt: den späteren Historiker Augustin Thierry und Auguste Comte.
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Als dessen Sekretär ein Schüler Saint-Simons, ist als Begründer des klassischen Positivismus, einer der Begründer der Soziologie und der
positivistischen Geschichtsforschung zu sehen; er entwickelte in Hinblick auf den
technisch-wissenschaftlichen Fortschritt ein Weltanschauungsprogramm, das er als
„positive Philosophie“ bezeichnet. Aufbauend
auf Turgot und Condorcet nahm Comte hinsichtlich der Entwicklung der Gesellschaft drei Stadien der
intelletuellen Entwicklung an (Drei-Stadien-Gesetz):
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1 |
das Stadium theologischer oder fiktiver Denkart: Phantasie
und Glaube an übernatürliche Kräfte – in sozialer Hinsicht: Theokratie,
Militarismus und Absolutismus.
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2 |
das Stadium metaphysischer oder abstrakter Denkart: Die
Erscheinungen werden durch Ideen, Entitäten, letzte Gründe etc. erklärt – in
sozialer Hinsicht: Feudalwesen, Konstitutionalismus und ähnliches.
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3 |
das Stadium des wissenschaftlichen oder positiven Denkens:
Die Erscheinungen sollen mit Hilfe wissenschaftlich-exakter Methoden erkannt und
auf immer allgemeinere Gesetze zurückgeführt werden – in sozialer Hinsicht:
wissenschaftsgeleitete Politik und Industrie.
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Comte ist der Meinung, dass die Menschheit nun auf einer
Entwicklungsstufe angelangt sei, die ihr eine positive Philosophie ermögliche –
Theologie und Metaphysik werden als Theorien minderer Erklärungskraft, als
historische Erscheinungen abgetan und auch die klassische Erkenntnistheorie im
Sinne der Selbstreflexion des Erkennenden soll abgelöst werden durch eine neue
Methodologie, die zu einer Verbesserung der menschlichen Verfügungsgewalt über
Natur und Gesellschaft führen soll, wobei die Entwicklung einer „sozialen Physik“, d.h. der Soziologie im Zentrum steht –
Comte entwickelte eine systematische und hierarchische Klassifikation
aller Wissenschaften, die von den anorganischen Bereichen über die organischen zur
"sozialen Physik" reichte, als die er 1838 die „Soziologie“ benannte (s.w.u.).
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Die Methode, die Comte anstrebt, akzeptiert als Objekte ausschließlich Tatsachen,
untersucht werden sollen nicht Ursache und Wesen
beobachtbarer Phänomene, sondern deren gesetzmäßige
Zusammenhänge. Jegliche Metaphysik wird als Ansammlung letztlich nicht
lösbarer Scheinprobleme als sinnlos abgelehnt. Dem entsprechend wird auch der
Totalitätsbegriff der Metaphysik, der die Zuverlässigkeit von Erkenntnis an die
Gesamtheit alles Seienden bindet, abgelehnt. Nicht die Wahrheit, sondern die
sinnliche Gewissheit einer Erkenntnis ist von Belang, sie ist intersubjektiv
herzustellen. Wissenschaft erschöpft sich aber nicht in reiner Deskription,
Exaktheit der Erkenntnis ist nur möglich, wenn die Ergebnisse kontrollierter
Beobachtungen logisch mit vorgängigen Theorien konfrontiert werden. Die Ansammlung
von Kenntnissen gesetzmäßiger Zusammenhänge zielt auf Erklärung
und Prognose sowie auf die Vermehrung der Verfügungsgewalt über Natur und
Gesellschaft unter den Aspekten der Humanität, der historischen Notwendigkeit und
der Realisierbarkeit.
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Es ist selbstverständlich, dass im Positivismus die rein empirischen Wissenschaften eine dominierende
Stellung einnehmen, auf die alle anderen Erkenntnisbereiche hingeführt werden
sollen. Schon Saint-Simon ließ nur noch vier Phänomenbereiche = Wissenschaftsklassen
zu: Astronomie, Physik, Chemie, Physiologie (letztere soll die alte Philosophie
verdrängen, da die sozialen Phänomene auf physiologische reduziert werden); diese
Gesamtheit bezeichnet er als "physikalische
Wissenschaften", denen er noch die Psychologie und die Lehre von den
astronomischen und irdischen Körpern hinzufügt. Comte erweiterte diesen aufsteigend strukturierten Kanon vor allem um
die "soziale Physik" = Soziologie: Mathematik
– Astronomie – Physik – Chemie – Physiologie – Soziologie. Die Soziologie beginnt
als die komplizierteste, schwierigste und konkreteste Lehre für ihn eben erst
Wissenschaft zu werden91.
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Geschichte ist für Comte der dynamische Teil der Soziologie, die er als etwas wie eine
Geschichte "in genere" auffasst. Comte ist nicht Materialist, er betont immer wieder, dass es falsch
wäre, die sozialen Erscheinungen als einfache Fortführung der Naturgeschichte aus
der Biologie erklären zu wollen, wendet sich gegen den Lamarckismus (wonach die Einwirkungen der Lebenserfahrung und -tätigkeit
im Wege der Vererbung zur Veränderung der Arten führen sollte. Der Gang der
Geschichte ist für ihn durch langfristige Entwicklungen und Mentalitäten bestimmt,
Individuen seien nicht in der Lage, den Gang der Ereignisse wesentlich zu
beeinflussen, auch das Genie sei vom "developpement
collectif de l'esprit humain" und dem sozialen Zustand seiner Zeit abhängig
– die Individuen könnten also nur Intensität und Art der Entwicklung in sekundärer
Weise beeinflussen.
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Ähnliche, aber noch radikalere Ansichten als Comte entwickelte Lambert Adolphe Jacques Quetelet (1796–1874), der obgleich eigentlich Mathematiker und Astronom
(in Brüssel) vor allem durch seine sozialstatistischen und anthropometrischen
Arbeiten berühmt wurde, in denen er Gesetze aufzustellen suchte, die sowohl die
physischen wie auch die moralischen Erscheinungen des individuellen wie des
gesellschaftlichen Lebens regeln, wobei er sehr stark mechanistische Anschauungen
vertrat. In seinem Hauptwerk "Sur l'homme et le developpement de ses facultes ou
Essai de physique sociale" (1835) meinte er, dass man das Wesentliche im Wege
eines statistisch berechenbaren Durchschnittsmenschen erfassen könne92, und er entwarf wie Comte eine Sozialphysik, in der die Geschichte in Tabellen, Formeln und
Kurven aufgelöst erscheint. In den Gesetzmäßigkeiten erblickte er das Walten einer
über dem freien Willen des Menschen angesiedelten Macht.
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Große Publikumswirksamkeit entfaltete in der Nachfolge der
Aufklärungshistoriographie und unter dem Einfluss Voltaires stehend die Geschichtsschreibung des Liberalismus. Sie hat
ihre Blüte aber mehr in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich erreicht.
Hier seien nur knapp erwähnt:
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Francois-Pierre Guilleaume Guizot (1787–1874) mit seiner
Geschichte der Revolution in England und seiner französischen
Kulturgeschichte,
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George
Grote (1794–1871) mit seiner berühmten und einflußreichen Griechischen
Geschichte (London 1846–1856), die bis auf Alexander reichte,
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sowie der frühzeitig erblindete Amerikaner William Prescott (1796–1859) mit seiner
„History of the Reign of Ferdinand and Isabella the Catholic“ 1837ff. und seine
Darstellung über die Eroberungen der Konquistadoren.
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In Deutschland ist die Entwicklung nach Kant sukzessive von dem geprägt worden, was als Deutscher Idealismus
bezeichnet wird und hier knapp als Vorstellung vom „Primat des Geistes, der Ideen und Ideale“ und damit auch von
der Vorstellung der ideellen Natur der Wirklichkeit und als Ablehnung jeder Art
von Materialismus umrissen werden kann. Es war eine Grundannahme, dass es eine
Welt des Geistes gebe, in der eine Fülle von Individualitäten existiere (nicht
nur Menschen, sondern auch Kollektivkörper wie Staaten, Nationen, Kulturen, die
(so Humboldt93) sich in der Erscheinungswelt manifestieren; diese Ideen
könne man nicht durch induktives Denken, sondern nur durch Interpretation der Ausdrucksformen, also der historischen Quellen
(daher auch der hohe Stellenwert der Historischen Hilfswissenschaften)
begreifen. Gleichzeitig wird der Begriff „Geist“ zu einem „regierenden Fundamentalbegriff“94
und es werden eine „Philosophie des Geistes“ und eine dieser entsprechende
Auffassung von Geschichte bzw. Geschichtsphilosophie, die Historisierung des
Weltbildes und aller Erscheinungen vor allem im 19. Jh unter dem Einfluss
deutscher Denker entwickelt95.
Damit entsteht eine fundamentale Grundströmung, die der Entwicklung im
französischen Bereich diametral gegenüber steht und die getragen ist von einem
neuen Bewustsein einer Historisierung, der die Auffassung von der Welt
unterliegt (ein erster Historisierungsprozeß, den man nicht als solchen wahrnahm
und dessen man sich selbst in der Forschung erst bewußt wird, hatte sich bereits
im 15./16. Jh vollzogen). Diese Veränderung im 19. Jh und die aus ihr
resultierende Auffassung werden als Historismus bezeichnet, welcher Begriff wie viele andere nicht
eindeutig ist. In diesem Zusammenhang ist darunter eine der bedeutsamsten
Entwicklungen im geisteswissenschaftlichen Bereich bzw. in der
Geschichtswissenschaft96 zu verstehen, in der Geschichte als fortschreitender
Vernunftsprozess verstanden wird. Ernst Troeltsch hat in seinem grundlegenden, aber am Ende der Dominanz
dieser Auffassung stehenden Werk „Der Historismus und seine Probleme“ (1922)
unter Historismus die grundsätzliche Historisierung alles unseres Denkens über
den Menschen, seine Kultur und seiner Werte und damit eine geschichtliche
Bewegung verstanden, die sowohl Geschichtswissenschaft als auch
Geschichtsphilosophie umfasst; Historismus bedeutet "Selbstverständnis des Geistes, sofern es sich um die eigenen
Hervorbringungen seiner [selbst] in der
Geschichte handelt". Friedrich Meinecke hat in seiner Arbeit „Die Entstehung des Historismus“ den
Historismus als Anwendung „der in der Zeit von
Leibniz bis zu Goethes Tod gewonnenen neuen
Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben“ betrachtet; der Historismus ist ihm Lebensprinzip,
Lebensauffassung, eine neue Schau des menschlichen Lebens. Der Wissenssoziologe
Karl Mannheim (1893–1947) formulierte: „Das
Leben und die Wirklichkeit sind Geschichte – der Historismus ist eine geistige Macht von
unübersehbarer Tragweite, er ist der wirkliche Träger unserer Weltanschauung,
ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte
geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche
Leben durchdringt“97. In der Folge ist der
Historismus auf Grund der durch ihn (vor allem durch Dilthey) bewirkten Relativierung im historischen Bereich mit der
Relativitätstheorie parallelisiert worden und es ist ihm eine befreiende Wirkung
insoferne zuerkannt worden, als er letztlich alle historischen Autoritäten
erschütterte und schließlich ja sich selbst gleichsam in Frage stellte und
überwand. Theodor Litt sah den Historismus als „das
Wissen des Menschen um die in Form der Geschichte geschehende, nur in Form der
Geschichte mögliche und durch die Geschichte ihm auferlegte Mitwirkung an der
Gestaltung seiner selbst“, als Prozess der geschichtlichen
Selbstgestaltung, der Sinngebung in Geschichte. In der Endphase hat der Historismus – der ja im Grunde genommen eine zweite Welle der
Historisierung darstellt98
– in zweifellos übersteigernder Weise die Geistesgeschichte, insbesondere in
Deutschland, in der Wechselwirkung aber weit darüber hinaus, maßgeblich
beeinflusst.
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Im ausgehenden 18. Jh erfuhr die philologisch-kritische
Methode – nach den Vorarbeiten der Humanisten – ihre Anwendung auf die
Geschichtswissenschaft. Beeinflusst von Winckelmann widmete man sich in der Klassik den großen Autoren des
klassischen Altertums – vor allem mit der Homer: mit Diskussion der Frage, wer
dieser Dichter gewesen sein, ob es ihn als Person überhaupt gegeben habe, hat
Friedrich August
Wolf99 (1759–1824), ein hervorragender Altertumswissenschaftler
und Editor an der Universität Halle und dann ab 1807 in Berlin, mit seinen
„Prolegomena ad Homerum“ (1795) enorme Wirkung erzielte, der die Verbreitung der
Homerischen Epen und anderer großer antiker Klassiker in der Übersetzung durch
Johann Heinrich Voss (1751–1826) zur Seite trat100. Aber
auch der Kritik an einer Autorität wie Livius, wie sie durch Barthold Georg Niebuhr vorgebracht wurde101, kam
große Wirkung zu. Die philologisch-kritische Methode legte größten Wert auf die
eingehende Untersuchung der Quellen in Bezug auf ihren Aussagewert102 und hinsichtlich der allfälligen vom Verfasser verfolgten
Intention. Unter diesen neuen Aspekten gewannen neuerlich in ganz besonderem
Maße sprachliche, d.h. praktisch nahezu ausschließlich allem schriftliche
Quellen neuerlich an Bedeutung.
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Gleichzeitig aber führte die Befassung mit dem blinden Sänger Homer
in grauer Vorzeit, dem Rhapsoden, dem in den (verheimlichten) Dichtungen des
James MacPherson (1736–1796) der (fiktive) keltische Rhapsode Ossian zur
Seite trat, zur Vorstellung, dass diese Dichtungen gewissermaßen ein poetisches
Decoct der Volksseele präsentierten und dass erst das Erfassen des Volksgeistes
die wirkliche Interpretation einer historischen Quelle ermögliche.
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Es ist hier überhaupt auf die enorme Bedeutung der
altertumswissenschaftlichen und der philologisch-historischen Forschung auch
über den klassischen Bereich hinaus in den Jahrzehnten ab 1790 hinzuweisen, in
der Erkenntnisse und Ideale im klassischen Bereich in die eigene Vergangenheit
transponiert wurden. Eine außerordentliche Konzentrierung von Hermeneutikern vor
allem an der Universität Berlin hat dies gefördert – Ranke, Barthold Georg Niebuhr, Schleiermacher, Savigny, Eichhorn; später Droysen, Dilthey, Meinecke. Ranke sieht in der Auseinandersetzung mit der Geschichte ein Mittel
gegen revolutionäre Veränderungen, ein Mittel der Evolution innerhalb der
gegebenen Verhältnisse.
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Die zunehmende Forcierung der Hilfswissenschaften hat allerdings
entgegen den Forderungen nach die „wesentlichen“ und „eigentlichen“
Entwicklungen skizzierenden Darstellungen die Historiker zunehmend in den
Vorarbeiten gebunden – Hegel meinte schon in seiner „Philosophie der Geschichte“ (1822ff.),
die deutschen Historiker kämen über Vorarbeiten zu ihren Vorhaben nicht mehr
hinaus. Es ist dies nicht eine Kritik an der Methode selbst, sondern an ihrer
Anwendung.
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Der Zusammenbruch der revolutionären Staatsgründungen
bestärkte im Zuge der romantischen Rückbesinnung auf die nichtklassische eigene
Vergangenheit die Auffassung, dass es unmöglich sei, lebensfähige politische
Institutionen aus theoretischen Erwägungen heraus zu schaffen, und dass nur das
sich unbewusst Bildende Bestand hätte und dass dies Ausdruck des Umstandes sei,
dass in der Geschichte eine Weisheit verborgen sei, die höher stehe als aller
menschliche Scharfsinn.
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Eine wesentliche Wurzel dieses Gedankengutes sind Johann Gottfried
Herders (1744–1803) Arbeiten – 1772 seine „Abhandlung über den
Ursprung der Sprache“, die sich gegen die Sprache als von Gott gegeben wandte
und sie als aus der Lebenswelt entwickelt versteht, 1774 in seiner „Philosophie
der Geschichte zur Bildung der Menschheit“, in der der Entwicklungsgedanke – bis
hin zur Abfolge von Kulturen – herausgearbeitet erscheint, und schließlich am
wirksamsten in seinem großen Werk „Ideen zur Geschichte der Philosophie der
Menschheit“ (1784–1791, unvollendet). In seinen Betrachtungen zum Thema
Geschichte verfolgt Herder (in mitunter widersprüchlicher Weise) die Idee von der
Vervollkommnung des Menschengeschlechts hin zu wahrer Humanität. Die Geschichte
verläuft ihm nach einem dem Menschen unerkennbaren Plan Gottes; der Mensch
wiederum wird erst aus der Tradition heraus, in Erkenntnis der Geschichte zum
Menschen in einem höheren Sinne, indem er gleichsam alles Vergangene in sich
akkumuliert. Im Mittelpunkt stehen – im Gegensatz zu Kants Gemeinwohl als Endpunkt – die individuelle Entfaltung und das
Glück des Individuums. Doch erkannte auch Herder, dass die Menschheit durchaus nicht eine einheitliche
Entwicklung durchlaufen habe, und so gab er in seinen späten Werken auch die
Vorstellung einer einheitlichen gedanklichen Erfassung der gesamten Menschheit
auf und sprach nur von Europa und auch davon, dass jede Nation einen
selbständigen Wert für sich habe, und von „Naturgesetzen“ der politischen
Geschichte, also von Kausalketten, die unter bestimmten Voraussetzungen immer
wieder eintreten.
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Aus der in der Aufklärung bereits – u.a. auch von Voltaire – vertretenen Lehre vom „unveränderlichen“ Nationalcharakter entwickelte Herder die Auffassung der Kultur eines Volkes als organischer Einheit,
dass spezifische Sitten, Kunstformen und Rechtssätze sich „organisch“ und
„genetisch“ in einem Volk entwickelten103 und nicht ohne weiteres auf ein anderes
übertragbar seien. Überhaupt gewann die Vorstellung vom organisch Gewachsenen in
der Geschichte an Bedeutung – der Staatsmann sollte nun aus der Geschichte
seines Landes die unverrückbaren und für ihn unübersteigbaren Schranken
erkennen; die Pflege der nationalen und lokalen Historiographie gewann an
Bedeutung, gleichzeitig damit wurde die Idee der Tradition gepflegt und zu
höherem Ansehen gebracht; Hegel, für den Gescichte „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ war,
sollte sie schließlich übersteigern. In die organische Entwicklung eines Volkes
sollte man nicht durch die Einführung fremden Gedankengutes eingreifen. Das
Experiment der französischen Revolution schien gescheitert; die wesentliche
Folgerung schien, dass die Geschichte Lehrmeisterin in dem Sinne sei, dass sie
erweise, dass die unbewusst, organisch entstandenen Einrichtungen allein Bestand
hätten, woraus wieder folgerte, dass der Geschichte eine geheime, den Menschen
verborgene Weisheit innewohne, ein großer Plan, und dass es dem Individuum nicht
zustehe, in diesen Gang der Geschichte einzugreifen. Man habe demütig in den
historisch gewordenen und daher eo ipso
guten Verhältnissen zu verharren. Geschichte sollte nun den Staatsmann lehren,
wie weit er gehen dürfe, ohne gegen die gottgewollte historische Ordnung der
Dinge zu verstoßen. Dies führte zur Entwicklung einer Nationalisierung der
Geschichte, die zugleich den Konservativismus förderte, zumal auch das in seiner
Wahrnehmung romantisierte Mittelalter der bevorzugte Arbeitsbereich war – das
Mittelalter als Zeitraum der Entstehung nationaler Staatengebilde, als Ursprung
des Bodenständigen.
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Im Bereich der Avantgarde der Geschichtswissenschaft wurden diese
Auffassungen bald durch die historische Ideenlehre überwunden, in der Praxis
blieben sie aber lange noch wirksam. Positive Wirkungen waren die Überwindung
der Auffassung von Verfassung und Recht, Kultur, Religion und Sprache als
künstlich geschaffener Mechanismen in der Aufklärung und – unbewusst allerdings
– das Einbringen historischer Tradition als Faktor der geschichtlichen
Entwicklung und die Berücksichtigung der schönen Literatur als einer nationalen
Schöpfung im Zusammenhang der historischen Quellen – philologisch-kritische
Methode; die Lehre vom Lokalkolorit betont Abhängigkeit des Menschen von Zeit
und Ort, es gibt keine zeitlosen Typen wie zuvor, Nachteile aber waren die
Verleitung zu Nebensächlichkeit und zu gefühlsmäßigen Assoziationen und die
Hinwendung zur Erzählung (historische Erzählung und Professorenroman). Negativ
war die neuerliche Dogmatisierung.
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Der Umstand, dass durch die Umwälzungen der Französischen
Revolution (für Deutschland sei auf die Auflösung des Römischen Reiches
hingewiesen) eine größere Anzahl rechtshistorischer Dokumente ihre Gültigkeit
verlor, hat zur Öffnung der Archive in der Folgezeit und damit zu einer
wesentlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen des Historikers beigetragen
(die Öffnung des Vatikanischen Archives erfolgte allerdings erst im Jahre
1881).
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Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854) begründete mit
seiner „Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte“ (1808–1823) eine neue Disziplin.
Er betrachtete als erster das deutsche Recht als ein einheitliches, im Volke
gewordenes Ganzes, betonte dessen nationalen Charakter und benutzte dessen
Geschichte dazu, den Geist des geltenden Rechtes zu erkennen und die vernünftige
Kontinuität der Rechtsentwicklung als einer volksmäßigen zu fördern durch die
Wiederbelebung der Kenntnis des deutschen Rechtes – nicht zuletzt im Gegensatz
zum Römischen Recht, wie es durch den „Code Napoleon“ forciert worden war. Er
betonte den nationalen Charakter des Rechts und seiner kontinuierlichen
Geschichte.
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Karl von Savigny (1779–1861), ab 1842
preußischer Minister, einer der besten Stilisten der Romantiker, steht als
Vertreter des Römischen Rechts („Romanist“) Eichhorn gegenüber; er schuf die "Geschichte des römischen Rechts im
Mittelalter" und begründete die Zeitschrift für Rechtsgeschichte (der Savigny-Stiftung) mit der Germanistischen, der Romanistischen und der
Kanonistischen Abteilung.
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Barthold Georg
Niebuhr (1776–1831) wendete die
philologisch-kritische Methode bei der Erarbeitung seiner „Römischen Geschichte“
an. Er wirkte in mancher Hinsicht als geradezu destruktiver Kritiker, wenn er
etwa die Autorität seines Livius vernichtet und der Interpretation sagenhafter Berichte für die sogenannten „dunklen
Epochen“ ein Ende setzte, wenn er auf das wahre und in seiner
Traditionshaltigkeit nur nicht erkannte Material hingewiesen hat. Niebuhr übte maßgebenden Einfluss auf die nachfolgenden
Historikergenerationen, insbesondere auf Ranke und Mommsen aus. Dennoch war er mehr als mancher andere ein versponnener
Romantiker, so wählte er sich den Standpunkt des freien Bauern als den seiner
Perspektive, worin er sich als Schüler Justus Mösers erweist. Gleichwohl hat er mit seiner "Römischen Geschichte" (3
Bde, 1811–1832) maßgeblich zur Loslösung der Alten Geschichte von der
klassischen Philologie beigetragen.
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Francois Renè Chateaubriand (1768–1848), ein
französischer Staatsmann, stellte in seinem Werk „Genie du Christianisme“ (5 Bde
1802, mehrere Auflagen, deutsch von Julius Schneller) die christliche Kunst und Kultur als eo ipso schön neben die antike Kunst (Verbindung
Kunst-Religion) und förderte damit die Aufwertung des christlichen
Mittelalters.
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Als eine Sonderform entwickelte sich die "Erzählende Schule":
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Walter
Scott (1771–1832) übte – als
Schriftsteller – mit zahllosen historischen Romanen, vor allem mit seinem
„Ivanhoe“ (1820), großen Einfluss aus, indem er farbige Zeitbilder aus dem
Mittelalter gibt und dieses damit aufwertet – der historischer Roman war als
Genre allerdings nicht neu, er tritt bereits seit dem 15. Jh in Spanien und
Frankreich auf.
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In der weiteren Folge dieser Einflussnahme kam es zur Entwicklung
des deutschen Professorenromans des 19. Jhs – z.B. Felix Dahn (1834–1912) mit seinem "Kampf
um Rom"; Dahn hat allerdings auch eine Reihe wertvoller wissenschaftlicher
Arbeiten geliefert (u.a. eine lange verwendete „Geschichte der
Völkerwanderungszeit“), er wuchs in die Rolle eines Wortführers des Historismus hinein.
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Augustin Thierry (1795–1856) veröffentlichte
1825 sein bedeutendes Werk "Eroberung Englands durch die Normannen" – praktisch
gleichzeitig mit Rankes „Geschichten der romanisch-germanischen Völker“ (1824). Ranke und Thierry hatten gemein, dass sie die romantische Darstellungsweise in
die gelehrte Historiographie einfließen ließen, beide strebten nach Lokalkolorit
und suchten im Gegensatz zu der kühlen, farblosen Analyse der Voltaire-Schüler das konkrete, lebendige Detail. Die behandelten
historischen Persönlichkeiten treten in der Darstellung im Kostüm ihrer Zeit
auf. Thierry legte dabei allerdings – ganz im Gegensatz zu Ranke – ein unkritisches Verhältnis zu den Quellen an den Tag.
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Heinrich Leo (1799–1878) gehörte ebenfalls noch der Erzählenden Schule an; er war
Professor in Berlin und Halle und veröffentlichte ab 1829 seine wichtige
„Geschichte der italienischen Staaten“.
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Die Vertreter der erzählenden Historiographie wurden durch die
Richtung der lyrischen, subjektiven Darstellung, die sich auch mit den
seelischen Konflikten des Handelnden beschäftigt, – in Anlehnung an die Gattung
der Lyrik – noch übertroffen, als deren berühmtester und bekanntester Vertreter
gilt der Schotte Thomas Carlyle (1795–1881), der,
ursprünglich für den geistlichen Beruf bestimmt, sich als Literat betätigte. Er
verfasste “The French Revolution, a History” (1837), “Oliver Cromwells Letters
and Speeches with elucidations” (1845), “History of Friedrich II., called
Frederick the Great” (1858–1865), “Life of Schiller” (1825). Nicht politische
oder soziologische Fragestellungen wurden zum Ausgangspunkt seiner
Darstellungen, sondern vornehmlich ein seelischer Konflikt.
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Im Zusammenhang mit der sehr komplexen
Entstehungsgeschichte dieser außerordentlich einflussreichen Richtung ist auf
eine Reihe von Personen zu verweisen, deren Vorstellungen besonderen Einfluss
ausgeübt haben; vor allem sind hier zu nennen:
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Friedrich Wilhelm Josef von Schelling (1775–1854), der 1803 in
seinen „Gedanken zur Wissenschaftslehre“ der Geschichte eine sehr gehobene
Stellung zuweist: sie sei „insoferne die höhere
Potenz der Natur, als sie im Idealen ausdrückt, was diese im Realen“
seien, vermöchten wir „das reine
An-Sich“ zu erblicken, so wäre dasselbe in der Geschichte ideal, in der
Natur real vorgebildet zu erkennen. Von seinem religiösen Standpunkt, den er
als den höchstmöglichen schätzt, erscheint ihm die Geschichte als Werk der
Vorsehung und als das große Spiel des Weltgeistes, als das Heiligste vom
Heiligen, „ewiges Gedicht des göttlichen
Verstandes“; Schelling setzte die Auseinandersetzung mit der Geschichte auf eine
Ebene mit der Kunst;
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Friedrich von Schlegel (1772–1829), der in
verschiedenen seiner Werke aphoristische Bemerkungen zur Geschichte machte:
„Es gibt keine Selbsterkenntnis als die
historische. Niemand weiß, was er ist, wer nicht weiß, was seine Genossen
sind [...] Alle vollendete Wissenschaft
ist Geschichte. Der Zweck alles Wissens ist Weltverständnis, Weltweisheit,
Geschichte mit einem Wort [...] Die
historische Ansicht ist gleichsam formlos, sie ist die höchste,
allgemeinste, natürlichste Form des menschlichen Geistes, zu der es keiner
anderen Vorbereitungen bedarf [...] Der
Historiker ist ein rückwärts gewandter Prophet“.
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Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) hat sich als Theologe in kritischer Weise
mit dem Problem der Hermeneutik als der Lehre vom Verstehen (eines Textes)
befasst, der er zwei Wege des Textverständnisses zuweist: eimal in einem
„grammatischen“ Sinne und in einem psychologischen Sinne, indem die Motive des
Verfassers erfasst werden, sodaß schließlich der Interpret den Text
umfassender und besser verstehe als der Verfasser selbst. Schleiermacher hat damit die zuvor für die Theologie und auch die
Jurisprudenz typische Interpretationslehre zu einer allgemeinen Lehre vom
Verstehen ausgeweitet, die dann von Dilthey zur Grundlage seiner Philosophie der Geisteswissenschaften
erhoben worden ist.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) ist ab 1822 mit seinen „Vorlesungen zur
Philosophie der Geschichte“ als Geschichtsphilosoph aufgetreten; er hat die
Geschichte als die Selbstverwirklichung des Weltgeistes interpretiert.
Geschichte ist deshalb für ihn Tat und Arbeit, Geschichte wird gemacht und
vollzieht sich in einem vierstufigen Verfahren, das in der
germanisch-christlichen Welt seinen Abschluss findet, die französische
Revolution hat eine wesentliche Bedeutung, es folgt auf sie nur mehr die
tiefere Ausbildung und weltweite Ausbreitung der Freiheit, welchem Zweck alles
andere dient – die List der Vernunft bediene sich der Leidenschaften und des
Egoismus etc. Die Historiker sind Hegels Lehre größtenteils skeptisch begegnet und haben sich Humboldts Vorstellungen angeschlossen – Ranke hat Hegels Vorstellungen als „neue
Scholastik“ abgelehnt.
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Für die Entwicklung der idealistisch-hermeneutischen
Auffassung war aber vor allem Wilhelm von Humboldt (1767–1835) von größter Bedeutung; er baute wesentlich auf
Herder auf. Auf Humboldt geht die Konzeption der 1809/10 eingerichteten Universität
Berlin zurück; allein damit hat er – neben seinem Wirken als
Sprachwissenschaftler – einen nicht zu überschätzenden Einfluss ausgeübt. Humboldt vertrat die Auffassung, dass alles, auch das geistig Seiende,
geworden sei, also mit einer historischen Dimension ausgestattet sei und dass
für das Verständnis einer solchen historisch fundierten Welt die Kenntnis ihrer
Entwicklung unabdingbar notwendig sei. Der in der Folge im 19. Jh sich
ausbildende Historismus stellt einen wesentlichen und durch nichts rückgängig zu
machenden und weiterhin wirkenden Entwicklungsschritt dar. Humboldts Ideale können umschrieben werden mit den Worten
Universalität, Individualität und Totalität (= Formung des Lebens zum
Gesamtkunstwerk).
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Humboldts Individuen sind einmalig und von einem für sie spezifischen
Prinzip beherrscht, weshalb er jegliche Generalisierung ablehnt. Die Idee Kants, dass sich der Mensch in einer allgemeinen, abstrakt gedachten
Vollkommenheit vollende, lehnte er ab zugunsten der Vervollkommnung in Gestalt
eines Reichtums neben- und nacheinander im Ablauf der Zeit wirkender großer,
individueller Formen – also einzelner Individualitäten (solche müssen nicht
menschliche Individuen sein, es kann sich auch um Institutionen etc. handeln wie
die Kirche u.ä.), die gleichsam Variationen der Inkarnation des Geistes
darstellten. Geschichte ist ihm der Weg des Wirklichkeit werdenden Geistes, der
sich in permanenter Zeugung individuellen menschlichen Lebens, der Nationen,
Sprachen etc. manifestiert. Weitere wesentliche Momente sind Bildung und
Trägheit (= Beharrung über lange Zeiträume hinweg, Vergehen). Der Ablauf der
Zeiten ist gleichsam notwendig, „damit in allen
geschehe, was in keiner einzelnen möglich ist, damit die ganze Fülle des dem
menschlichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens in
der Reihe der Jahrhunderte zutage komme“, wie es Ranke formuliert hat. – Die einzelnen Epochen, Einheiten, Kulturen
etc. besitzen ihren eigenen Wert, sind – so Ranke – „unmittelbar zu Gott“,
eine absolute Wertung wie in der Aufklärung wird abgelehnt.
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Die zusammenfassende Darstellung seiner Vorstellungen gab Humboldt in seiner Schrift „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“
(1821) und in der Einleitung seines – allerdings erst posthum erschienenen –
Werkes über die Kawi-Sprache104. Was dem Historiker an
Zeugnissen und Resten der Vergangenheit vorliegt, seien nur Bruchstücke,
Einzelheiten, nicht der ursächliche Zusammenhang und schon gar nicht der ideale
innere Gehalt des Geschehens. Deshalb müsse der Historiker eine zweifache Arbeit
leisten: Er müsse das Überlieferte kritisch sichten und die gesetzmäßigen
Zusammenhänge, mehr noch die idealen Totalitäten in ihrer individuellen
Eigentümlichkeit zu erfassen suchen. Darin sei die Arbeit des Historikers
schöpferisch-genialisch wie die des Dichters; der Historiker betreibt die
Nach-Schöpfung der Wirklichkeit und er tue dies umso besser, je tiefer er die
Menschheit und ihr Wirken durch Genie und Studium begreift, je menschlicher er
durch Natur und Umstände gestimmt ist und je menschlicher er handelt –
Vorurteilslosigkeit und Humanität sind die Voraussetzung für den Historiker nach
Humboldts Ideal.
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Humboldt hat sich dagegen gewendet, dass das Hauptgewicht auf Kultur
und Zivilisation gelegt würde und die Menschen zu sehr als Vernunfts- und
Verstandeswesen und seine Vollendung in abstrakter Vollkommenheit gesehen und
die Menschen zu wenig als Naturprodukt betrachtet würden.
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Aus Humboldts Vorstellungen resultiert die durch Ranke (1795–1886) in seiner Ideenlehre so wirksam verbreitete und in
der Praxis umgesetzte Geschichtsauffassung des deutschen Idealismus. Ranke versuchte, bestimmende Ideen zu erkennen und zu begreifen, nicht
aber sie zu zensieren. Dies war neu, denn das Eingreifen oder Wirken rein
geistiger Mächte war in der bis dahin geübten politischen Geschichtsschreibung
nicht in Erwägung gezogen worden; politische, religiöse und andere Systeme waren
erst dann in die Betrachtung einbezogen worden, wenn diese eine konkrete Gestalt
angenommen und Wirksamkeit entfaltet hatten. Die Entwicklung von Gedankengängen,
von Ideen und Vorstellungen ohne diese Manifestierung war von der politischen
Geschichtsschreibung als unwesentlich unbeachtet geblieben. Dass dies als
ungenügend empfunden werden musste, war eine Folge der Französischen Revolution
und auch der Entwicklung in der Restauration, als Ideen und Zielsetzungen
weltlichen Charakters auftraten, die jenseits äußerer Institutionalisierung –
die Französische Revolution hat (trotz gewisser Ansätze) keine Kirche begründet
– von Dauer waren und aller Gegnerschaft widerstanden.
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Die historische Ideenlehre ist im Grunde genommen eine
Verallgemeinerung dieser Beobachtung. In Analogie zu dieser Beobachtung begann
man frühere Erscheinungen im Sinne der Ideenlehre zu untersuchen, was vor allem
im Bereich der Kirchengeschichte nahelag; es entstand eine neue Terminologie –
z.B. das Wort „Protestantismus“, zuvor sprach man von „Luthertum“, „Calvinismus“
etc., der allgemeinere Begriff „Protestantismus“ wird neugeschaffen, das Wort
„Gegenreformation“ wird in Analogie zu „Contre-Revolution“ geschaffen, mit
diesen Begriffen werden nachträglich als Idee interpretierte Zusammenhänge
bezeichnet.
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Im Gegensatz zu den Romantikern im eigentlichen Sinne anerkannten
die Vertreter der historischen Ideenlehre keine mystischen, unbeweisbaren Mächte
wie einen Weltgeist oder Volksgeist, also überweltlichen Mächte an, sondern
schufen mit der historischen Ideenlehre die Vorstellung von durch die Menschen
geschaffenen und in den Menschen wirkenden Ideen. Ursprünglich wurde in der
historischen Ideenlehre dem Individuum geringe Bedeutung zugemessen, es wurden
nur jene Individuen hervorgehoben, in denen sich die leitenden Ideen, Tendenzen
am deutlichsten zu manifestieren schienen; daraus entstand erst später die
Vorstellung „Männer machen Geschichte“; im Unterschied zu den Romantikern (die
willkürliches Eingreifen in den Gang der Geschichte als Sünde gegen den Geist
der Geschichte interpretierten) akzeptiert die historische Ideenlehre den
Widerstand gegen herrschende Tendenzen und vermag damit auch einen aufgeklärten
Despoten zu akzeptieren. Zu stärksten Ausbildung gelangte die historische
Ideenlehre in Preußen, wo in der ersten Hälfte des 19. Jhs die
Auseinandersetzung zwischen Konservativen und Liberalen ohne entsprechende
festgefügte Parteien im Hintergrund auf rein geistiger Ebene geführt wurde; in
den konstitutionellen Monarchien Westeuropas (wo es starke Parteien gab, die
einander gegenüberstanden) kam sie nicht in diesem Ausmaß zur Entwicklung.
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Als Mängel der historischen Ideenlehre sind zu nennen: |
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die Postulierung einer vermeintlich sicheren und stark
vereinfacht angenommenen Kausalverbindung,
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es unterbleibt die Frage nach der Entstehung der Ideen – es
wird nicht gefragt, ob nicht die Idee, die als zur Französischen Revolution
führend betrachtet wird, durch dieselben Entwicklungen geschaffen worden
seien, die zur Revolution führten, womit die Sache ad absurdum geführt würde; auch wird nicht nachgeforscht,
was bewusst, was unbewusst verwendet wird; die Ideen treten einfach, geradezu
gottgesandt, in der Geschichte auf:
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als Idee wird nur akzeptiert, was gleichsam bewusst und
dezidiert von Staatsmännern, Politikern, Intellektuellen als solche
angesprochen, aufgestellt wird. Nicht aber wird berücksichtigt, was unterhalb
dieser Ebene, in der Bevölkerung, als öffentliche Meinung wirksam wurde.
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außerdem verfügten die Vertreter der historischen
Ideenlehre über keinerlei nationalökonomische Schulung, sodass die
wirtschaftlichen Aspekte vernachlässigt wurden; finanzgeschichtliche
Untersuchungen wurden zwar nicht abgelehnt, aber auch nicht wirklich
durchgeführt und allfällige Ergebnisse nicht eingebracht – die
wirtschaftsgeschichtlichen Anregungen der Aufklärungshistoriographie wurden
nicht aufgenommen; Ansätze bei dem Montesquieu-Anhänger Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760–1842) blieben stecken, der Engländer Robert Malthus (1766-1834), der niederländische Theoretiker David Ricardo (1772–1823) und andere wurden ignoriert. Ranke erweist sich auf diesen Gebieten als naiv und weniger
unterrichtet als Voltaire.
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Gleichwohl kommt der historischen Ideenlehre bedeutende
Wirkung zu: Erstmals werden geistige Bewegungen in großem Stil erfasst und in
das Geschichtsbild eingebracht.
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Ranke ist die zentrale Erscheinung der deutschen
Geschichtswissenschaft des 19. Jhs, sein Einfluss reicht bis in die Gegenwart;
er verlieh dem Historismus gewissermaßen staatspolitischen Charakter. Ranke schließt einerseits an die Romantik an, von der er die
philologisch-kritische Methode übernimmt, andererseits aber distanziert er sich
von der kleinräumigen Orientierung der Romantik, indem er sich zum
kosmopolitischen und die Freiheit des Individuums betonenden Standpunkt Humboldts bekennt. Ranke strebte entgegen der sich damals anbahnenden
politisch-tendenziösen Historiographie nach einer von subjektiven Einflüssen
freien Sachlichkeit und Allgemeingültigkeit der Aussage; er vertrat die Ansicht,
dass der Historiker die herrschende Tendenz wie alles andere Lebendige nur
beschreiben, nicht aber beurteilen könne; so sein vielzitiertes Bekenntnis im
Vorwort zu den „Geschichten der romanischen und germanischen Völker“ (1824)105:
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„Alle diese und die übrigen hiermit
zusammenhängenden Geschichten der romanischen und germanischen Nationen sucht
nun dieses Buch in ihrer Einheit zu ergreifen. Man hat der Historie das Amt,
die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu
belehren, beigemessen; so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch
nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen ist“;
dementsprechend wünschte er sein „Selbst
gleichsam auszulöschen, und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte
erscheinen zu lassen“.
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In dieser Vorrede vertritt er weiters folgende
Standpunkte:
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die romanischen und die germanischen Völker bilden eine
Einheit,
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er geht nicht vom Begriff einer allgemeinen Christenheit
aus (denn zu dieser würden auch die Armenier zählen),
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er akzeptiert nicht den Begriff der lateinischen
Christenheit, weil die Slawen, Magyaren und Letten „eine eigentümliche und besondere Natur“ hätten, „welche hier nicht inbegriffen wird“;
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er akzeptiert nicht die Einheit Europas, da die Türken
Asiaten seien und Russland auch weite Teile Asiens umfasse,
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die aus der Aufklärung erwachsene und in der Romantik
kultivierte Idee, dass Nationen erhöht und erniedrigt werden, weil die
Entwicklung ihrer Natur, Wachsen und Vergehen, die eines Menschenlebens sei
oder weil ein göttliches, von vornherein bestimmtes Verhängnis zum Verderben
wie zum Glücke bestehe, hat Ranke abgelehnt. Er hat demgegenüber auf das Zusammenspiel der
nationalen Mächte im internationalen Raum und auf seine kausale Verflechtung
verwiesen und setzte damit dem romantischen Mythos von der Entwicklung der
nationalen Staaten als einzelner, isolierter und in ihrer Entwicklung
gleichsam vorausbestimmter Systeme ein Ende; er ist also ein Gegner der
nationalen Geschichtstheorien und lehnt die künstliche nationale Isolierung
der Romantiker ab.
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strenge Darstellung der Tatsachen, wie bedingt und unschön
sie auch sei, ist ihm ohne Zweifel oberstes Gesetz;
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weiteres Bemühen gilt der "Entwicklung der Einheit und des
Fortgangs der Begebenheiten".
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Jede Epoche – so Ranke – habe ihren eigenen Wert, sei „gleich nahe zu Gott“ – eine
Auffassung, die sich auch schon in der karolingischen Historiographie findet,
Gott habe in seiner Gerechtigkeit jeder Zeit Anteil am Großen und Bedeutenden
gewährt.
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Ranke wünscht, "nur die Dinge reden,
die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen". Der Ablauf der Geschichte ist
für ihn in Nachfolge Humboldts u.a. die dynamische Entwicklung der „leitenden Ideen, der herrschenden Tendenzen in jedem
Jahrhundert“, die durch große Einzelpersönlichkeiten getragen werden. In
seinem Bestreben, die Untersuchung auf primäre Quellen zu stützen, war es Ranke, der als erster die von ihm bei einem Besuch in Venedig
vorgefundenen venezianischen Relationen als Quellen in ihrer vollen Bedeutung
entdeckt und verwertet hat; dies bedeutete die Erreichung einer neuen, die
Betrachtungsschärfe wesentlich verbessernden Ebene, andererseits wird Ranke durch die Überbetonung der Gesandtschaftsberichte als Quelle
dazu verführt, neuerlich die Geschichte vom Standpunkt der Regierungen aus
darzustellen, die politische Geschichte wieder in eine führende Position zu
bringen – Ranke betrachtete Staaten als „geistige
Wesenheiten“, als „Gedanken Gottes“.
Ranke wendet sich aber gegen die Tendenzen des Tages und sucht sich im
Gegensatz zur liberalen und zur romantischen Schule von der publizistischen
Historiographie freizuhalten. Er verfocht die Einzigartigkeit und das Einmalige
der historischen Ereignisse in wohl übertriebenem Maße; Ranke hat nie eine klarer gefasste Geschichtstheorie und
Geschichtsphilosophie formuliert.
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Ranke hat über all das hinaus Wesentliches – vielleicht seine
bedeutendste Leistung überhaupt – als historischer Psychologe geleistet. Er galt
auch als blendender Stilist und hat Historiographie auch als ein literarischen
Ansprüchen genüge leistendes Genre gesehen: „die
Historie ist zugleich Kunst und Wissenschaft [...] sie soll dem gebildeten Geiste denselben Genus gewähren wie die
gelungenste literarische Hervorbringung“106. Die
Entdeckung der Gesandtschaftsberichte hat aber auch die Bedeutung der ohnedies
schon dominierenden schriftlichen Quellen zusätzlich gestärkt.
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Ranke hat sehr bewusst und gezielt eine umfangreiche Schule begründet
(„Meine einzige Absicht für dies Leben ist,
meine wissenschaftliche Idee durchzusetzen“107) und über seine Schüler
praktisch den Großteil der deutschsprachigen Historiker des 19. und 20. Jhs
beeinflusst. Einen Überblick über die Entstehung und die Zusammensetzung der
Ranke-Schule bis in die fünfte Generation gibt Wolfgang Weber108. Zu den 14 Schülern der ersten Generation, deren Zahl
Ranke der Intensität der Ausbildung halber niedrig hielt, zählten u.a.
Georg Waitz109, Heinrich von
Sybel110, Wilhelm Giesebrecht111, Friedrich Wilhelm Schirrmacher112, Wilhelm Wattenbach113 und auch Harry
Bresslau114. Über sie vor allem hat sich die Schule – auch
im Sinne eines old boy’s network – über den ganzen deutschen Sprachraum
ausgeweitet.
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In der Folge ist in Deutschland durch Ranke vor allem die kritische Auswertung der Quellen wesentlich
verbessert, letztlich aber bald das Betrachtungsfeld de facto wieder eingeengt worden, da man die umfassende
Sozial- und Kulturgeschichte der Aufklärung zugunsten einer auf Individuen
konzentrierte politische Geschichte, Staatengeschichte aufgab – diese Tendenz
wurde verstärkt durch den Umstand, dass um 1830 große Archive geöffnet wurden,
was eine neue Forschungssituation schuf, die natürlich zuerst wiederum für die
überkommenen Fragestellungen genutzt wurde, was auch durch die methodologische
Verfeinerung in den Hilfswissenschaften gesteigert wurde. Andererseits lehnte
man nun die Strukturen ab, die Tiefe des Problems der Differenz zwischen der
Analyse struktureller Erscheinungen und dem intuitiven Bewerten – Verstehen –
einzigartiger historischer Erscheinungen erkannte man nicht, da man die
Strukturen generell leugnete und immer rigoroser die Ansicht vertrat, dass
wissenschaftliche Gewissheit in der Geschichte allein durch die Kenntnis bzw.
die Analyse der Motive und Absichten (Vorstellungen, in denen sich die leitenden
Ideen manifestieren) der großen Handlungsträger – „Männer machen Geschichte“ – wie diese sich in den Quellen
zeigen, möglich sei; weshalb man auch die Hermeneutik für das wesentlichste
Mittel der Geschichtsforschung erachtete.
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Die Prämisse, unter der Ranke und seine Schule Geschichte betrieben, war die Annahme, dass es
eine Welt des Geistes gebe, in der eine Fülle von Individualitäten existiere
(nach Humboldt nicht nur Menschen, sondern auch Kollektivkörper wie Staaten,
Nationen und Kulturen), die ihren Ausdruck in der Erscheinungswelt finden und
die man nicht durch induktives Denken, sondern nur durch Interpretation der Ausdrucksformen, also der historischen Quellen
begreifen könne; da aber nicht alles in der Sinnenwelt wahrnehmbar sei, müsse
der Rest „hinzuempfunden, geschlossen, erraten“ werden.
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Der hermeneutische Ansatz bewirkte in Deutschland die
Historisierung zahlreicher Wissenschaftsgebiete: Politische Ökonomie,
Philosophie, Rechtswissenschaften, Literatur, Kunstwissenschaft, Linguistik etc.
Mit diesen Vorgängen, auf Grund der allgemeinen Historisierung, hat die
Geschichtswissenschaft eine zentrale Position innerhalb der
Geisteswissenschaften eingenommen. Droysen entwickelte einen Ansatz zur Sozial- und Kulturgeschichte, der
in der Folge von Schmoller vor allem realisiert worden ist – Wirtschafts- und
Sozialgeschichte innerhalb des Historismus, die Wirtschaftsgeschichte wird jedoch vielfach unter dem
Primat der politischen Geschichte zur Verfassungs-, Rechts- und
Verwaltungsgeschichte reduziert; Karl Lamprechts Versuch, positivistische und analytische Ansätze einfließen
zu lassen, hat zu der berühmten Auseinandersetzung geführt, da man ihn des
Materialismus und Sozialismus verdächtigte.
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Inhaltlich stand in diesem System der Staat als höchster Wert über
sozialen und ökonomischen Interessen, und den höchsten Rang unter den
Gegenständen nahm bald die Außenpolitik ein, als Ausdruck der geistigen
Wesenheiten und des Wirkens der Nationen und des Staates als eines „Gedanken
Gottes“; die inneren Verhältnisse seien zur größtmöglichen Perfektionierung der
äußeren einzurichten. Diese, den politischen Traditionen Preußens entsprechenden
Grundsätze und die Formulierung der Objektivität haben dieses Paradigma unter dem Einfluss der politischen Auseinandersetzung mit
Frankreich (als dem Träger der positivistischen Richtung) bis in das 20. Jh
hinein stabilisiert. Die Rezipierung des Positivismus setzte in Deutschland relativ spät ein und führte im Wege
des Widerstandes zu einer Verfestigung der idealistischen Position, wie dies der
Fall Droysens erweist.
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Die fundamentale wissenschaftstheoretische Grundlegung im
engeren Sinne der Geschichtswissenschaft besorgte nicht Ranke, sondern der Hegel- und Boeckh-Schüler Johann Gustav Droysen (1808–1884), der seine
Karriere als Altphilologe und Althistoriker startete und zum Begründer der
preußisch-kleindeutschen historiographischen Schule wurde, mit seiner
„Historik", die als eine Wissenschaftslehre der Geschichtswissenschaft lange ein
zentraler Beitrag zur erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlegung
der Geschichtswissenschaft und der Geisteswissenschaften allgemein war und immer
noch wirksam ist. Droysen beschäftigte sich als Historiker primär mit dem Hellenismus
("Geschichte Alexanders des Großen", "Geschichte des Hellenismus") und mit der
Methodologie im Sinne des Historismus ("Grundriss der Historik"). Droysen wendet sich gegen eine theologisch-philosophisch-spekulative
Geschichtsdeutung ebenso wie gegen die empirisch-naturwissenschaftliche
Behandlung der Geschichte, die er in einer ausführlichen Rezension von Buckles „History of Civilization in England“ und letztlich auch in
seiner „Historik“ zurückgewiesen hat. 1859 trat er in Berlin an die Seite Rankes. Droysen nimmt eine für die nachfolgende Entwicklung zentrale Stellung
ein.
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Droysen beobachtete im Materialismusstreit der 1850er Jahre früh die
Erfolge der "physikalischen Methode" bzw.
der "napoleonischen Polytechnik" (so
bezeichnete Droysen den Positivismus) und bedauerte, dass „schon niemand mehr an die idealen Mächte“ glaube – dies war der Anlass
für die Aufnahme seiner Historik-Vorlesung im Jahre 1857115, durch die er eine die idealistische Position stärkende
kritische Selbstreflexion der Voraussetzungen, Methoden und Grenzen des
Erkennens einzuleiten gedachte. Droysen zielte nicht auf eine Erhebung der Geschichte zum Rang einer
Wissenschaft ab, sondern auf die Klärung ihrer Fundamente, und deckte dabei die
große Kluft zwischen Theorie und Empirie im Positivismus auf – Buckle hatte so gut wie keine Theorie und Methodologie der neuen
Geschichtswissenschaft geboten, und seine Gesetzeshypothesen fielen sehr dürftig
aus. Droysen erklärte die Kluft zwischen Theorie und Empirie für das Gebiet
der Geschichte als unschließbar; dies hat auch John Stuart Mill in seiner Logik und in seinen Schriften über Comte und den Positivismus festgestellt.
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Die Auseinandersetzung hatte in den 1850er Jahren eine erhebliche
Dimension gewonnen, als der altliberale Politiker Karl Twesten an einer neuen, auf kulturhistorische Studien gestützten
Geschichtsphilosophie arbeitete, „welche alle
Sphären des menschlichen Lebens und namentlich Staat und Politik ohne irgend
eine Zulassung einer theologischen oder metaphysischen Theorie gleich den
exakten Wissenschaften rein auf den tatsächlichen Boden der intellektuellen,
moralischen und materiellen Bedürfnisse und Verhältnisse zurückführen soll,
wie diese sich einsteils aus dem Unveränderlichen in der menschlichen Natur
und andererseits aus den wechselnden Kulturzuständen ergeben, als letzten
Zweck aller Wissenschaft nur die Erkenntnis der Gesetze suchend, von denen die
Erscheinungen beherrscht werden“. Twesten wandte sich damit bereits gegen die dominierende politische
Geschichte mit ihrer Tendenz der Beschreibung individueller Gestalten
(Personengeschichte) und Abläufe (Ereignisgeschichte) und berief sich dabei auf
die methodologischen Hauptwerke von Comte und Mill sowie auf Buckles „History of Civilisation in England“. Twesten war damit einer der ersten, die in Deutschland überhaupt auf
Comte hinwiesen, und wurde in diesem Zusammenhang in eine für die
Entwicklung der Hermeneutik aufschlussreiche Kontroverse mit dem Linkshegelianer
Rudolf Haym verwickelt, in der Haym
auf der Bedeutung einer „Kraft des
Gemüts“ und auf der Ansicht beharrte, dass alles Denken „bis auf einen gewissen Grad, weil dem ganzen Gemüt
entsteigend, metaphysisch“ sei – hier liegt gleichsam der Ursprung der
„Kunst des geschichtlichen Verstehens“. – 1858 forderte der Althistoriker
Fridegar Mone in einer gegen Ernst Curtius gerichteten Streitschrift die Erhebung der Geschichte zum Rang
einer Wissenschaft: "Die Geschichte muss eine
Wissenschaft werden, sonst hat sie kein Recht mehr, neben der
Naturwissenschaft zu stehen. Sie muss die Spitze der Naturwissenschaft – die
höchste Stufe der Anthropologie, die Fortsetzung der Physiologie und der
Psychologie werden". Geschichte ist für Mone in verschwommenere Weise die „Wissenschaft der Entwicklungsgesetze der Materie in der Zeit“.
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1859 begann Hayms Lehrer Arnold Ruge, Buckles „History of Civilisation in England“ zu übersetzen, um damit
zwischen westeuropäischem und deutschem Geist zu vermitteln. Damit machte er ein
Werk zugänglich, das so ziemlich genau das Gegenteil dessen verfolgte, was die
deutsche Historiographie nach 1848 thematisierte: Kultur- und
Wirtschaftgeschichte, die Darstellung der Entwicklung der öffentlichen Meinung
etc. anstelle der Entwicklung der Staatsmacht. Droysen hat als ein Wortführer der deutschen Historiographie in seiner
Rezension in der Historischen Zeitschrift Buckle eine scharfe Absage erteilt (erste Phase) und es folgte eine
gewisse Immunisierung der deutschen Geschichtswissenschaft auf theoretischer
Ebene gegen den Positivismus. Dennoch vollzog sich gleichzeitig ein Eindringen des
Positivismus in die Praxis der Geschichtsforschung, für welches zweifellos auch
das Beispiel der neu erstarkenden Naturwissenschaften bzw. empirischen Forschung
mit verantwortlich war und das eine gewisse Immunisierungswirkung gehabt haben
dürfte, da man praktisch empirisch arbeitete. Dieses Vordringen wurde wesentlich
gefördert durch die Ranke-Schule, die (Bayle nicht unähnlich) in der Kritik der Tatsachen das eigentliche
Geschäft der Historie erblickte (zweite Phase). Eine dritte Phase der
Auseinandersetzung bildete dann der sogenannte Methodenstreit in den 1890er
Jahren um Karl Lamprecht, der durch das Erscheinen von dessen "Deutsche Geschichte"
1891ff. ausgelöst wurde.
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Im Gegensatz zu Rankes Distanzierung von der Tagespolitik und im Gefolge Hegels vertrat Droysen aber doch die Einbindung der Geschichtsschreibung in die
Politik in der Weise, dass deren Kritik und Interpretation unter spezifischen Gesichtspunkten erfolgte und der
Geschichte wiederum die Kompetenz der Handlungsorientierung zugeschrieben wurde.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte stellte für ihn einen staatspolitisch
wichtigen erzieherischen Faktor dar und war im Dienste des Staates umzusetzen,
sie ist ihm „Anstoß zu politischer Praxis“
(Rüsen). Er erblickte darin offenbar keinen Gegensatz zu den von ihm
erarbeiteten wissenschaftstheoretischen Grundsätzen, die er offenbar nur in
Bezug auf die „Wahrheitsfindung“ gültig erachtete, nicht aber hinsichtlich der
Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse (wie dies später in ähnlicher Weise –
allerdings ohne einen so konkreten politischen Hintergrund – Max
Weber formulieren sollte). Droysen hat die „eunuchische
Objektivität“ abgelehnt – Objektivität war ihm wie auch Sybel116, Treitschke (s.w.u.), Ottokar
Lorenz117 und
anderen nahezu Vaterlandsverrat – Adolf Hitler steht etwas später in
dieser Reihe118. Es hat diese Anschauung in der Zeit der
Auseinandersetzungen um das neue Reich weitreichende Wirkung entfaltet, zumal
sie sehr rasch in untragbarer Weise übersteigert worden ist, und zwar in der
kleindeutsch orientierten preußischen Historiographie und dort insbesondere
durch Heinrich von Treitschke119. Unter dem Eindruck der Aktivität der
preußisch-kleindeutschen nationalistischen Schule äußerte Jacob Burckhardt nach 1870/71, dass nun „die
ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen“ würde.
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Ähnlich wie Ranke hat auch Droysen eine weit verzweigte und über mehrere Generationen sich
fortsetzende Schule gebildet120.
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In aller Klarheit erkennt Droysen auch den Geschichtsforscher als historisch Gewordenen und
damit nicht neutralen Beobachter, der seinen persönlichen Erfahrungshorizont in
den Forschungsprozess einbringt, und die Relativierung aller normativen
Instanzen durch das historische Bewusstsein, resigniert aber nicht. Das Problem
der wissenschaftlichen Rekonstruktion „objektiver Tatsachen“ reduziert sich ihm
auf die Frage der methodischen Überprüfbarkeit und Begründungsfähigkeit von
historischen Deutungshypothesen, die empirischen Arbeitsverfahren werden dem
Erkenntnisziel der Geschichtswissenschaft untergeordnet; Ziel ist Aufklären und
Bilden, Hinführen zu Selbsterkenntnis, die zu höherwertigem Handeln
befähigt.
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Droysens „Historik“ ging aus seiner ab 1857 gehaltenen Vorlesung
„Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“ hervor, der 1867, 1875 und 1881
die immer wieder verbesserten Formulierungen als „Historik“ folgten; es handelt
sich dabei um nicht ausformulierte aphorismenartige Formulierungen, in denen es
noch eine Einheit von Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie und Methodologie
gibt. Droysen ist Höhepunkt – und unter gewissen Aspekten Abschluss – dieses
Genres (Bodin – Francis
Bacon – Vossius, Keckermann u.a. – Descartes – Bayle –Vico – Chladenius). Anlass zu seiner Vorlesung waren „materialistische"
Äußerungen 1852 an der Universität Jena. Droysen schrieb am 12. Februar 1852 an Sybel: „Um gegen die hier überhand
nehmende Richtung - unsere weisesten Männer in Jena lehren bereits, dass nur
Mikroskop und Waage Wissenschaft sei, dass ihre mathematische Methode die
Methode überhaupt sei, wie einst die Hegelschen Schüler mit der Philosophie
ein Gleiches taten, bis darüber die Philosophie in den Dreck geriet – um
hingegen anzukommen, werde ich im Sommer 'Methodologie und Enzyklopädie der
historischen Wissenschaft' lesen"; Vorbild dafür war die von Philipp
August Boeckh 1809–1865 in 26 Semestern gehaltenen Vorlesungen über
„Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften", die eines der
wichtigsten Zeugnisse des Selbstverständnis des frühen Historismus sind (erst 1877 durch Bratuschek veröffentlicht).
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Wesentliche Aussagen der „Historik“:
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Historische Erkenntnis ist nicht Abbildung geschehener Geschichte,
sondern ist gedanklicher Entwurf. Die Totalität des Geschehens ist nicht
Gegenstand des geschichtlichen Erkennens; sie kann es nicht sein, weil sie
vergangen ist. Geschichte als Gesamtheit aller vergangenen Ereignisse kann man
nicht wissen. Geschichte ist somit nur ein Wissen von dem Geschehenen – Droysen über Geschichte: „Das Wissen
von ihr ist sie selbst“. Geschichte als gewusste Geschichte ist „ein Ergebnis empirischen Erfahrens und
Erforschens“, geschichtliche Erkenntnis richtet sich auf Gegebenes. „Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu
verstehen“, „Das historische Forschen
setzt die Einsicht voraus, dass auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach
vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist“.
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Droysen hat Geschichtswissenschaft als Forschung, als Prozess
definiert: „Das ist es, was Menschenwelt zur
sittlichen Welt macht. Das Wesen der sittlichen Welt ist der Wille und das
Wollen, das Individuelle, also frei wie es ist, ein stetes Streben nach dem
Vollkommenen, ein stetes Fortschreiten, und das auch unter demselben Gesetz
bleibt, wenn der Wille und das Wollen dieses Gesetz missachtet und verletzt.
Die Bewegung der sittlichen Welt fassen wir also zusammen als Geschichte. Und
den Erscheinungen gegenüber, die uns unsere empirische Wahrnehmung aus diesen
Bereichen zuführt, haben wir auffassend ein anderes Verhältnis als der Natur
gegenüber.“ |
Maßgebend sei die formgebende Kraft des Menschen, die sich in allem
historisch Relevanten finde und im Unterschied zur Natur für stete Entwicklung
sorge (während es in der Natur nur Wiederholung des ewig Gleichen gebe) – „diese menschliche Signatur ist so scharfer und
ätzender Art, dass, wo auch nur Reste, auch nur Spuren von ihr noch vorhanden
sind, man sofort erkennt, dass sie von Menschengeist und Menschenhand stammen,
also ein Ausdruck und Abdruck des innersten Wesens dessen und derer sind, die
es so geformt haben. [...] Diese formende
Kraft gilt es in ihren Äußerungen zu erkennen und zu erfassen, sie aus diesen,
wie viele oder wenige uns denn vorliegen, zu rekonstruieren. Diese Ausdrücke
gilt es auf das zurückzuführen, was sich in ihnen hat ausdrücken wollen. Es
gilt, sie zu verstehen. Damit haben wir das bezeichnende Wort: Unsere Methode
ist forschend zu verstehen.“ |
Droysen führt dazu weiters aus: „Nach
den Objekten und nach der Natur des menschlichen Denkens sind die drei
möglichen wissenschaftlichen Methoden:
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die (philosophisch oder
theologisch) spekulative [= erkennen]
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– |
die physikalische
[= erklären]
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die historische
[= verstehen]
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Ihr Wesen ist: zu
erkennen, zu Erklären, zu verstehen“. Dies sei
möglich, da jede menschliche Äußerung innere Vorgänge widerspiegle. Das
Verstehen sei gleichermaßen induktiv wie deduktiv. Dem entsprechend meint Droysen: "es gibt nichts, was den
menschlichen Geist bewegt und sinnlichen Ausdruck gefunden hat, das nicht
verstanden werden könnte". Nach Ranke ist jede historische Erscheinung Teil einer geistigen Einheit
und kann deshalb „nur durch geistige Apperzeption
aufgefasst werden“121. Die Kräfte, die in der
Geschichte wirken, seien „geistiges Leben
hervorbringende schöpferische Kräfte, es sind moralische Energien, die wir in
ihrer Entwicklung erblicken. Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen
sind sie nicht; aber anschauen, wahrnehmen kann man sie“. Die
historisch-philologische Kritik beschränkte sich eben auf die Kritik der
Echtheit der Quellen, die Interpretation selbst wurde als ein Akt des Sich-in-die
Quelle-Versenkens verstanden, weshalb auch die Erzählung als die einzig mögliche
Darstellungsform gesehen wurde.
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So wird Droysen zum eigentlichen Begründer der historischen Hermeneutik (der
Interpretation, dem Verstehen als „Erkenntnismethode“), mit deren Hilfe er die
Geisteswissenschaften gegen die Naturwissenschaften abgrenzt. Der Problematik,
dass das „Verstehen" unter Einbringung der sittlichen und politischen
Disposition und auch des diesbezüglichen Wollens der Forderung der Objektivität
entgegenstand, war sich Droysen bewusst – seine „Historik“ ist nicht unwesentlich der Versuch,
diesem Dilemma durch die wissenschaftliche Absicherung des Verstehens zu
entrinnen, es soll eine Überprüfbarkeit der durch die Hermeneutik gewonnenen
Aussagen und damit einer intersubjektive Qualität der Aussagen erreicht werden.
Damit sind in etwa die Probleme des klassischen Historismus im Sinne der Begründung der idealistischen
Geschichtswissenschaft skizziert, mit denen später Wilhelm Dilthey ringt122.
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Den für die Naturwissenschaften unbestrittenen und
deshalb im analytischen positivistischen Modell allein anerkannten Elementen des
Wissens – jenes Wissens, das intersubjektiver Prüfung und allgemeiner Zustimmung
fähig ist –, nämlich Beobachtung, Experiment und mathematischer Symbolismus, hat
das hermeneutische Modell noch Überlieferung und Reflexion hinzugefügt, die
unter dem Einfluss der hohen Einschätzung von Sprache bei Wilhelm von Humboldt123 grundsätzlich als sprachlich
vermittelt aufgefasst werden und ihrerseits auf historisch Gewachsenes
(Wissensinhalte der Tradition und damit auch der Reflexion) rekurrieren. Hier
hat die absolute Dominanz der schriftlichen Quellen, der philologischen Methode
und der Heuristik (als Suche nach dem schriftlichen Quellenmaterial) im Historismus ihren Ursprung.
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Droysen erachtete es nicht als Ziel der historischen Kritik, sich auf
die Feststellung des „Tatsächlichen“ – des Ranke’schen „wie es eigentlich gewesen
ist“ – zu beschränken, sie soll nur das Material bereitstellen, das im
weiteren eine relativ sichere und verlässliche „Auffassung des Geschehens“ ermöglicht. Geschichte ist nicht die Summe
der Tatsachen oder Ereignisse einer Zeit, sondern das Wissen von dem Geschehenen
und das so gewusste Geschehene; und als Wissen vom Geschehenen unterliegt sie
transzendentalen Auffassungsbedingungen des erkennenden Subjekts, die letzten
Endes hermeneutisch, d.h. in Bedingungen der Interpretation, gegründet sind. Objektivität, wie Ranke sie anstrebte, war Droysens Intention nicht.
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Ein wesentliches Element in diesen Überlegungen Droysens war das der Kontinuität historischer Entwicklungen; er
vermochte die Vorstellung der Kontinuität nicht mit der von Gesetzmäßigkeiten in
Einklang zu bringen. In vielen seiner Überlegungen hat Droysen sich, obgleich begeisterter Hörer von Hegel, sich von diesem abgewendet und auf Kant zurückgegriffen (Neukantianismus), und sogar einen neuen Kant herbeigesehnt, der „das
theoretische und praktische Verhalten zu und in der Geschichte kritisch
durchmustere, etwa in einem Analogon des Sittengesetzes, einem kategorischen
Imperativ der Geschichte, den lebendigen Quell nachweise, dem das
geschichtliche Leben der Menschheit entströmt“, ja eine „Kritik der
historischen Vernunft“ schaffe. „Geschichte“ ist für Droysen in engem Zusammenhang mit politischem Handeln zu sehen und
nicht umsonst hat er wesentlich zu der mit klaren Zielsetzungen und
Wertungskriterien ausgestatteten kleindeutsch orientierten Historiographie
beigetragen.
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Aus der von Ranke begründeten und in der Folge gefestigten Wertschätzung des
Staates – „Gedanken Gottes“ – entwickelt
sich die hermeneutische Form des Historismus zu einer Art „Staatshistoriographie“ bzw. -ideologie und
somit zu einem Faktor der Stabilisierung des Staates. Dem Volk
Entscheidungsbefugnisse einzuräumen, hätte diesen Auffassungen zufolge die
Staaten daran gehindert, ihren großen Aufgaben nachzukommen; Geschichte werde
durch leitende Persönlichkeiten gemacht und nicht durch die – von den
Sozialisten erfasste – Masse.
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Durch Droysens Eingreifen wird eine Immunisierung der deutschen
Geschichtswissenschaft auf theoretischer Ebene gegenüber dem Positivismus bewirkt, obgleich sich doch andererseits gleichzeitig ein
Eindringen des Positivismus in die Praxis der Geschichtsforschung vollzog, das
wesentlich gefördert wurde durch die Ranke-Schule, die – Bayle fortführend – in der Kritik der Tatsachen ein wesentliches
Geschäft der Historie erblickte. Das Erscheinen der Boeckh’schen Enzyklopädie (1877), Ernst Bernheims 1880 veröffentlichte Schrift „Geschichtsforschung und
Geschichtsphilosophie“, aus der sein 1889 erstmals erschienenes „Lehrbuch der
Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie“ hervorgegangen ist, das dann
mehrere Auflagen erleben sollte, sind ebenso als Reaktionen auf diese
Entwicklung zu verstehen wie Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ 1883 – allesamt
Schritte, die der wissenschaftlichen Untermauerung der
„geisteswissenschaftlichen Methode“ des Verstehens gegenüber der
naturwissenschaftlichen Methode dienen sollten. Dilthey hat sein Leben lang um die
erkenntnistheoretisch-philosophische Untermauerung gerungen und ist letztlich
gescheitert.
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Es darf nicht übersehen werden, dass die Realität des
politischen Alltags durchaus auch in die idealistisch-hermeneutische
Geschichtswissenschaft durchschlug und in der Lage war, wesentlich Maximen außer
Kraft zu setzen. Insbesondere war es die deutsche Frage, die in den einander
gegnerisch gegenüberstehenden Lagern der Großdeutschen und der Kleindeutschen
für sehr unterschiedliche Bewertungen der Vergangenheit führte, wobei zwischen
der quellenkritisch-methodischen Eruierung der Fakten einerseits und der
Bewertung der getroffenen Entscheidungen zu unterscheiden ist.
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Es waren die Vertreter der aus der Bewegung des Liberalismus heraus
sich entwickelnden liberal-nationalen Schule (Sybel, Dahlmann, Treitschke sowie der Althistoriker Theodor Mommsen), die diesbezüglich hervortraten. Der Ranke-Schüler Heinrich von Sybel, der sich von seinem Lehrer schroff lossagte, wandte sich einer
neuen politisch-tendenziösen Geschichtsschreibung zu und wurde unter dem
Eindruck der Revolution von 1848 neben Heinrich von Treitschke und Johann Gustav Droysen zum Führer der kleindeutschen Geschichtsschreibung, die die
preußische Hegemonie in Deutschland forderte und unter dieser Zielsetzung eine
Neubewertung der deutschen Geschichte vornahm. Eine Auseinandersetzung hatte
Sybel durch seine massive Kritik an der Italienpolitik der Staufer und
dann ganz besonders Maximilians I. entzündet, die er im Interesse der
inneren Entwicklung des Reiches, die darob zu kurz gekommen sei, krass negativ
bewertete: Es sei damit wertvolle nationale Energie vergeudet und die Bildung
eines mächtigen, national geeinten deutschen Staates verhindert worden. Als
Sybel dies 1859 in einer Festrede über die neueren Darstellungen der
deutschen Kaiserzeit ausbreitete, führte dies zu einer bis 1862 währenden
intensiven Auseinandersetzung mit dem rheinländisch-österreichischen Historiker
Julius von Ficker (1826–1902, an der Universität Innsbruck), der den
großdeutschen Standpunkt vertrat und die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters
als aus ihrer Zeit hereus verständlich verteidigte. Der Streit löste eine
umfangreiche wissenschaftliche Kontroverse aus, deren Aufsätze etc. ob ihrer
programmatischen Inhalte immer wieder neuaufgelegt und heute noch erhältlich
sind. Gleichwohl ist es ein Verdienst Sybels, wesentlich zur Entromantisierung des deutschen
Mittelalterbildes beigetragen zu haben.
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Neben der Ranke-Schule und neben der kleindeutsch orientierten Historiographie
erlangte vor allem Theodor Mommsen (1817–1903) eine ähnlich
zentrale Position, nämlich im Bereich der Altertumswissenschaften. Mommsen kam von der Jurisprudenz und der Realienkunde der Antike, von
Klassischen Philologie, der Numismatik und von der Epigraphik her zur
Geschichte. Von seinem Werdegang sind auch seine Werke geprägt; er stellte diese
Hilfswissenschaften in den Dienst der Historiographie. Sein bedeutendstes Werk
ist seine 1854-56 dreibändige „Römische Geschichte“, für die er – als einziger
Historiker – 1902 den Nobelpreis für Literatur erhielt; weiters „Das römische
Staatsrecht" und numismatische und chronologische Abhandlungen – Mommsens Werksverzeichnis weist 1500 (!) Titel aus, darunter auch das
berühmte „Römisches Strafrecht“ mit welchem Werk Mommsen im Alter von 82 Jahren ein Thema abschloss, das die Römer
selbst nicht bewältigt hatten. Mommsen war eine althistorische Kapazität internationalen Ranges und
hat als solche zahlreiche wissenschaftliche Großunternehmungen (Corpus
Inscriptionum Latinarum etc.) und eine eigene Schule begründet124. Mommsen fordert die Autopsie und leitet CIG = Corpus inscriptionum
Graecarum (= attische Inschriften) ein, dann IG = Inscriptiones Graecae und
schließlich CIL = Corpus inscriptionum Latinarum und beschritt so den Weg zur
Epigraphik und Archäologie. Mommsen weist weiters über seine Schüler Julius Beloch und Robert Pöhlmann den Weg zur Wirtschaftsgeschichte.
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Mommsens Schüler, vor allem sein Schwiergersohn Ulrich Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931), haben diese Tradition der
deutschen Altertumswissenschaft fortgeführt. Es wird in Edition, Realienkunde,
Ausgrabungstätigkeit und Historiographie eine ungeheure Forschungsleistung
erbracht, und durch die sukzessive in Zusammenwirken mit der Grabungsarchäologie
erfolgende Entwicklung der Altorientalistik (Assyriologie, Hethitologie etc.)
vollzieht sich eine bedeutende Ausweitung des historischen Betrachtungsfeldes ab
der zweiten Hälfte des 19. Jhs.
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In Deutschland gründete
am 20. Jänner 1819 der Reichsfreiherr Lorenz vom und zum
Stein in Frankfurt die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde,
die sich die Herausgabe der Quellen zur älteren deutschen Geschichte, der „Monumenta Germaniae Historica“ (= MGH) und des
„Archivs der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" (ab 1876 „Neues
Archiv ...") zur Aufgabe machte – unter Devise „Sanctus Amor Patriae“; bald wurde das Unternehmen von den Ländern
subventioniert. Die Arbeit wurde durch mehr als 50 Jahre durch Georg Heinrich
Pertz (1795–1876) als erstem
Herausgeber bestimmt, dem als erster Sekretär Johann Friedrich Böhmer zur Seite stand, der sich aber
mit Pertz überwarf. 1824 schuf man die fünf Abteilungen Scriptores, Leges,
Diplomata, Epistolae und Antiquitates; später traten die Auctores antiquissimi und
anderes hinzu. 1875 erfolgte eine Neuorganisation und die neue Zentraldirektion
wurde eine öffentlich-rechtliche Einrichtung, die das Deutsche Reich und
Österreich finanzierten; in Wien wurde eine Zweigstelle errichtet; die
wissenschaftliche Unabhängigkeit blieb aber erhalten; neuer Vorsitzender wurde
Georg Waitz (1813–1886), und die Zeitschrift wurde 1876 in "Neues Archiv..."
umbenannt. In der NS-Zeit erfolgte mit 1. April 1935 die Umwandlung in ein
Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde, und 1937 erhielt die
Zeitschrift den Titel „Deutsches Archiv“. Nach 1945 erfolgte die Reorganisation
wieder als öffentlich-rechtliche Einrichtung unter dem Namen "Deutsches Institut
für Erforschung des Mittelalters".
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Auf Grund des Zerwürfnisses zwischen Pertz und Böhmer entstanden die „Regesta Imperii“
(= RI), die im Gegensatz zur Quellenedition der MGH eben Regesten bieten.
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Leopold Ranke gründete die „Jahrbücher des Reiches“, die von Giesebrecht125 als annalistisch organisierte Materialerfassung zur
Geschichte der deutschen Kaiserzeit bis 1190 mit Hilfe zahlreicher weiterer
Historiker vorangetrieben wurden; in den Jahrbüchern wird aus allen verfügbaren
Quellen die Geschichte des Römischen Reiches für jedes Jahr, also gleichsam in
annalistischer Struktur, erstellt, um so den „Rohstoff" gewissermaßen griffbereit
zu organisieren.
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In Frankreich entwickelte
sich nach 1815 ebenfalls ein großes Interesse am Mittelalter: es kam 1821 zur
Errichtung der Ecole des Chartes – einer speziellen Ausbildungsstätte für die
mediävistischen Hilfswissenschaften – in Paris und schon in den 1820er Jahren zu
zahlreichen Editionen mittelalterlicher Quellen. Romantische Rückwendung zur
eigenen, nationalen Vergangenheit auch hier, Rückbesinnung auf Religiosität126, auf
Monarchie und auf das "farbige Leben des Mittelalters". Qualitativ hinkte man aber
– vor allem im Bereich der Alten Geschichte – weit hinter den Deutschen her127. Erst ab 1850 kam es – ähnlich wie in Österreich
durch Professorenimporte aus Deutschland – auch in Frankreich zu einer Belebung
der klassischen Studien, ohne dass sich diese aber in dem Maße wie in Deutschland
auf die Auseinandersetzung mit dem Mittelalter konzentrierten. Der französische
Unterricht ist auch lange noch ausschließlich Kathederunterricht gewesen,
lediglich in der Ecole des Chartes wurde in einigen Hilfswissenschaften
praktischer Unterricht erteilt. Die akademische Geschichtswissenschaft Frankreichs
stand im 19. Jh gänzlich unter dem Einfluss der Entwicklung in Deutschland.
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1834 wurde auf Vorschlag des Ministers und Historikers Francois Guizot das Comité des Travaux Historiques et scientifiques gegründet,
das den Auftrag zur Edition von Quellen erhielt, woraus die „Collection de
documents inedits sur l'histoire de France“ resultierte, die heute noch wichtig
ist – sie enthält mittelalterliche und neuzeitliche Dokumente, es wurde im Prinzip
die Arbeit des Cabinet des Chartes fortgeführt, aber letztlich ohne Plan und
Standards gearbeitet.
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Ein Wandel trat erst in den späten 1860er Jahren ein, als auf
Initiative des Ministers und Althistorikers Victor Duruy die Ecole Pratique des Hautes
Etudes in Paris begründet wurde, die aus einer Reihe von historischen und
philologischen Seminaren bestand, die auf Grund eines Berichtes des nach
Deutschland entsandten Historikers Gabriel Monod nach Berliner Vorbild eingerichtet wurden (nicht übernahm man in
Frankreich die Fakultätsgliederung). Es setzte nun auch in Frankreich die
Herausgabe kritischer Editionen der wichtigsten Texte (Collection Halphen und Collection Picard) – Urkunden, erzählende, belehrende, wirtschaftsgeschichtlich
bedeutsame etc. Quellen ein.
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Außerdem traten nun auch private Gesellschaften wie die Société de
l'Histoire de France in den Forschungsprozess ein.
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In Belgien wurde 1834 die
Commission Royale d'Histoire eingerichtet (einen Tag vor der Einsetzung des Comité
des Travaux Historiques in Paris). Sie erlangte große Bedeutung unter Godefroid
Kurth und Henri Pirenne, die 1874 in Lüttich und (Pirenne) 1886 in Gent den deutschen Seminarunterricht einführten, der
1890 staatlich anerkannt wurde und auch hier enorme Wirkung zeitigte.
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Die Mediävistik spielte in den Niederlanden eine untergeordnete
Rolle, da man sich dort mehr auf das Goldene Jahrhundert konzentrierte.
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In England, wo man über die größten
geschlossenen Archivbestände unter staatlicher Obhut verfügte, fehlte es über die
Romantik hinaus (Walter
Scott) an politischen Motiven zur Auseinandersetzung mit dem Mittelalter.
Die Beschäftigung mit diesen Materialien ist praktisch ausschließlich von den
staatlichen Stellen selbst ausgegangen, die Beamte mit den einschlägigen Arbeiten
beauftragten und dafür honorierten. So kam es in der ersten Hälfte des 19. Jh zum
Abdruck zahlreicher Archivmaterialien – der Begriff Edition wäre laut Caenegem zu hoch gegriffen –, nämlich durch die von der Regierung
beauftragten und zwischen 1800 und 1831 durch das Unterhaus bestellten Record
Commissioners, die die „Publications of the Record Commissioners“ herausbringen,
62 Werke in 135 Bänden London 1802–1848, 1849, 1875, vielfach handelt es sich auch
nur um die Publikation von Exzerpten, Regesten, auch wurden ältere Werke – wie
etwa Rymers „Foedera“ – neu gedruckt. 1838 wurde ein Gesetz zur Errichtung
des Public Record Office (= PRO), also eines Staatsarchivs beschlossen, das PRO
wurde aber erst 1852 errichtet, womit die Zusammenführung der zahlreichen, oft
sehr schlecht verwahrten staatlichen Archivbestände begann, unter denen massemäßig
am stärksten die Rolls unter der Obhut des Master of the Rolls waren – die
effektive Arbeit führte ein Deputy keeper of the records. In Form von Calendars
wurden nun die Materialien im Druck zugänglich gemacht. Diese Calendars sind den
Rolls entsprechend in verschiedene Serien gegliedert: Calendar of close rolls, of
patent rolls, Calendar of State Papers128,
Curia regis rolls129 etc.
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1869 wurde im Zusammenhang mit dem PRO die Historical Manuscripts
Commission (= HMC) begründet, die die Aufgabe erhielt, die in Privatarchiven
liegenden Materialien (in England mehr als irgendwo anders) durch Druck zugänglich
zu machen; es erschienen 1870–1960 225 Bände, die auch zahlreiche Kataloge und
Inventare von Privatarchiven enthalten – was aber noch nicht besagt, dass diese
Materialien im Original auch zugänglich gemacht werden. Alle Archive,
einschließlich der Privatarchive, werden seit 1945 durch das „National Register of
Archives“, ein eigenes Amt im PRO, koordiniert.
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Ab 1858 begann man in England unter deutschem und dann auch
französischem Einfluss mit der Herausgabe der „Rolls series“ = „Rerum
britannicarum medii aevi scriptores“ = „Chronicals and memorials of Great Britain
and Ireland during the Middle Ages“, 99 Werke in 253 Bänden London 1858–1911. Eine
Unternehmung, die durch den Master of the Rolls (1851–1873) Sir John Romilly gefördert wurde und so zu der irreführenden Bezeichnung „Rolls
series“ kam, ansonsten aber nichts mit dem PRO zu tun hat.
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Als dritter Faktor sind auch in England private gelehrte
Gesellschaften zu erwähnen: vor allem die 1838 begründete Camden Society (später Royal Historical Society), die 1884 eingerichtete
Pipe Roll Society u.a., die ebenfalls Quellenpublikationen meist in speziellen
Bereichen herausgebracht haben.
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In Österreich erwuchs am
Augustiner Chorherrenstift in St. Florian durch Franz
Kurz (1771–1843) und seinen Schüler Josef Chmel (1798–1858) in der ersten Hälfte des 19. Jhs eine sehr wertvolle
historiographische Tradition; hatte Franz
Kurz noch eine strikt an Dynasten orientierte, aber inhaltlich schon
etwa weiter ausgreifende und auf solider Quellengrundlage fußende
Geschichtsdarstellung verfolgt130, so entwickelte Chmel in den 1830er und 1840er Jahren modernere Konzeptionen für eine
Geschichte Österreichs, die er nach der Begründung der Akademie der Wissenschaften
als Obmann der ersten die Arbeit aufnehmenden Kommission – der Historischen
Kommission – mit Hilfe zahlreicher in den einzelnen Ländern wirkender Historiker
zu realisieren begann; nach seinem Tod 1858 verlagerte sich der Schwerpunkt der
Arbeit naturgemäß, der neueren Entwicklung entsprechend, an die Universitäten.
Denn mittlerweile wurde 1854 in engem personellen Zusammenhang mit der
Philosophischen Fakultät der Universität Wien das Institut für österreichische Geschichtsforschung (= IföG) begründet, das
ursprünglich zur Ausformung einer modernen geschichtswissenschaftlichen Forschung
mit dem erklärten Ziel der Erarbeitung einer modernen Geschichte des
Habsburgerstaates geschaffen worden ist, in der Folge aber unter Theodor Sickel immer mehr ein Zentrum der
hilfswissenschaftlichen Forschung und immer stärker in die großen Unternehmungen
wie MGH und Regesta Imperii eingebunden wurde – den Regesta Imperii traten später
die Regesta Habsburgica zur Seite. Den Zielsetzungen von 1854 entsprechend wurde
am IföG ein heute noch bestehender Ausbildungskurs eingerichtet, der primär der
Ausbildung in den Hilfswissenschaften und zum Archivar dient (die Staatsprüfung am
IföG ist Vorbedingung für die Erlangung eines Archivarspostens im Österreichischen
Staatsarchiv und in den meisten Landesarchiven in Österreich); dem zweijährigen
Kurs geht ein Vorbereitungsjahr voran, an dessen Ende eine Aufnahmsprüfung
steht.
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In Italien setzt nach der
Einigung und nach der Einverleibung des Kirchenstaates 1870 eine zentralisierte
Aktivität nach dem Vorbild der MGH ein: Es wurde 1883 das Istituto storico
italiano gegründet, das 1887 mit der Herausgabe der Fonti per la storia d'Italia
beginnt, die gegliedert sind in: scrittori, Leggi, Diplomi, Epistolari e Regesti,
Statuti, Antichit etc. Seit 1900 läuft die Neuherausgabe der Scriptores von Muratori, die seit 1923 – da ja letztlich beide dasselbe betreiben – mit
dem Istituto storico koordiniert wird.
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Im 19. Jh traten auch die Akademien der Wissenschaften in den einzelnen Ländern in verstärktem Maße
in die Forschung ein131 und verstärktes
nationales und staatliches Interesse wird auch von ihnen durch die Förderung von
großen Unternehmungen oder überhaupt die Errichtung und Erhaltung von wichtigen
einschlägigen Institutionen verfolgt. Ab dem Ende des Jahrhunderts beginnen sich
die Akademien in Kartellen und Unionen zusammenzuschließen und große
Unternehmungen gemeinschaftlich zu betreiben. In Wien hat die Historische
Kommission die unter Chmel begonnene Arbeit in der Fortführung und wesentlichen Ausweitung
der „Fontes rerum Austriacarum“ und des begleitenden „Archiv für österreichische
Geschichte" (= AföG) fortgeführt und eine Fülle neuer Unternehmungen vor allem in
den Bereichen der Rechtsgeschichte, der Kunstgeschichte und der Historischen
Geographie neu begonnen; auch die reichen Aktivitäten im philologischen Bereich
sind weitgehend historisch-wissenschaftlicher Natur. Da die Akademiemitglieder
fast durchwegs gleichzeitig Professoren waren und sind und die Forschungsarbeit
meist in den Universitätsinstituten stattfinden, sind die Grenzen zwischen
Universität und Akademie schwer zu ziehen.
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Im 20. Jh wurden die bereits erwähnten Unternehmungen durch
nationale, staatlich finanzierte Forschungsinstitutionen intensiviert (Max-Planck-Institute etc.).
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Im 20. Jh begann sich auch eine Mediävistik in den USA zu
entwickeln, 1925 wurde die Medieval Academy of America gegründet und es erscheinen
Zeitschriften wie Speculum (Boston 1926ff.), Traditio (New York 1939ff.) und
Medievalia et humanistica (Boulder 1943ff.).
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Alle diese hier erwähnten, von nationalen Gesichtspunkten
getragenen Unternehmungen bedeuteten aber auch die Zerlegung der europäischen
Geschichte in nationale Geschichten – alle Archive wurden unter nationalen
Aspekten exzerpiert, auch das Vatikanische Archiv, dessen sukzessive Öffnung ab
1881 geradezu einen Boom konkurrenzierender Forschung samt der Einrichtung
nationaler Historischer Institute in Rom auslöste. Daraus resultierte weiters die
wesentliche Zuwendung zu politisch-verfassungshistorischen Fragestellungen,
während andere Aspekte – Geistesgeschichte etc. – weitgehend unbeachtet blieben,
sodass man manche Dinge heute noch in uralten, völlig unzulänglichen Editionen
nachschlagen muss, die nur aus diesem Grund auch nachgedruckt werden.
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Widerstand gegen die idealistische Geschichtsauffassung und
-schreibung regte sich relativ früh, zumal materialistisch-positivistische
Auffassungen auch in Deutschland Fuß fassten132.
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Als dem Positivismus nahestehend und als eine frühe dem Idealismus
oppositionelle Erscheinung ist der Materialismus zu erwähnen, der im 18. Jh von
Frankreich133 und von England134 aus Einfluß gewann. Der
Materialismus erklärt alle Erscheinungen als Eigenschaften oder Wirkungen von
Stoffen. Allerdings ist nicht mehr die alte dualistische Auffassung der Antike
und des Mittelalters (dass das Seelenleben an einen spezifischen feinen Stoff
gebunden sei, der sich von der Materie der materiellen Welt unterscheide)
bindend, sondern die monistische Auffassung, die das geistige Leben als Ausfluss
stofflicher Vorgänge (also im physiologischen Sinne) erklärt. Folgerichtig hat
der neue Materialismus auch die klassischen Religionsvorstellungen durch den
Glauben an die Vernunft, an die Wissenschaft oder eben auch an den Gang der
Geschichte ersetzt.
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Neben dem ursprünglichen Materialismus entwickelt sich in
Deutschland durch Ludwig Feuerbach (1804–1872) ein starker anthropologischer und im Gefolge vor
allem der Mikroskopiker ein naturwissenschaftlicher Materialismus bis hin zu
Ernst Haeckel (1834—1919) und Wilhelm Ostwald (1853–1932), der die „wissenschaftliche Weltanschauung" des
Monismus begründete. Haeckel gründete 1906 den Monistenbund, der sich als
Freigeist-Bewegung gegen jede christliche Dogmatik wandte (ab 1929 sozialistisch
geprägt, 1933 aufgelöst und 1946 erneuert).
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Durch Karl Marx (1818–1883) – der ein genauer Kenner der französischen
Sozialisten war und von Comte und Feuerbach ausging – und Friedrich Engels wurde in Umkehrung gewissermaßen der Hegel’schen Lehre die Richtung des historischen Materialismus entwickelt (offizielle Lehre dann des
Marxismus), in der der Gang der Geschichte durch wirtschaftliche Kräfte,
Produktionsverhältnisse und Lebensbedürfnisse gesteuert wird – und eben nicht
durch Ideen und ihre Verwirklichung durch Individuen. Wahr und wirklich ist für
Marx nicht der Hegel’sche Weltgeist, sondern der konkrete, lebende, leidende und
durch mancherlei Abhängigkeiten um sein eigenes Wesen und um die Möglichkeit der
Selbstverwirklichung (diese besonders von Herbert Marcuse eingemahnt) gebrachte Mensch. Daraus resultiert in der
11. These über Feuerbach der berühmte Ausspruch: „Die
Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf
an, sie zu verändern“. In „Die Deutsche Ideologie“ (1845/46) heißt es:
„Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, das
Leben bestimmt das Bewusstsein [...] Wir
kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte. Die
Geschichte kann von zwei Seiten aus betrachtet, in die Geschichte der Natur
und die Geschichte der Menschen abgeteilt werden; solange Menschen existieren,
bedingen sich Geschichte der Natur und Geschichte der Menschen gegenseitig.
Die Geschichte der Natur, die sogenannte Naturwissenschaft, geht uns hier
nichts an; auf die Geschichte der Menschen werden wir indes einzugehen haben.
[...]
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Alle Geschichtsschreibung muss von
diesen natürlichen Grundlagen und ihrer Modifikation im Laufe der Geschichte
durch die Aktion der Menschen ausgehen. Man kann die Menschen durch das
Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren
unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden,
sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch
ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre
Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben
selbst. [...]“ – der Mensch ist also
aktiver Gestalter seiner Geschichte – Geschichte kann somit „gemacht“ werden
(schon bei Hegel). Die Produktion bedingt die Gesellschaft, das gesellschaftliche
Sein bestimmt das Bewusstsein135.
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Ziel der Geschichte ist die Darstellung des tätigen Lebensprozesses
als eines empirisch anschaulichen Entwicklungsprozesses. „Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt
also die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der praktischen
Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen.“ Engels hat das später in seiner Schrift "Über den Anteil der Arbeit an
der Menschwerdung des Affen" vereinfacht ausgedrückt: Indem Menschen arbeitend
ihre Umwelt verändern, verändern sie mittelbar sich selbst – der Mensch ist ein
noch nicht festgestelltes (= nicht endgültig geformtes) Tier, das sich selbst
durch seine eigene Tätigkeit ständig weiter wandeln kann (eine Idee, die auch
Nietzsche aufgegriffen hat). Seine Formulierung „Die Phrasen vom Bewusstsein hören auf, wirkliches Wissen muss an
ihre Stelle treten“, wendet sich gegen geschichtsphilosophische
Spekulationen.
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Die Ausformulierung der in der Mitte der 1840er Jahre erstmals
skizzierten Ideen fällt in die Zeit ab 1857.
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Friedrich Nietzsche (1844–1900) übte Kritik an der idealistischen
Geschichtsauffassung mit seinen 1874 erschienen "Unzeitgemäßen Betrachtungen"
und der darin enthaltenen Kritik am Historismus und an einem Übermaß an Geschichte („Von der historischen
Krankheit“), das den Menschen der Illusionen und damit der Motivierung beraube –
nur die stärksten Persönlichkeiten könnten die Geschichte ertragen, die
Schwachen würden durch sie ausgelöscht.
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Trotz aller Gegnerschaft entstand dennoch innerhalb des
Historismus eine wichtige Ausformung wirtschafts- und
sozialgeschichtlicher Geschichtsschreibung, nämlich
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die Ältere Historische Schule
der Nationalökonomie, die in Wilhelm Roscher136 (1817–1894) kulminierte, der die Ansicht vertrat, dass
in der Nationalökonomie die Entwicklungsgesetze der Volkswirtschaft nur in
Zusammenhang mit den anderen Aspekten des Volkslebens (Sprache, Religion,
Kunst, Wissenschaft, Recht und Staat) verstanden werden könnten, weshalb
historische Arbeit unabdingbar notwendig sei; so schrieb er u.a. seinen
„Grundriss zu Vorlesungen über die Staatswirtschaft nach geschichtlicher
Methode“ (1843) und die „Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen
Standpunkte“ (2 Bde, 1861 und 1876), und die
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Jüngere Historische Schule der
Nationalökonomie, die ebenfalls innerhalb des Historismus stand und diesen weiterzuentwickeln bemüht war; sie
wurde von Gustav von Schmoller (1838–1917) begründet, der die klassische
individualistische ökonomische Theorie von Adam
Smith und von Ricardo mit ihrer Konsequenz des Manchestertums ebenso ablehnte wie
den abstrakten Rationalismus der österreichischen Schule (Carl Menger, Eugen Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser – die
„Grenznutzen-Schule“), mit deren Oberhaupt Menger er einen "Methodenstreit" um die richtige Art,
Wirtschaftswissenschaften zu betreiben, ausfocht. Schmoller machte seine Studenten mit Comte und mit Spencer bekannt; er war einer der führenden Kathedersozialisten und
verfocht einen empirischen Induktivismus, was natürlich erforderte, dass
geschichtliche Forschung der Theoriebildung vorausgehen müsse. Schmoller
hat deshalb große Forschungsunternehmungen ins Leben
gerufen (z.B.: Acta
Borussica, Weltwirtschaftliches Archiv 1913) und selbst
historisch gearbeitet
(„Zur Geschichte des deutschen Kleingewerbes im 19. Jh“,
1870; „Preußische
Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte“, 1921).
Eine allgemeingültige
Lösung der sozialen Probleme hielt Schmoller nicht für möglich, er hat deshalb den Internationalismus
des Sozialismus schärfstens abgelehnt und eine spezifisch deutsche Lösung
gesucht.
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Da aber auch hier die Autonomie des Politischen betont und die
ökonomischen Faktoren als Elemente der nationalen Politik des Staates verstanden
wurden, erfolgte nicht jene Ausweitung, wie sie in Frankreich vollzogen wurde,
sondern man gelangte von der Wirtschaftsgeschichte zu einer intensiven
Beschäftigung mit der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, also wieder zurück
zum dominierenden System. Der einzige, der ernsthaft aus dem System ausbrach,
war Karl Lamprecht – die Folgen waren enorm.
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Zu Ende des 19. Jhs formierte sich auch in Frankreich
(das diesbezüglich ja unter starkem deutschen Einfluß stand) und insbesondere in
den USA Kritik am Historismus, am Ungenügen der individualisierenden politischen
Ereignisgeschichtsschreibung. In den USA sammelte sich eine Gruppe von
Historikern, die „new historians“ genannt
wurde, um Frederick Turner, James
Robinson und Charles
Beard, die entscheidende Impulse zur Offenheit und Vielfalt
hinsichtlich der Methoden vermittelte. Auch innerhalb Deutschlands griff – nicht
zuletzt als eine Folge der historischen Schulen der Nationalökonomie, der
besonderen Massierung positivistischer Ideenträger an der Universität Leipzig
und der Entwicklung der Soziologie – die Kritik am Historismus gegen die
Jahrhundertwende hin um sich. Karl Lamprecht, dann Kurt Breysig und die ersten Vorläufer der Annales, Henri Berr und Emile Durkheim, die ebenfalls eine vergleichende Sozial- und
Geistesgeschichte forderten und gleichzeitig die Objektivität der deutschen
wissenschaftlichen historischen Schule anfochten, traten auf. Die idealistische
Geschichtsauffassung begann mehr und mehr durch naturalistische und biologische
Auffassungen überlagert zu werden.
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Unter dem Druck der Kritik kam es in Deutschland auch zu einer –
damals von den Historikern allerdings nicht wirklich wahrgenommenen –
Differenzierung innerhalb der Philosophie: Windelband glaubte strikt an eine objektive historische Realität;
Dilthey, Rickert, Hintze, und auch Berr vertraten diese Ansicht – dass sich die Vergangenheit als etwas
objektiv Gegebenes dem Historiker darbiete – nicht mehr. Max
Weber führte den Begriff „Erklärung“ ein und die „idealtypische Konstruktion“, die ein Ideal
aufrichtete und die Abweichung der „Wirklichkeit“ vom Idealtypus konstatierte
und damit „Präzision“ ermöglichen sollte. Eklatantestes Ereignis in diesem
Zusammenhang war der Streit um Karl Lamprecht.
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Besondere Bedeutung kam einmal mehr der Entwicklung in
Deutschland zu – nicht, dass es in Deutschland zur Ausbildung einer
revolutionären neuen Schule gekommen wäre – im Gegenteil. Der berühmte
"Methodenstreit", in dem die konventionell konservativen idealistischen
Historiker den Neuerer Karl Lamprecht „niedermachten“, führte durch die „Hinrichtung“ Lamprechts im Zusammenwirken mit den Folgen der Friedensverträge und
der durch diese ausgelösten Kriegsschuldfrage dazu, dass die national-politische
Geschichtsschreibung in Deutschland gefestigt und die Beschäftigung mit der
Sozialgeschichte weiter aufgeschoben wurde in die Zeit nach 1945 – zumal ja 1933
(wie es Otto Hintze ausgedrückt hat) eine Epoche der Helden-, Staats- und
Kriegsgeschichte begann. Lamprechts Auffassung und Widerstand aber haben großen Einfluss
ausgeübt in anderen Ländern, vor allem in Frankreich.
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Aus diesen Gründen ist es notwendig, sich zuerst dem Phänomen
„Lamprecht“ und seinen Folgen in Deutschland zuzuwenden, ehe die im
Weiteren dann immer bedeutender werdende Entwicklung in Frankreich thematisiert
wird. Die Auseinandersetzung um Lamprecht, der sogenannte Methodenstreit der 1890er Jahre, der durch
das Erscheinen von dessen "Deutsche Geschichte" 1891ff. ausgelöst wurde, bildete
die 3. Phase der Auseinandersetzung137:
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Karl Lamprecht (1856–1915) unternahm in den 1890er Jahren den Versuch, wie
er es selbst ausdrückte, „eine einseitige, die
politische Seite der Geschichte ausschließlich oder doch ganz vornehmlich
fassende Geschichtsschreibung durch eine allseitige, dem Ganzen des
geschichtlichen Lebens gerecht werdende Geschichtsauffassung zu ersetzen und
für diese die richtige wissenschaftliche Methode zu finden“.
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Dieser Versuch wurde von der Zunft der idealistisch geprägten
Historiker Deutschlands als Verrat aufgefasst und führte zur Isolierung Lamprechts, zu schweren Angriffen auf ihn und hatte weiters den
praktischen Ausschluss der Wirtschafts- und Sozialgeschichte aus den
Universitäten des deutschsprachigen Raumes bis nach 1945 zur Folge.
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Lamprechts Hauptwerk ist seine "Deutsche Geschichte", die 1891 zu
erscheinen begann und das Ziel hatte, „die
gegenseitige Befruchtung materieller und geistiger Entwicklungsmächte
innerhalb der deutschen Geschichte klarzulegen sowie für die Gesamtentfaltung
der materiellen wie geistigen Kultur einheitliche Grundlagen und
Fortschrittsstufen nachzuweisen“. Bereits in seiner Studienzeit hatte
Lamprecht die Forderung formuliert, den Hauptgehalt der Geschichte des
Mittelalters nicht in der Auseinandersetzung zwischen „geistlicher und weltlicher Gewalten, nicht im Glanze und
Erlöschen der imperatorischen Idee, kurz überhaupt nicht in seiner politischen
Geschichte“ zu sehen. Die deutsche Geschichte untersuchte er als einen
Prozess, der gesetzmäßig verläuft im Sinne einer Folge von Ursache und Wirkung,
wobei ihm die materiellen und sozialen Voraussetzungen von bestimmenderer
Bedeutung waren als das Wirken Einzelner, das in den Hintergrund trat. Damit und
insbesondere in der Behandlung der germanischen Vorzeit stand Lamprecht auf dem Boden des historischen Materialismus, indem er
Recht, Sitte, Religion und die Anfänge eines Staatsverfassung „aus der Produktion und Reproduktion“ des unmittelbaren
Lebens entwickelte. Sehr geschadet hat ihm natürlich die diesbezügliche,
befriedigte Äußerung des Marxisten Franz Mehring, der den "himmelweiten
Unterschied" zwischen Lamprechts Darstellung und der "preußisch-deutschen Geschichtsklitterung" der Zunfthistoriker hervorhob
(hier eine „end- und gliederlose Masse ewiger
Prügeleien, ohne jede historische Perspektive", dort ist „unter dem öden Einerlei mittelalterlichen Mord und
Totschlags [...] das Walten einer
gesetzmäßigen und sehr lehrreichen Entwicklung“ sichtbar).
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Bald sah sich Lamprecht wilden Angriffen, ja einer Hetzjagd im Rahmen
"Methodenstreites" ausgesetzt, der seinen Höhepunkt und ein Ende im Jahre 1898
erreichte, als Georg von Below in der Historischen Zeitschrift Lamprecht „hinrichtete“. Lamprecht selbst hat durch seine – zwangsläufig – vielfach hastige und
flüchtige Arbeitsweise die Grundlage für genüsslich vorgetragene Detailkritik
durch seine Gegner geschaffen. Durch diese Angriffe erst wurde Lamprecht gezwungen, eine wissenschaftstheoretische Untermauerung
seines Vorstellungen und seiner Methode zu erstellen, wofür er aber nicht über
die notwendigen Voraussetzungen verfügte, weshalb er erst im Herbst 1896
erstmals theoretische Studien anstellte. Gleichwohl hat Lamprecht seine Vorgangsweise als die "kulturhistorische Methode" und zugleich als "die erste wirklich wissenschaftliche Methode der Historie"
bezeichnet, durch die die Geschichte gegenüber der vulgären individualistischen,
künstlerisch deskriptiven Behandlung erst zur Wissenschaft erhoben werde.
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Politisch war Lamprecht wie seine Gegner Below oder Dietrich Schäfer Mitglied des Alldeutschen Verbandes und glühender
Deutschnationaler. In seiner "sozialpsychischen
Geschichtsauffassung" sah er ein wirksames Mittel gegen den "historischen Relativismus".
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Lamprecht wurde von der Zunft gemieden; in der Öffentlichkeit aber
erregte er großes Aufsehen und seine Werke fanden entsprechende Verbreitung;
eine wirksame Verteidigung über seine eigenen Möglichkeiten hinaus wurde durch
den Publizisten Maximilian Harden getragen. Lamprecht suchte sich von der materialistischen Geschichtsauffassung
abzusetzen und widersetzte sich der Einstufung als Vertreter dieser Richtung,
zumal ja auch in weiten Kreisen – und zwar bis lange nach 1945 – die
Sozialgeschichte mit sozialistischer Geschichtsschreibung gleichgesetzt wurde.
Lamprecht rückte deshalb von der Einschätzung der ökonomischen
Gegebenheiten als wesentlicher geschichtsbildender Faktor ab und verlegte sich
auf eine weitgehend psychologisierende Auffassung: „Jedes wirtschaftliche Tun ist psychologisch genauso bedingt wie
irgendein anderes 'geistiges' Tun, jede Summe wirtschaftlicher
Errungenschaften ist genauso Niederschlag seelischer Vorgänge wie irgendein
Gedicht, ein Rechtsbuch, eine staatliche Institution“ (1896). Diese
Wendung setzte ihn nun scharfen Angriffen auch von seiten des historischen
Materialismus aus; Mehring beschuldigte ihn, gegenüber dem Idealismus ein „pater peccavi“ ausgesprochen zu haben.
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Lamprecht hat in der Folge
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eine scharfe Trennung zwischen Weltanschauung und
wissenschaftlicher Methode gefordert, wobei er sich allerdings in seinen
Schriften selbst widersprochen hat
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eine an der exakten Psychologie sich orientierende
kausal-genetische Betrachtungsweise – hier zeigt sich der massive Einfluss
Wilhelm Wundts – angestrebt;
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die Lehre von den Kulturzeitaltern verfolgt – dies weist
den Weg hin zu Spengler.
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Im Weiteren glitt Lamprecht in letztlich nicht haltbare wissenschaftstheoretische und
methodologische Anschauungen hinein und musste sich weitere Widerlegungen
gefallen lassen. In Deutschland hat er keine Schule gebildet. Resonanz fand er
hingegen in Frankreich, vor allem schloss sich Henri Pirenne an ihn an.
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Eine übersichtliche zusammenfassende Darstellung seiner Ansichten
hat Lamprecht in seinem im Mai 1902 verfassten und 1903 in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“ erschienenen und ursprünglich
als Einleitung für den 2. Band seiner Deutschen Geschichte gedachten Aufsatz
„Ueber den Begriff der Geschichte und über historische und psychologische
Gesetze“ gegeben138.
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Die aus der Aufklärungstradition herstammende und weiters
im positivitsischen Umfeld aber auch in der Romantik weiter entwickelte
Vorstellung von einer „Kulturgeschichte“ als einer alle historischen Phänomene
(und nicht nur die der politische Staatengeschichte) umfassenden Darstellung,
wie sie bei Lamprecht vorhanden ist, hat gegen den Ausgang des 19. Jhs hin eine
Vorstellung von Kulturgeschichte erwachsen lassen139, die sich in der Befassung mit Gegenständen des
historischen Alltags, musealen Bestrebungen etc. äußerte, die ihrerseits wieder
hin zur Anthropologie und zur Volkskunde wiesen und auch dort umgesetzt wurden,
während diese Strömung in der Geschichtswissenschaft im engeren Sinne nicht
wirklich aufgegriffen wurde.
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Erfolgreicher als Lamprecht und Breysig (s.w.u) hat Otto Hintze (1861–1940) die beiden unterschiedlichen Strömungen vereint. Er
war ein Schüler Droysens und entstammte damit der preußisch-nationalliberalen
Geschichtsschreibung, deren Einseitigkeit und Verzerrungen er aber sehr früh
kritisierte. Er geriet dann unter den Einfluss Schmollers und vereinte als einziger beide Richtungen und erfuhr die
Hochachtung beider Richtungen. Hintze war vielleicht der wichtigste deutsche Historiker des
beginnenden 20. Jhs und der Zwischenkriegszeit; er studierte in Greifswald und
in Berlin. Er arbeitete anfänglich – unter dem Einfluss von Waitz – auf dem Gebiet der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte,
ging dann aber zu wirtschaftshistorischen Themen über – verknüpfte Verfassungs-
und Sozialgeschichte und behandelte dann die Geschichte des Staatsbegriffes –
„Wesen und Verbreitung des Feudalismus“ (1929), „Typologie der ständischen
Verfassungen des Abendlandes“ (1930), "Weltgeschichtliche Bedingungen der
Repräsentativverfassungen" (1931). Hintze hat es verstanden, die Grenzen der einzelnen Bereiche –
Soziologie, idealistisch-hermeneutische, positivistische Geschichtswissenschaft
– zu erfassen und anzusprechen.
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Neben Lamprecht steht in den Anfängen seines Wirkens Kurt Breysig (1866–1940), der durch empirische Forschung
universalhistorische Entwicklungsgesetze nachzuweisen suchte, die die Menschheit
zu immer höheren Kulturstufen aufsteigen ließen. Breysig wurde von seinen Schülern schwärmerisch verehrt, von den
Fachkollegen aber praktisch totgeschwiegen als der Mann, der die Lamprecht’schen Versuche weiterzuführen sich bemühe, die saubere
historische Methode vernachlässige und in seinen Darstellungen „zwischen nüchternem Positivismus und visionärem Rausche
schwankte“ (so Friedrich Meinecke).
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Breysig kam aus der nationalpolitisch engagierten preußischen
Geschichtsschreibung (er war Schüler Treitschkes und Kosers) und war stark von der Jüngeren Historischen Schule der
Nationalökonomie, also Schmoller, beeinflusst. Er wandte sich der Sozialgeschichte zu und
gelangte über die vergleichende europäische Verfassungs- und Sozialgeschichte zu
einer durch den Positivismus beeinflussten strukturierenden, vergleichenden
Universalgeschichte mit starker Tendenz zur Geschichtstheorie bzw.
Geschichtsphilosophie.
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Breysig hat außerdem neben Georg Simmel die ersten Soziologie-Vorlesungen an der Universität Berlin
gehalten; er war auch der erste deutsche Historiker, für den ein soziologischer
Lehrstuhl eingerichtet wurde. Breysig suchte so – wie auch Hintze – die individualisierende idealistische Schule mit der nach
Generalisierung und Theoriebildung strebenden Jüngeren Historischen Schule der
Nationalökonomie, also die beiden damals wichtigsten
geschichtswissenschaftlichen Richtungen in Deutschland, zu verschmelzen. Für
Breysig war die Wirtschaft eine (aber nicht die) Grundlage der
gesellschaftlichen Entwicklung. Er wandte sich 1896 gegen Lamprechts einseitigen Kollektivismus. Die Frage Treitschkes (Machen Männer die Geschichte oder Zeiten?) beantwortet er
mit: die Männer und die Zeiten.
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1900 begann Breysigs ursprünglich auf 5 Bände berechnete, dann mit 3 Bänden im
13. Jh steckenbleibende „Kulturgeschichte der Neuzeit" zu erscheinen, 1905 kam
als Planskizze einer künftigen Universalgeschichte das Buch "Der Stufenbau und
die Gesetze der Weltgeschichte" heraus, das bekannteste (drei Auflagen),
umstrittenste und am meisten missverstandene Werk Breysigs, dem er Herders Idee von der Einheit des Menschengeschlechtes über die
Verschiedenheiten in Raum und Zeit und Blut hinweg zugrunde legte, womit er zur
Auffassung gelangte, dass die Völker und Rassen des Menschengeschlechts jeweils
eine ähnliche, auf den selben Hauptursachen beruhende Entwicklung in
unterschiedlichem Tempo durchlaufen; Breysig gelangte so in seiner ab 1907 erscheinenden „Geschichte der
Menschheit“ – „Im Namen Herders sei dies Werk begonnen“ –
lange vor Spengler zur kulturmorphologischen Auffassung von sechs
sozialökonomisch bedingten Kulturstufen.
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Breysig war dabei selbst beeinflusst von Bachofens mutterrechtlichen Vorstellungen, Bastians Elementargedanken und vor allem von dem amerikanischen
Ethnosoziologen Morgan. Die „Geschichte der Menschheit“ hat eine sehr negative
Aufnahme erfahren bzw. ist von den Historikern mit Schweigen übergangen worden –
und ist wohl nicht zuletzt deshalb ins Stocken geraten. Zeitlebens hat Breysig zwischen Marx (Kollektivismus) und Nietzsche (Hyperindividualismus) geschwankt. Dass er auch nach 1933
Marx in seiner Bedeutung als Geschichtsdenker weiterhin akzeptiert
hat, ist ihm zum Verhängnis geworden; er lehnte als „radikaler Liberaler“ den
Kollektivismus der Sozialisten, nicht aber den Sozialismus als solchen ab.
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1907 und 1908 hat Breysig auf Historikertagen in Dresden und (internationaler) in Berlin
als zweites Ziel die Ausbildung einer „entwickelnden Geschichtslehre“ verkündet,
die im Unterschied zur bislang nur beschreibenden Leistung der
Geschichtswissenschaft als eine Art Kinematik der Geschichte durch die
Aufdeckung von Gesetzen und Strukturen die ungeheure Fülle des historischen
Stoffes zugänglich machen sollte, und zwar durch einen Stammbaum der Formen der
gesellschaftlichen Ordnung und des geistigen Schaffens, der gleichsam dem
biologischen Stammbaum zur Seite zu stellen wäre. – All dies ist natürlich als
krasser mechanistischer Positivismus im Sinne Comtes und Spencers eingestuft worden, was jedoch zumindest in der späteren Phase
nicht zutraf.
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So wie schon Lamprecht fehlte auch Breysig eine philosophische Schulung, und unter allen Vorwürfen wog
der von Ernst Troeltsch erhobene am schwersten: Dass Breysig nämlich keine Ahnung von den logischen und metaphysischen
Implikationen des von ihm sorglos verwendeten Entwicklungsbegriffes habe
(Determinismus, freier Wille etc.). Erst 1912 hat sich Breysig über Hans Driesch näher mit den daraus resultierenden philosophischen Fragen
beschäftigt; er betrat damit ein Feld, in dem er sich bis zu seinem Tod
hauptsächlich aufgehalten hat. Er weitete in der Folge seine Betrachtung auch
auf die außermenschliche Sphäre aus: „Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte“
(1933, Niels Bohr gewidmet!) und „Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen
zum Geistgeschehen“ (1935). Sein abschließendes Spätwerk handelt vom Sein und
Erkennen geschichtlicher Dinge140. – Breysig hat in diesen Jahren Kontakte mit Max Planck, Walther Nernst, James Franck, Niels Bohr und anderen hochrangigen Naturwissenschaftlern gehabt, vor allem
aber mit Hans Driesch und Jakob von Üxküll. 1934 wurde Breysig, der durch den damaligen Minister Carl Heinrich Becker 1923 in Berlin eine Professur für Universalgeschichte und
Gesellschaftslehre erlangt hatte, in den Ruhestand versetzt, vieles ist erst
nach 1949 (nach der Rückkehr seiner Frau aus dem KZ Theresienstadt) erschienen,
so die vollständige Fassung der „Geschichte der Menschheit“ in fünf Bänden, die
Arnold Toynbee einbegleitet hat.
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Breysig ist als der wesentliche geistige Vater Oswald Spenglers zu sehen.
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Oswald Spengler (1880–1936) setzte die Kulturmorphologie – auf Vico, Herder, Burckhardt, Lamprecht und insbesondere Breysig aufbauend – unter starkem Einfluss von Darwin, Goethe und Nietzsche fort: „Kulturen sind
Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie“. Spengler sieht die einzelnen Kulturen (er zählt deren acht: Ägypten
und Kreta, Babylon, Indien, China, klassisches Altertum, arabisch und
frühchristlich, Mexiko und Abendland ab 900) gleichsam als Individuen, die sich
in Analogie zu menschlichen Individuen entwickeln und völlig gleichberechtigt
neben- und miteinander existieren – keine Kultur nimmt eine bevorzugte Stellung
ein, was eine Überwindung des europäozentrischen Geschichtsbildes darstellt.
Allerdings stehen seine Kulturen praktisch isoliert in der Geschichte und
beeinflussen einander nicht, sondern nehmen für sich allein ihre Entwicklung,
die sich im Dreischritt vollzieht: Blüte – Reife – Verfall. Dieses
Schema ist deterministisch und vollzieht sich unausweichlich:
Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal jeder Kultur. Er diagnostiziert
für das Abendland einen Status knapp vor dem Untergang, Erlöschen der
schöpferischen Kraft, Fin de siècle Stimmung, Kathederphilosophie und
Kunstgewerbe, technizistisches Massendasein, sagte Cäsarismus und
Vernichtungskriege voraus. Spengler gab – trotz seiner zeitweiligen Affinität – auch dem NS-Staat
keine Chance.
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Spengler, der natürlich in vielem dilettantisch war, und dessen Werk
Unrichtigkeiten aufwies, wurde von den Historikern schwerstens angegriffen. Er
entfaltete aber dennoch eine enorme Wirkung und erfährt auch in neuerer Zeit
wieder eine positivere Einschätzung. Seine Vorstellungen haben vor allem
beeinflusst
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Pitirim Aleksandrowitsch Sorokin (1889–1968) in Chicago, und
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Leo Frobenius (1873–1938), der als Professor an der Universität
Frankfurt am Main ausgehend von der Afrikanistik später ebenfalls eine
Kulturkreislehre vertrat.
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Arnold Toynbee (1889–1975), der ursprünglich Byzantinist in
London und ein hochangesehener Fachhistoriker war, dem dann aber ein riesiger
Geschichtsbetrieb unterstellt wurde, sah 21 Kulturen, deren Entwicklung in einem
dynamischen Modell durch "challenge and response" bestimmt wird. Die allgemeine
Kulturmorphologie strengerer, Spengler’scher Observanz lehnte Toynbee aber ab. Sein Hauptwerk ist “A Study of History" (12 Bde);
posthum erschien “Mankind and Mother Earth – A Narrative History Of The World”
(deutsch: Menschheit und Mutter Erde. Die Geschichte der großen
Zivilsationen).
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Der Historismus hat auf den Einwand, wie sich revolutionäre Umbrüche etc.
mit den Grundkriterien "Kontinuität" und "Geschehen aus Freiheit" vereinen ließen,
nicht mehr zu antworten vermocht. Er hat zwar im Lamprecht-Streit noch scheinbar gesiegt und zu Beginn des 20. Jhs seine
Position nach außen hin noch behaupten können, seine eigentliche Kraft aber
bereits eingebüßt, wenn auch die besonderen politischen Verhältnisse in
Deutschland seine Wirksamkeit bis in die zweite Hälfte des 20. Jhs hinein erhalten
haben.
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Die deutsche Geschichtsforschung hat in ihrer praktischen Ausformung
und die Entwicklung der Forschungs-Technik und -Organisation enormen Einfluss
ausgeübt – auch auf Frankreich. Das Modell des Ranke’schen Seminars ist nach Frankreich, in die USA und in andere
Länder übernommen worden. Das Bernheim’sche Lehrbuch (1889 etc.) hat enorme Bedeutung erlangt und ist
praktisch sofort durch die von C. V. Langlois und Charles Seignobos verfasste "Introduction aux études historiques" 1898
nachgeahmt worden.
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Mit dem durch den Historismus hervorgerufenen und in besonderem Maße als bedrückend
empfundenen Problem der Relativierung auch im Bereich der Werte beschäftigte
sich wegweisend Max
Weber (1864–1920), der – bei allem Wissen um die Unmöglichkeit der
Fernhaltung von Wertungen –, forderte, dass die bewusste Wertung der objektiv
ermittelten Tatsachen durch außerwissenschaftliche Bereiche vorgenommen werden
solle: „Wir sind der Meinung, dass es niemals
Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu
ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können. Was folgt aus
diesem Satz? Keineswegs, dass Werturteile deshalb, weil sie in letzter Instanz
auf bestimmten Idealen fußen und daher 'subjektiven' Ursprungs sind, der
wissenschaftlichen Diskussion überhaupt entzogen seien. [...] Die Kritik macht vor Werturteilen nicht Halt. Die
Frage ist vielmehr: Was bedeutet und bezweckt wissenschaftliche Kritik von
Idealen und Werturteilen? Sie erfordert eine etwas eingehendere Betrachtung.
Jede denkende Besinnung auf die letzten Elemente sinnvollen menschlichen
Handelns ist zunächst gebunden an die Kategorien 'Zweck' und 'Mittel', wir
können feststellen welche Mittel zur Erreichung eines Zweckes dienen, dann
weiters welches ihre Folgen neben der Erreichung des beabsichtigten Zweckes in
Gestalt der voraussichtlichen Verletzung anderer Werte sind. Der Mensch ist
also zur ‚Abwägung von Zweck und Folgen des Handelns gegeneinander’, also
zwischen Werten, gezwungen. Diese Abwägung ist nicht mehr eine von der
Wissenschaft, sondern nur vom wollenden Menschen ‚nach seinem eigenen Gewissen
und seiner persönlichen Weltanschauung’ zu erbringende Leistung. ‚Die
Wissenschaft kann ihm zu dem Bewusstsein verhelfen, dass alles Handeln, und
natürlich auch, je nach den Umständen, das Nicht-Handeln, in seinen
Konsequenzen eine Parteinahme zugunsten bestimmter Werte bedeutet, und damit –
was heute so besonders gern verkannt wird – regelmäßig gegen andere. Die Wahl
zu treffen, ist seine Sache. Was wir ihm für diesen Entschluss noch weiter
bieten können ist: Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst. [...] Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu
lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter Umständen – was er
will’. |
Es gibt keine schlechthin
'objektive' wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens [...] oder der 'sozialen Erscheinungen' unabhängig von
speziellen und 'einseitigen' Gesichtspunkten, nach denen sie – ausdrücklich
oder stillschweigend, bewusst oder unbewusst – als Forschungsobjekt ausgewählt
analysiert und darstellend gegliedert werde. Der Grund liegt in der Eigenart
des Erkenntnisziels einer jeden sozialwissenschaftlichen Arbeit.
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Was Gegenstand des historischen
Betrachtungsprozesses wird, ist Ergebnis einer individuellen, von persönlichen
Wertvorstellungen geleiteten Selektion. Daraus folgt nun aber
selbstverständlich nicht, dass auch die kulturwissenschaftliche Forschung nur
Ergebnisse haben könne, die 'subjektiv' in dem Sinne seien, dass sie für den
einen gelten und für den anderen nicht. Mit anderen Worten! Was Gegenstand der
Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit
der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine
Zeit beherrschenden Wertideen; im Wie?, in der Methode der Forschung ist der
leitende 'Gesichtspunkt' zwar [...] für
die Bildung der begrifflichen Hilfsmittel, die er verwendet, bestimmend, in
der Art ihrer Verwendung aber ist der Forscher selbstverständlich hier wie
überall an die Normen unseres Denkens gebunden. Denn wissenschaftliche
Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen. |
Aber allerdings folgt daraus eins!
Die Sinnlosigkeit des selbst die Historiker unseres Faches gelegentlich
beherrschenden Gedankens, dass es das, wenn auch noch so ferne Ziel der
Kulturwissenschaften sein könne, ein geschlossenes System von Begriffen zu
bilden, in dem die Wirklichkeit in einer in irgendeinem Sinne endgültigen
Gliederung zusammengefasst und aus dem heraus sie dann wieder deduziert werden
könnte. Endlos wälzt sich der Strom des unermesslichen Geschehens der Ewigkeit
entgegen. Immer anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die
Menschen bewegen, flüssig bleibt damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets
gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält,
'historisches Individuum' wird"141.
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Ernst Troeltsch (1865–1923), ein bedeutender deutscher evangelischer
Theologe und Geschichtsphilosoph, hat die Krise des Historismus offen angesprochen und ebenso die Krise und Problematik
der aus der Historisierung aller Maßstäbe resultierenden Relativierung und
Unsicherheit. In seinem Werk "Der Historismus und seine Probleme" (2 Bde,
1922–1925) gibt Troeltsch zugleich eine Geschichte des historischen Denkens.
Rückblickend hat sich Friedrich Meinecke142
(1862–1954), ein Schüler auch Diltheys, in den 1930er Jahren in seinem Werk „Die Entstehung des
Historismus“ (1936) noch einmal eingehend mit den Problemen der
idealistisch-hermeneutischen Geschichtsauffassung und des Historismus beschäftigt. Rückblickend gibt der
Religionswissenschaftler Joachim Wach 1933 eine Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh143.
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Die Praxis der universitären, professionellen
Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung hat sich freilich den hier
angeschnittenen und den durch die vehemente Kritik seitens der analytischen
Philosophie immer gravierender werdenden theoretischen Problemen erst weit nach
1945 zu stellen begonnen. Auf Grund der spezifischen politischen Verhältnisse,
der partiell gegebenen weltanschaulichen Affinität und auch wegen der aus diesen
im Wege der Jahre 1933, 1938 und 1945 resultierenden Generationenschichtung hat
bis weit in die Zeit nach 1945 hinein in der Praxis im deutschen Sprachraum die
idealistisch-hermeneutische Geschichtsauffassung klassischer Observanz das Feld
beherrscht. Die Rezipierung anderweitiger Auffassungen – in Frankreich hatte
mittlerweile längst (seit den 1920er Jahren bzw. 1933) die Bewegung der Annales
die Oberhand gewonnen – ist lange als Eingeständnis einer Niederlage aufgefasst
und dem entsprechend verdrängt, um nicht zu sagen verweigert worden. So dauerte
es in Deutschland lange, in Österreich noch länger, bis die Rezipierung der
neueren Auffassungen einschließlich jener Max
Webers wirkungsvoll einsetzte. Im Osten hatte sich die
marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung etabliert, die in manchem den
Annales nahestand und doch auch eine Vielfalt von Ansätzen entwickelt hat, denen
die Anschauung gemeinsam ist, dass es soziale Strukturen von historischem
Charakter gebe, denen man mit Hilfe sowohl des hermeneutischen Ansatzes wie auch
des empirisch-analytischen Ansatzes nachgehen könne.
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Die Entwicklung in Frankreich nimmt ihren Anfang im 18. Jh
– es ist auf den klassischen Positivismus zurückzuverweisen, auf die unerhörte Bedeutung von Montesquieu und Voltaire, von Turgot und Condorcet, auf Saint-Simon, auf Comte, aber auch auf Quetelet (s.w.o.)
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Die Geschichtsauffassung des Positivismus ist durch den Einfluss der mächtigen Entwicklung der
Naturwissenschaften in Verbindung mit der damals herrschenden Ansicht von der
absoluten Erkenntnisgewissheit der Naturwissenschaften wesentlich gestärkt worden.
Als eine wesentliche Stütze für Entwicklungstheorien auch in der Geschichte – etwa
im Sinne von Comtes Dreistadiengesetz oder Breysigs Stufenbau der Weltgeschichte – erwies sich Charles Darwin (1809–1882) mit seinem Werk "Von der Entstehung der Arten" (1859)
bzw. seiner Evolutionstheorie, die als ein naturgegebenes Beispiel erscheinen
musste.
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Die Umsetzungsversuche des Comte’schen Ansatzes durch Henry Thomas Buckle (1821–1862) und durch Hippolyte Taine (1828–1893) machten Comte zwar im deutschen Sprachraum bekannt, hatten aber nicht den
Erfolg, der beabsichtigt war. Von Buckles "History of Civilsation in England" (2 Bde, 1857–1861) erschien
mit den beiden ersten Bänden nur die Einleitung; über Ankündigungen kam Buckle eigentlich nicht hinaus, und die Übersetzung des Werkes in das
Deutsche wurde im Wege der Rezensierung durch Droysen zum Anlass der Ausweitung von dessen Tätigkeit in Richtung
„Historik“. In Frankreich selbst hat vor allem Hippolyte Taine in einer Fülle von Arbeiten („Entstehung des modernen Frankreich“
(6 Bde, 1877–1894), „Geschichte der englischen Literatur“, „Philosophie der Kunst“
etc.) Comtes Ideale zu erfüllen gesucht; Erfolg war ihm trotz als meisterhaft
bewerteter psychologischer Charakteristiken, die freilich mehr Beschreibungen denn
Erklärungen sind, nicht beschieden.
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Als bedeutsam, im deutschen Sprachraum aber große
Aversionen erweckend, erwies sich die von Comte ausgehende sukzessive Etablierung der Soziologie, die durch
Herbert Spencer (1820–1903) mit seinem „System of synthetic philosophy“ (10 Bde,
1862–1896), das in drei Bänden die „Principles of Sociology“ enthält, im engeren
Sinne als die Wissenschaft, die die Struktur-, Funktions- und
Entwicklungszusammenhänge der Gesellschaft untersucht, begründet, in ihrer
modernen Form aber durch Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Max
Weber und Emile Durkheim gefaßt werden sollte.
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In Bezug auf die Geschichtswisenschaft ebenfalls ein Vertreter der
Auffassung, dass diese eine Naturwissenschaft sein müsse, aber gegen den Positivismus
Comtes gewandt, war der englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill (1806–1873), der die Psychologie – sie bezeichnet er als
„Geisteswissenschaft“ („moral sciences“) – als die Grundlage aller Philosophie
verstand.
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Unter dem Einfluss der französischen Revolution, der Entwicklung der
Verfassungsgeschichte in Frankreich, der sozialen Bewegung und des Jahres 1848
entwickelte sich – immer noch an der Aufklärung und den Forderungen Voltaires anknüpfend – in der Mitte des 19. Jhs, vornehmlich aber nach
1848 in Frankreich eine sozialgeschichtliche Richtung, die über die Formalien der
Verfassung hinaus nach der sozialen Differenzierung von Volk und Staat fragt. Ihre
Richtung wiesen Saint-Simon, der die Arbeiterfrage als das soziale Problem heraus
stellte, Alexis de Tocqueville (1805–1859) mit seinem Werk „L'Ancién Régime et la
Révolution“, das freilich nicht über die fränkische Zeit hinaus gediehen ist, und
Numa-Denys Fustel de
Coulanges (1830–1889), für den der Staat nicht Objekt der
sozialgeschichtlichen Betrachtung, sondern Ergebnis einer sozialen Entwicklung ist
– Fustel de
Coulanges verhielt sich hinsichtlich des Urteilens ähnlich wie Ranke, wandte sich aber gegen Romantik und Geschichtsphilosophie.
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Gegen die Jahrhundertwende hin erwuchs in verschiedenen
Ländern Widerstand gegen die Dominanz der historistischen Geschichtsauffassung
und Geschichtsforschung: der Lamprecht-Streit in Deutschland, in Spanien die Auseinandersetzungen
mit der "Generation von 1898", und in den USA formiert sich die "New History".
Auslösend sind die Folgeerscheinungen der industriellen Revolution: die soziale
Frage und die gesellschaftlichen Krisen. Man rief nach einer integrierenden
Kulturgeschichte, nach Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Während in Deutschland
durch den Lamprecht-Streit und unter dem Einfluss der Angriffe des Marxismus auf
die "bürgerliche Geschichtsklitterung" des Historismus die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte auf lange Zeit aus
dem Bereich der etablierten Geschichtsforschung ausgestoßen wurde und unter der
Einwirkung der Friedensverträge von 1919 die diplomatisch-politische
Geschichtsforschung in Deutschland neuerlich auflebte (Kriegsschuldfrage),
begann sich in Frankreich eine Gegenströmung zu entwickeln.
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In Frankreich144 war zwar 1821 die Ecole des
Chartres gegründet worden, doch hatte die strengere quellenkritische Schulung im
Sinne Rankes nicht so recht Fuß fassen können, weshalb man 1868 eine Ecole
Pratique des Hautes Etudes gründete, an der Seminare im Sinne Rankes eingerichtet wurden; damit erfasste die in Deutschland
dominierende Geschichtsauffassung und Geschichtsforschung in einem engeren Sinne
auch Frankreich. Gleichzeitig griff damit aber auch die berufsmäßige Ausbildung
von Historikern über Deutschland hinaus; auch in den USA wurde in den 1870er
Jahren das Doktorat der Philosophie eingeführt, nur England widersetzte sich
diesem Trend noch einige Zeit. Gegen Ende des 19. Jhs werden weltweit Historiker
ausgebildet, "ohne dass viel Zeit für Fragen nach
den Grundlagen der Wissenschaft" verwendet wurde (so vorwurfsvoll Febvre im Jahr 1933), und es begannen Bücher zur Methodenlehre zu
erscheinen wie Bernheims bis weit in das 20. Jh hinein einflussreiche „Lehrbuch der
historischen Methode“ (1889 ff.) und das Vorbild aufgreifend von Charles Victor
Langlois gemeinsam mit Charles Seignobos die „Introduction aux etudes historiques“ (1898), die bis
weit ins 20. Jh hinein verwendet wurden.
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Die philosophisch-theoretische Grundlage dieses Geschichtsbetriebes
beruhte auf einer eher einfachen Synthese von Anschauungen Auguste Comtes, Hippolyte Taines und des Physiologen Claude Bernard (1813–1878), „und wo sie Löcher
und Ungereimtheiten aufwies, war gleich das bequeme Ruhekissen des
Evolutionismus zur Hand“, so Lucien Febvre 1933, der auch gleich das boshafte Diktum Peguys zitiert: "Die Historiker treiben
gewöhnlich Geschichte, ohne über die Grenzen und die Bedingungen der
Geschichte nachzudenken. Gewiss haben sie recht. Es ist besser, wenn jeder
seinem Beruf nachgeht – genauer gesagt, es ist besser, wenn ein Historiker
damit beginnt, Geschichte zu treiben, als erst lang und breit nach ihr zu
suchen. Sonst käme er am Ende wohl nie zu etwas". Insgesamt war auch der
französische Geschichtsbetrieb so stark philologisch beeinflusst, dass Lucien
Febvre, der damals studierte, noch 1933 gegen die Formel „Die Geschichte geht von Texten aus“
revoltierte, ja seine Antrittsvorlesung am College de France darauf aufbaute145.
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Der hermeneutische Verstehensbegriff (in dem die persönliche
Erfahrung die letzte Instanz der Wahrheit ist) war im 19. Jh weltweit und auch
in Frankreich gültig. Durch die Entwicklung in Richtung Annales aber ist dieser
Verstehensbegriff durch einen anderen, analytischen Verstehensbegriff abgelöst
worden: für Comte und seine Nachfolger sind zwar der Gegenstand der Natur und der
Geschichte ebenfalls verschiedene Gegenstände, aber die Logik der Wissenschaft
bleibt dieselbe, ob sie sich mit dem Menschen oder mit der Natur befasst. Der
bedeutendste Interpret dieser positivistischen Wissenschaftstheorie war Emile
Durkheim146 (1858–1917); er hat – unter Mitwirkung von Simiand und Marcel Mauss und
unter Verwendung seiner 1898 neugegründeten Zeitschrift „L’Année [bzw. später]
Annales sociologique“ – jene Erkenntnistheorie geschaffen, auf der Bloch und Febvre (über sie w.u.) später aufbauen. Der wesentliche Unterschied
zwischen der hermeneutischen und der analytischen Auffassung besteht darin, dass
für die Positivisten der Einzelne nur im Zusammenhang einer Gesellschaft zu
verstehen sei und dass diese Gesellschaft sich in konkreten Formen ausdrücke,
die ähnlich wie Naturphänomene auch von außen her betrachtet werden können. Ziel
ist eine Histoire profonde, eine totale Geschichte, die alles und jedes
berücksichtigt, sich aller verfügbaren Quellen und Methoden bediene – die
Auseinandersetzung mit der Geschichte wird als eine integrale Humanwissenschaft
verstanden.
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Bloch akzeptiert zwar, dass es in letzter Instanz das menschliche
Bewusstsein sei, das den Gegenstand der Geschichtswissenschaft ausmacht und dass
es die Geschichte im Gegensatz zur Natur (die keine Intentionalität kennt) mit
Wesen zu tun habe, die fähig sind, bewusst Ziele zu verfolgen, die der
Historiker verstehen muss. Nach Bloch ist es aber nicht das Ziel des Historikers, die Intentionen oder
Bewusstseinsinhalte isolierter Individuen oder kleinerer Gruppen zu verstehen,
sondern soziale Verhaltensweisen, in denen sich soziale Normen widerspiegeln und
damit hat er es – nach Durkheim – mit sozialen Fakten zu tun, die oft direkt (ohne die
Vermittlung von Dokumenten) in institutionellen und materiellen Überresten
beobachten werden können. Deshalb lehnt Bloch und ebenso auch Febvre die Feststellung von Seignobos ab, dass es keine Geschichte ohne Dokumente, d.h. Texte,
gebe.
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So wird das Schwergewicht vom Individuum auf das Kollektiv verlegt.
Bloch weiß aber auch, dass die Wissenschaft nur die Fragen
beantwortet, die gestellt werden. Wissenschaft kommt daher nie ohne Frage,
Auswahl, Analyse und Abstraktion aus – fuga et
electio.
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1900 begründete der französische Literaturhistoriker und Philosoph
Henri Berr die „Revue de Synthèse historique“ und stellte gemeinsam mit dem
Soziologen und Wirtschaftshistoriker Francois Simiand das Programm eines „Humanisme historique“ auf, der den Homme
social als den homme meme bestimmte und massiv gegen die Histoire historisant,
die histoire evenementielle und histoire diplomatique auftrat. – Die neuen
Historikergruppierungen standen politisch weit links.
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Henri Berr (1863–1954) war ein Schüler des Neovitalisten Boutroux. Berr kritisierte den Empirismus (gegen Durkheim betonte er die Rolle subjektiver Faktoren) und den Positivismus gleichermaßen (gegen die Positivisten vertrat er die
Notwendigkeit einer philosophischen Durchdringung der Geschichte) und
propagierte Geschichte als eine neue Wissenschaft vom Menschen, die eine
„synthetische Erkenntnis“, die Erkenntnis von gesetzmäßigen Abläufen auf Grund
der spezifischen „inneren Kausalität“ der Gesellschaft erlauben sollte; diese
innere Kausalität hat Berr der „äußeren Kausalität“ Vicos, also der Natur gegenübergestellt. Er lehnte die Suprematie der
Politik ebenso ab wie eine „Geschichte in Gestalten“; gleichwohl spricht Berr von historischen Individualitäten, die in mancher Hinsicht den
ursprünglichen Individualitäten Humboldts ähneln: Personen, Völker, geographische Bereiche bis hin zur
Mentalität der in einer bestimmten Epoche Lebenden: individualites collectives =
mentalites collectives im Sinne der zeitgenössischen französischen Soziologen
Maurice Halbwachs und Emile Durkheim wie des Anthropologe Marcel Mauss.
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Berr war stark von Durkheim und dessen „Annales sociologiques“ beeinflusst, in denen
Durkheim und Simiand ihre Angriffe auf die vom deutschen Muster beherrschte
Geschichtswissenschaft an den französischen Universitäten führten – „histoire Sorbonniste“. Mit Durkheim stimmte Berr in der Auffassung überein, dass es keine Wissenschaft gebe, die
es nicht mit Allgemeinheiten zu tun hätte; ansonsten hielt er Durkheims Soziologie für geschichtsfremd.
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Das Hauptziel seiner „Revue de Synthèse historique" sah Berr in der
Erörterung einer Theorie der Geschichtswissenschaft, und zwar einer auf die
Empirie hin orientierten Theorie, die er scharf von spekulativer
Geschichtsphilosophie getrennt wissen wollte. Die Historiker, die die Geschichte
als Erforschung des Singulären in seinem Wandel interpretierten, hätten – so
meinte Berr – übersehen, dass ohne Auslesekriterien, die bestimmte
Regelmäßigkeiten in der Geschichte erkennen, Geschichte reines Chaos und
Geschichtswissenschaft unmöglich wäre. Deshalb habe es die
Geschichtswissenschaft wie die Naturwissenschaften mit Ähnlichkeiten,
Wiederholungen und Übereinstimmungen zu tun, wenn auch diese nicht den ganzen
Charakter der Geschichte ausmachten und die Gesetze weder in den
Naturwissenschaften noch in der Geschichtswissenschaft als absolute
Notwendigkeiten zu verstehen seien. Eine Methode des Verstehens, die keinen
Regeln der Logik unterworfen sei, sei in der Geschichtswissenschaft aber ebenso
unzulässig wie in den Naturwissenschaften; beide arbeiten mit Hypothesen.
Analyse und Synthese ließen sich nicht trennen – eine Sammlung von Fakten habe
nicht mehr wissenschaftlichen Wert als eine Briefmarken- oder Muschelsammlung.
Die eigentliche Leistung der Geschichte sei Erklären; in dem Maße, in dem sie erkläre, sei sie auch Wissenschaft;
für das Erklären sei der Vergleich notwendig. Für die Synthese würde es große
Teams von Wissenschaftlern brauchen. Damit waren wesentliche Aspekte der
weiteren Entwicklung angesprochen.
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Francois Simiand (1873–1935) vertrat die Auffassung, dass die Dominanz der
Ereignisgeschichte das Wissenschaftlichwerden der Historie verhindere und dass
diese deshalb zurücktreten bzw. durch die Statistik ersetzt werden sollte, was
die Positivisten bereits seit langem forderten. Er erblickte allein in der
Statistik die Möglichkeit einer objektiven Überprüfbarkeit der Materialien wie
der Erkenntnis. Auf dieser Grundlage beschäftigte sich Simiand eingehend mit der Entwicklung der Preise und Löhne über
längere Zeiträume hinweg, was dann nach 1918 unter dem Aspekt der
Weltwirtschaftsentwicklung von anderen aufgegriffen wurde – es entwickelte sich
die Histoire quantitative oder Histoire serielle, die später (in den 1950er und
1960er Jahren) durch die historische Ökonometrie – in Frankreich eine neue
Histoire quantitative, in den USA durch die New economic history – ersetzt
worden ist. Von Simiand rührt die bis heute anhaltende Überschätzung der
Quantifizierung der Geschichtswissenschaft bei den Franzosen her: Es werden
Daten ausgewählt, ohne dass die Auswahl methodisch begründet wird, die daraus
abgeleiteten Aussagen werden vielfach verallgemeinert und zu monokausalen
Erklärungen herangezogen (z.B. die Erklärung der französischen Revolution 1789
und dann auch anderer Revolutionen aus Preisstürzen heraus). Am stärksten
ausgebildet ist die Tendenz bei Charles Moraz (er war 1970 noch Mitherausgeber der Annales), der geradezu eine
Mythologisierung der Zahl betrieb (analog dazu gab es auch eine Mythologisierung
des Raumes, die u.a. ebenfalls von Moraz‚ betrieben wurde).
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Die neue Zeitschrift sollte die verschiedenen Spezialgebiete
koordinieren und damit helfen, die Geschichte aus dem metaphysischen Stadium in
ein wissenschaftliches Stadium hinüberzuführen, das die Verwirklichung des
Endzieles einer umfassenden historischen Sozialpsychologie ermöglichen sollte.
Von den herrschenden etablierten Historikern wurde die „Revue des Synthèse
historique" praktisch ignoriert, sie stimulierte aber doch jüngere Historiker,
auch im Ausland.
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1920 gründete Berr die Reihe "L'evolution de l'humanitè", in der sowohl Bloch als auch Febvre veröffentlichten und deren Darstellungen die Gesellschaft und
die Kultur ins Zentrum rückten und thematisch anstatt chronologisch gegliedert
sind.
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und das „Centre de Synthèse“; in den „Semaines de Synthèse“
bewirkte Berr die Diskussion seiner Ideen. Dennoch blieben die Bemühungen Berrs weitgehend abstrakt, und die Arbeiten der Mitglieder der Gruppe
blieben meist im Appellatorischen stecken, in der praktischen Arbeit blieb man
weiterhin wesentlich den angegriffenen Traditionen verhaftet.
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Die erste Generation, die sich Berrs und Simiands Vorstellungen zu eigen machte, war jene von Bloch und Febvre – Febvre war seit 1907 und Bloch seit 1912 Mitarbeiter der Berr’schen Revue.
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Die Gruppe der Annales (es wird immer wieder von einer Schule der
Annales gesprochen, was aber von Bloch, Febvre und Braudel abgelehnt wurde, die vielmehr von einem „Esprit“ der Annales sprachen, den Bloch und Febvre 1938 als „einen Geist der
skrupulösen Aufmerksamkeit auf Genauigkeit, der aufgeschlossenen Neugierde für
Ideen, und vor allem des ständigen Bemühens um Zusammenarbeit mit
Arbeitsgenossen“ definierten) wurde 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre gegründet, und zwar als Alternativprogramm zu der stark vom
deutschen Historismus beeinflussten politischen Geschichte der
Sorbonne-Professoren, der „Sorbonnistes“.
Deshalb gründeten die „Praktiker“ Lucien Febvre und Marc Bloch die Zeitschrift "Annales d'histoire
économique et sociale"147. Sie wollten weniger
Theoretisieren, weniger philosophische Spekulation und mehr konkrete historische
Forschung sowie kämpferische Auseinandersetzung. Der Titel der Zeitschrift lehnt
sich an die 1903 von Ludo Moritz Hartmann und Georg von Below gegründete „Vierteljahrschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte“ an.
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Die Schule der Annales hat in der Folge enorm an Bedeutung gewonnen,
wobei ihr auch das französische Bildungswesen sehr entgegenkam – in Frankreich
waren in der Französischen Revolution die Universitäten aufgelöst und erst 1896
wieder eingeführt worden; in der Zwischenzeit hatte sich ein System sehr elitärer
Grand Ecoles, Ecoles normale superieures etc. herausgebildet, von denen einige den
Charakter von Forschungsinstituten annahmen. 1946 wurde an der Ecole Pratique des
Hautes Etudes (an dieser waren 1868 nach Ranke’schem Vorbild Seminare eingerichtet worden) für die Annales die
Sixieme Section gegründet, die zuerst Febvre, dann von 1956 bis 1972 Braudel leitete und die 1975 in eine autonome Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales umgewandelt
wurde, mit dem Recht der Promotion und „Habilitation“. Es entstand auch von 1963
bis 1970 das von Fernand Braudel gegründete Maison des Sciences de
l'Homme. Die Sixieme Section wurde nun zu einem großen und bestens
finanzierten Forschungsapparat ausgebaut, wie man ihn bereits in den 1930er Jahren
erträumt hatte – große Teams arbeiten unter einheitlicher Leitung, es werden
systematisch Archive durchgearbeitet, Quantifizierungen für Markt- und
Konjunkturanalysen in der Vergangenheit vorgenommen. (Derartige Forschungsprozesse
wurden in der immer noch vom deutschen Idealismus geprägten österreichischen
Geschichtsforschung als „Industrialisierung der Geschichte“ bezeichnet.)
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Auch wenn – zwangsläufig – in der Folge hier von einigen wenigen
„großen Männern“ der Annales nur gesprochen wird, so darf nicht übersehen werden,
dass es sich um eine große Gruppe handelt, die auch über institutionell ausgebaute
Fundamente im französischen Hochschul- und Forschungssystem verfügt – dies wird in
den meisten Darstellungen übersehen und vergessen (George Iggers weist eigens auf diesen Fehler vieler Darstellungen hin).
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Febvre und Bloch griffen scharf die „chartistische“ (so benannt nach der Ecole des
Chartes bzw. der besonderen Wertschätzung der Urkunden im Sinne von schriftlichen
Quellen) Geschichtsforschung an, wandten sich gegen die Zunft der Historiker und
suchten ihre Verbündeten in den anderen Sozialwissenschaften, vor allem in der
Soziologie Durkheims, aber auch in der Humangeographie, wie sie Vidal de la
Blaches betrieb.
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Insbesondere wandten sich die Herausgeber der Annales auch gegen die
Aufspaltung und Separierung der Teilbereiche der Geschichtswissenschaft durch die
als gesichert angenommenen, letztlich aber doch fragwürdige Epochengliederung, die
die „tiefe Einheit der Epochen wie der
Evolution“ verdeckten, wie auch speziell von Febvre die Beschränkung auf schriftliche Quellen – Geschichte = Zeit der
Schriftlichkeit, Vorgeschichte = Zeit vor der Schriftlichkeit und damit vor der
„Geschichte“ – striktest abgelehnt und angegriffen wird.
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Es entwickelte sich in der Folge, was immer wieder als die Schule der
Annales angesprochen wurde und wird, aber kein eigentlich geschlossenes Gefüge,
sondern eher eine Ansammlung verschiedener Richtungen und Gruppierungen rund um
die Zeitschrift Annales ist. – Dies sind die Anfänge der neuen Richtung.
Richtungsweisende und einflussreiche Persönlichkeiten in diesem Prozess waren:
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Marc Bloch (1886–1944) war von 1919–1936 Professor in Straßburg, dann an
der Sorbonne, Clermont-Ferrand, Montpellier; er war ein Haupt der französischen
Widerstandsbewegung, wurde 1942 von der Vichy-Regierung abgesetzt und 1944 von
der Gestapo verhaftet und umgebracht.
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1920 erschien Blochs Werk „Rois et serfs“, 1924 "Le rois thaumaturges" (Die
wundertätigen Könige), 1931 die große Untersuchung „Les caracteres originaux de
l'histoire rurale francaise“, in der er die Entwicklung der französischen
Landwirtschaft im Mittelalter mit der anderer europäischer Gebiete verglich,
wobei er nicht nur von verfassungsrechtlichen und politischen Verhältnissen
ausgeht, sondern auch die natürlichen Grundlagen, die Feldparzellierungen, die
Pflugarten und andere Aspekte der Bodenbearbeitung, die Methoden der
Arbeitsteilung etc. mit einbezog und eine re[tro]gressive Methode anwandte,
indem er von der Neuzeit zurück schritt (diese Methode wird auch bei der
Siedlungsgeschichte angewendet). Die 1939/40 veröffentlichte Arbeit "La societ‚
feodale" (2 Bde) ist nur das Fragment einer umfassender geplanten Untersuchung,
in der er das soziale Klima zu rekonstruieren und in Überwindung der
Ereignisgeschichte eine qualifizierende Strukturgeschichte zu erstellen
sucht.
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Bloch war ein eher misstrauisch beobachteter Einzelgänger, auch für
Febvre; er war weder besonders modern, noch besonders konservativ,
unglaublich vielseitig gebildet und hatte nie ernsthaft versucht zu definieren,
was Geschichte sei – Geschichte war für ihn der ewige Wechsel, und die Aufgabe
des Historikers sah er darin, die Hauptfaktoren dieser Veränderungen an
bestimmten Zeiten und bestimmten Orten zu erfassen. Das Ranke-Wort – „zeigen wie es eigentlich
gewesen ist“ – hat er, wie Febvre und die anderen auch, umgewandelt in „zeigen wie es sich
ereignet hat, wie es geworden ist“. Bloch aber bleibt in diesem Bemühen zurückhaltend und striktester,
positiver Wissenschaftlichkeit verpflichtet (und wo diese nicht möglich ist,
eher resignativ) – Febvre hingegen entwickelt aus dieser Position die Rolle des
Historikers als eines Schöpfers.
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Gegenstand der Geschichte ist für
Bloch „die Menschen in ihrer Zeit“
– der Plural ist ihm wichtig, weil der der gefürchteten Abstraktion
entgegenstehen soll, und Bloch lehnt das Individuum als Gegenstand scharf ab, mehr als Febvre oder Braudel. Menschen sind ihm Kinder ihrer Zeit, der sie mehr verdanken
als ihren Eltern. „Die Zeit ist das Plasma, in
dem die Phänomene baden, und der Ort ihrer Verständlichkeit“. Der Begriff
„Zeit“ ist bei den Vertretern der Annales sehr wichtig; für Bloch ist Zeit noch ein natürliches Phänomen, außerhalb des Zugriffs,
der Verfügbarkeit des Menschen.
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Aus der Bewunderung der Marx’schen Sozialanalyse heraus gelangte Bloch zu einer stark ökonomisch bestimmten Interpretation sozialer Verhältnisse und Entwicklungen – ohne jedoch
soziales Verhalten nur aus den wirtschaftlichen Verhältnissen herleiten zu
wollen. Er wandte sich gegen jede theoretisch-methodologisch vorbereitete
Auffindung von Determinismen in der Geschichte, weder ökonomisch noch
geographisch. Seine Nachfolger sind da mitunter wesentlich weiter gegangen.
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Bloch ist stark von Durkheim und der Zeitschrift „Annales sociologique“ beeinflusst, wie
er überhaupt an der Grenze zwischen Geschichte und Soziologie steht: „Ich gehöre zu denen, die zwischen diesen beiden
Namen keinen Abgrund sehen“. Wohl von Durkheim hat er die vergleichende Geschichtsbetrachtung als eine
wesentliche Forderung übernommen, die allerdings im ersten Viertel des 20. Jhs
sozusagen in der Luft lag.
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Lucien Febvre (1878–1956) erweist sich als stark von der Humangeographie und
von der Vorstellung der Einheit des menschlichen Lebens in historischer
Perspektive beeinflusst, aber ohne geographischen Determinismus (wie etwa bei
Friedrich Ratzel).
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In seiner 1922 erschienenen Arbeit „La terre et l'evolution humain“
(mit einem Vorwort Berrs) formulierte Febvre seine Anschauungen: „Als
Wissenschaft vom Menschen untersucht die Geschichte in der Zeit wie im Raum
jene Veränderungen, die die verschiedenen Gruppen der Menschen von einander
differenziert haben (und noch immer differenzieren). Da der Mensch ein
lebendiges Ganzes ist, schließt die Geschichtswissenschaft keine der
Funktionsweisen, keine der Ausdrucksformen dieses lebendigen Ganzen aus. In
der Zeit wie im Raum untersucht sie die gleichzeitigen und die sukzessiven
Wandlungen: ob es nun um Politik oder Religion, um militärisches oder
wirtschaftliches Handeln, um die einfachste Technik oder die raffinierteste
Kunst, ob es sich um die bescheidenste Folklore oder die erhabenste
Philosophie handelt“ – um das leisten zu können, bedürfe der Historiker
der Unterstützung der Geographie.
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Bereits in seiner 1912 erschienenen bahnbrechenden Arbeit
„Philippe II et la Franche-Comte“ suchte er ein Beispiel einer
„zusammenhängenden“ Geschichtsschreibung zu geben, die zugleich die materielle
wie die geistige Kultur berücksichtigt und die geographischen wie die
sozio-ökonomischen Bedingungen, den Lebenszusammenhang der vergesellschafteten
Individuen, also auch ihr Verhältnis zur Natur, Bedürfnisse, Ideen, Politik,
Technik, Handel, Religion und Kunst als Totalität zu erfassen sucht. Febvre versucht in dieser Arbeit, das politische Leben einer
politischen Einheit zu schreiben, eine politische Geschichte zu schreiben, die
nicht auf der Ebene der diplomatisch-militärischen Aktionen steckenbleibt; er
versuchte, bis zu den eigentlichen Ursachen der menschlichen Entscheidungen in
den konkreten Realitäten der regionalen Existenz und in den Wandlungen der
Sozialstruktur vorzustoßen – Preisentwicklung, Bevölkerungsstatistik,
Einkommensverteilung etc. werden zur Illustration der wesentlichsten Thesen der
Arbeit herangezogen.
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Auch in der Folgezeit hat Febvre zumeist historische Ensembles – meist des 16. Jhs – untersucht
oder sich mit bedeutenden Persönlichkeiten in ihren Beziehungen zu ihrer Epoche
beschäftigt (Luther, Rabelais, Margarethe von Novara etc.) – diese Individuen
sind zwar Helden seiner Bücher, aber nicht mehr Helden der Geschichte. Febvre versucht auch, die mentalen, sprachlichen und psychologischen
Möglichkeiten der Menschen in ihrer Zeit zu untersuchen: In seinem Buch
„Rabelais et le problème de l'incroyance au XVI siecle“ (Rabelais und das
Problem des Unglaubens im 16. Jh; wird auch zitiert als „Le Probléme de
l'incroyance au XVIéme siécle“ oder „La religion de Rabelais“) zeigt er auf,
dass der christliche Glaube den Menschen dieser Zeit wie Geschlecht oder Stand
mitgegeben ist, dass auch einem unabhängigen Kopf hinsichtlich des Unglaubens
sprachliche Grenzen gezogen waren – es fehlt am notwendigen abstrakten
Vokabular.
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1930 eröffnet Febvre in den Annales eine Rubrik „Sachen
und Wörter“ in der Wirtschaftsgeschichte, um das geistige Rüstzeug
vergangener Epochen zu erfassen, und beschäftigt sich mit der Geschichte von
Wörtern. Dies war keineswegs neu; bereits um die Jahrhundertwende hatte der
Grazer Sprachwissenschaftler Rudolf Meringer ein Programm „Wörter und Sachen“ und 1909 gemeinsam mit
anderen eine gleichnamige Zeitschrift begründet (einer der Anfänge der
wissenschaftlichen Volkskunde); Hugo Schuchardt, ebenfalls an der Universität Graz hat dem Meringer’schen Programm die Auffassung „Sachen und Wörter“
entgegengestellt.
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Febvre vertritt einen kulturellen Relativismus und nimmt in vielem
Konzepte Foucaults vorweg. Iggers hat Febvre aber zu recht vorgeworfen, dass in seinen
Darstellungen – in seiner totalen Geschichte – die unteren sozialen Schichten
völlig fehlen. Ähnlich wie Bloch hat auch Febvre keine ausgeprägte Geschichtstheorie oder Methodenlehre
vertreten: „Jeder Historiker, würdig dieses
Namens, schafft sich seine Methode selbst, auf der Baustelle, am Gegenstand
selbst, der die Methode bestimmt.“
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Febvre wurde 1933 zum Professor für „Geschichte der neuzeitlichen
Zivilisation“ am College de France ernannt, welche Lehrstuhlbeschreibung Febvre selbst als „für Allgemeine Geschichte und angewandte
historische Methode der Neuzeit“ interpretierte. Febvre hielt eine berühmt gewordene Antrittsvorlesung unter dem Titel
„Ein Historiker prüft sein Gewissen“148, in
der er gegen die bis dahin übliche Bewertung der Ereignisse und Tatsachen
auftrat: „Eine Tatsache konstatieren heißt
[sie] konstruieren. [...] Hat etwa der Histologe, der das Auge an das Okular
seines Mikroskops legt, einen direkten Zugriff auf die facta bruta? Das
wesentliche seiner Arbeit besteht doch darin, die Objekte seiner Beobachtung
sozusagen zu erzeugen, manchmal mit erheblichem technischen Aufwand, und erst
dann, wenn die Objekte 'stehen', seine Schnitte und Präparate zu 'lesen'. Eine
äußerst verzwickte Aufgabe; beschreiben, was man sieht, geht ja noch an;
sehen, was man beschreiben muss, da liegt die Schwierigkeit. Der Historiker trifft keine Wahl zwischen den
Tatsachen. Mit welchem Recht, kraft welchen Prinzips sollte er wählen? Beim
Wählen hört die Wissenschaft auf [...]
Aber jede Geschichte ist Wahl“ (Febvre) – „omnis historia consistit in
fuga et electione“ (Otto
von Freising).
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In schärferer Fassung – und vor allem dann später durch Moraz – wird das Faktum als eine historische Größe zu einer Fiktion
erklärt, die lediglich die Einsicht in die tausend Ursachen, die jeden
geschichtlichen Augenblick bedingen, und in die Tendenzen, die ihn durchqueren,
behindere.
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Febvre hat die Mitte des 20. Jhs als eine große Wende gesehen, eine
Krise des Geistes, die durch die grundlegenden Veränderungen in der Physik
ausgelöst worden sei (er schrieb 1955 einen Aufsatz über Einstein und die Geschichte), durch die täglich fundamentale Ideen
ihren Wert verlören. Das Individuum ist ihm nur als Singular collectif denkbar. Den Historiker sieht er als
Schöpfer der Geschichte: Der Historiker habe sich ganz und gar in das Leben zu
stürzen „mit dem Gefühl, dass er – indem er sich da hineinstürzt, sich darin badet,
sich darin mit gegenwärtiger Menschlichkeit durchtränkt – seine Forscherkräfte, seine Fähigkeiten, die
Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, verzehnfacht. Einer Vergangenheit,
die den geheimen Sinn der menschlichen Geschicke enthält und ihn
wiederherstellt“ – es sind dies Vorstellungen, die uneingestandenermaßen
erstaunlich nahe beim Verstehen angesiedelt sind! Analog zum tätig die Welt
verändernden Homo faber schaffe, so Febvre, der Historiker als sein Bundesgenosse die diesem Tun
entsprechende Geschichte und fügt dieser als eine Art Rechenschaftslegung das
notwendige Bewusstsein hinzu.
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Die Annales bemühen sich um methodische Innovation und um die
Erschließung neuer Gegenstandsbereiche der Geschichte, die für sie von der
Prähistorie bis zur neuesten Zeitgeschichte reicht – die Berührung mit der
Gegenwart bewahre den Historiker davor, zum Antiquar zu verkommen.
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Von den arrivierten, klassischen Zunfthistorikern wurde auch diese
neue Zeitschrift abgelehnt – eine Ausnahme war der belgische Historiker Henri
Pirenne, der die Annales von Beginn an unterstützt hat. Unterstützung
kam aber vor allem aus den Reihen der Soziologen, der Geographen und von
jüngeren Historikern. Früh erschienen in den Annales auch Beiträge ausländischer
Autoren.
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Das Jahr 1940, die französische Niederlage, bedeutete eine echte
Zäsur. Beide – Bloch fällt 1944 der Gestapo zum Opfer – betrachteten die Niederlage
Frankreichs als eine Folge des geistigen und moralischen Versagens, das zuerst
und zuletzt zu Lasten von Erziehung und Wissenschaft gegangen sei und nur durch
grundlegende Veränderungen in diesem Bereich überwunden werden könne. So wird
das Jahr 1945 ein "Punkt Null" auch für die Annales.
|
In der Folge tritt einiges an humanitärem Pathos hinzu. Der Mensch
wird nun in tieferer Weise als zuvor als Mittelpunkt einer Geschichte gesehen,
die als Kulturgeschichte die Einheit einer Zivilisation umfasst und als
Weltgeschichte die "Verdauung der einen Zivilisation durch die andere ist" – nur
diese eine Geschichte ist den Herausgebern der Annales denkbar, "denn das Leben
ist eine Einheit", und deshalb gibt es nach Febvre auch nicht eine Sozialgeschichte und eine
Wirtschaftsgeschichte, sondern nur eine Geschichte in ihrer Einheit – und diese
ist per definitionem sozial. Der relativ starke Dogmatismus bleibt und trägt zur
Verwirrung in theoretischer Hinsicht bei.
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Ab den 1940er Jahren tauchen Begriff wie "Histoire structurelle",
„Histoire structurale“ oder „Histoire des structures“ vereinzelt auf, dann nimmt
der Gebrauch dieser Begriffe explosionsartig zu, allerdings gegen die Willen
Febvres. Der Mann, der diese neue Richtung ausgeformt und lange
geprägt hat, war Fernand Braudel, der erste Vollender nach den „Propheten“ Bloch und Febvre.
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Auch organisatorisch ergaben sich nach 1945 einige
Veränderungen:
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1946–1994 erschienen die Annales unter dem Titel „Annales:
Economies – Sociétés – Civilisations“, ab 1994: „Annales. Histoire. Sciences
sociales“. 1947 wird die Sixième Section für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
an der Ecole Pratique des Hautes Etudes eingerichtet, und damit erhalten die
Annales auch eine institutionelle Absicherung. Erster Präsident der Sixieme
Section war Febvre, nach seinem Tod 1956 folgte ihm Braudel bis 1972, der auch von 1957 bis 1968 alleiniger Herausgeber
der Annales ist. Die Sixième Section wird später unter der Bezeichnung Ecole des
Hautes Etudes en Science Sociales unabhängig. Ihr gehören zahlreiche Historiker,
aber auch zahlreiche Gelehrte anderer Disziplinen an – Soziologen,
Anthropologen, Psychologen und Ökonomen und sie wird zum Zentrum der
Geschichtsforschung in Frankreich.
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Sie eröffnet neben den von der Bloch-Gesellschaft herausgegebenen „Cahiers des Annales“ eine Reihe
von Buchreihen: Ports, routes, trafics. Les hommes et la terre. Monnaies, prix,
conjoncture. Demographie et societé. Affaires et gens d'affaire.
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Inhaltlich ist die weitere Entwicklung gekennzeichnet
durch Fernand Braudel (1902–1985). Er wurde 1950 Febvres Nachfolger am College de France, nachdem er zuvor in Algerien,
dann 1935–1937 gemeinsam mit Claude Levi-Strauss u.a. an der Universität Sao Paulo in Brasilien gelehrt
hatte.
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Für ihn ist „Geschichte
[...] die Summe aller möglichen
Geschichten – eine Sammlung von Fächern und Gesichtspunkten von gestern, heute
und morgen. Der einzige Irrtum wäre meines Erachtens, eine dieser Geschichten
unter Ausschluss der anderen zu wählen". 1949 erschien Braudels monumentales Buch über das Mittelmeer: „La Méditerranée et le
Monde méditerranéen […] l'époque de Philippe II“, das von Febvre zum Meisterwerk der „neuen“ Geschichte erklärt wurde und aus
dem gewissermaßen die fundamentalen Anschauungen abgeleitet wurden (Braudel hatte den ersten Entwurf in deutscher Kriegsgefangenschaft
geschrieben). Die Arbeit besteht aus drei Teilen:
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1) |
"La part du milieu": Meer, Küsten, Inseln, Berge, Ebenen,
Klima, physikalische Einheit des Mittelmeers = die quasi unbewegliche
Geschichte, "beinahe außerhalb der Zeit" = Geohistoire
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2) |
"Destins colletifs et mouvements d'ensemble": Ökonomie des
Mittelmeerraumes im 16. Jh, Edelmetalle und ihre Preise, Bevölkerungsdichte,
Handel, Transportmöglichkeiten, Reiche, Gesellschaften, Kulturen, Formen der
Kriegsführung zur Zeit Philipps II. = Sozialgeschichte der gesellschaftlichen
Gruppen
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3) |
"Les événements, la politique, et les hommes":
Ereignisgeschichte, die der "Bewegtheit an der Oberfläche" folgt =
Ereignisgeschichte des Kampfes zwischen Spaniern und Türken um die Oberhoheit
im Mittelmeer 1551–1598.
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Aus dieser Konzeption wurde abgeleitet die mittlerweile
vielzitierte und auch nachgeahmte strukturelle Gliederung:
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1) |
Strukturen von „langer
Dauer“ (longúe durée) ("histoire
quasi-immobile") – „Unter Struktur
verstehen die Beobachter des Sozialen ein Ordnungsgefüge, einen
Zusammenhang, hinreichend feste Beziehungen zwischen Realität und sozialen
Kollektivkräften. Für uns Historiker ist eine Struktur zweifellos ein
Zusammenspiel, ein Gefüge, aber mehr noch eine Realität, die von der Zeit
wenig abgenutzt und sehr lange fortbewegt wird. Manche langlebigen
Strukturen werden zu stabilen Elementen einer unendlichen Kette von
Generationen: Sie blockieren die Geschichte, stören – und bestimmen also – ihren
Ablauf. Andere zerfallen wesentlich schneller. Aber alle sind gleichzeitig
Stützen und Hindernisse [...] Auch
Denkverfassungen sind Gefängnisse der langen Zeitabläufe." – Als augenscheinlichstes Beispiel führt er
das Klima und seine Konsequenzen an. 1966, in der zweiten Auflage, hat Braudel
allerdings herausgestrichen, dass es nicht geographische oder klimatische
Faktoren sind, die die Geschichte bestimmen, sondern dass es die Menschen
sind, die dem geographischen Raum ihren Charakter aufdrücken.
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2) |
Konjunkturen und Zeiten
mittlerer Reichweite ("histoire lentement rhythmée") = Geschichte der
Kollektivschicksale und Gemeinschaftsbewegungen, die Struktur- und
Sozialgeschichte mit der Pluralität der Zeit ihrer Strukturen und sozialen
Bewegungen; sie handelt von Wirtschaftsräumen, Staaten, Gesellschaften,
Zivilisationen, Kriegen.
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3) |
Ereignisse und „kurze“
Dauer ("courte durée"), diese Ebene zeigt die Oberfläche des
historischen Lebens: Geschichte der Politik, der Ereignisse, der Gegenstände
der traditionellen Geschichte in der Dimension des Individuums – in seiner
Geschichte des Mittelmeers fühlte sich Braudel, wie er selbst angibt, durch die Individuen Juan
d'Austria und Papst Pius V., die gleichsam die Schicksalslinien
ihrer Zeit zu durchbrechen verstanden, in Versuchung geführt. Die „dürftige Freiheit“ dieser „grandes hommes“ sieht Braudel aber bedingt durch tausende Kollektivkräfte. Das Ereignis,
so Braudel, „ist
eine Explosion, eine
schallende
Neuigkeit (wie man im 16. Jh sagte); sein täuschender Rauch
erfüllt das
Bewusstsein der Zeitgenossen, aber es hält nicht lange vor, kaum
sieht man seine
Flamme [...] Ein
Ereignis kann zur
Not auch eine Reihe von Bedeutungen und Zusammenhängen
umfassen. Es zeugt
manchmal von sehr tiefen Bewegungen, und durch das mehr
oder minder
künstliche Spiel der 'Ursachen' und 'Folgen', das den
Historikern von
gestern so lieb war, nimmt das Ereignis einen Zeitablauf in
Anspruch, der viel
größer ist als seine eigene Dauer. Ausdehnbar bis zum
Unendlichen,
knüpft es, freiwillig oder nicht, an eine ganze Kette von
Ereignissen, an
zugrundeliegende Realitäten an. Und es scheint infolgedessen
unmöglich zu sein,
die einen von den anderen zu trennen. Mit Hilfe dieses
Spiels von
Aneinanderreihungen konnte Benedetto Croce behaupten, dass in jedem Ereignis sich die
gesamte Geschichte, der gesamte Mensch verkörpere und sich darin nach
Belieben wiederentdecken lasse [...]
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Nun sagen wir deutlicher
statt Ereignis: kurzer Zeitablauf [= courte durée], nach Maßgabe der Individuen, des täglichen Lebens, unserer
Illusionen, unserer schnellen Bewusstwerdung – es betrifft besonders die Zeit des Chronisten, des
Journalisten [...]
Auf den ersten Blick
ist die
Vergangenheit diese Masse geringfügiger Fakten, die einen auffällig,
die anderen
unauffällig und unbegrenzt wiederkehrend, eben die, aus denen
die
Mikrosoziologie oder die Soziometrie in der Gegenwart täglich ihre
Ausbeute ziehen
(Es gibt auch eine Mikrogeschichte). Aber diese Masse macht
nicht die ganze
Realität aus, die ganze Dichte der Geschichte, auf welche
wissenschaftliche
Betrachtung sich bequem richten kann. Die
Sozialwissenschaft
hat Angst vor dem Ereignis. Nicht ohne Grund: Der kurze
Zeitablauf ist der
eigenwilligste, der täuschendste der
Zeitabläufe.“
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Braudel hat dieses Schema in seinem Aufsatz „Geschichte und
Sozialwissenschaften“ näher erläutert. Er behandelt einerseits die Geschichte,
die vom Menschen gemacht wird, und andererseits die von ihm bevorzugte
„eigentliche, tiefe“ Geschichte, die gleichsam vom Menschen unabhängig sich
vollzieht. Braudel depersonifiziert die Helden und Akteure der klassischen
Geschichte und unterliegt dabei freilich einer gewissen Tendenz zur
Mythologisierung und der Personifizierung von Städten, Landschaften, ja von
ganzen Epochen, es kommt zu einer Ontologisierung der Natur.
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Viele Ankündigungen werden allerdings nicht eingelöst – so die
stets beschworene Verbindung zur Gegenwart. Dementsprechend hat Braudels Geschichte des Mittelmeers um 1580 bei aller Originalität
auch herbe Kritik erfahren.
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Braudel unterscheidet sich bald deutlich von Bloch und Febvre. Seine Entwicklung ist durch die Zusammenarbeit mit dem
führenden französischen Soziologen Georges Gurvitch geprägt, der der von Bergson übernommenen Vorstellung der durée entsprechend die Vorstellung von den „verschiedenen Graden der menschlichen Freiheit“
entwickelte.
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Nach 1950 vollzog sich der Übergang zur eigentlichen
Strukturgeschichte, wobei Strukturen als von der menschlichen Tätigkeit relativ
unabhängige Quantitäten aufgefasst werden, Einfluss der Natur des Klimas, des
geographischen Raumes, man wendet sich den langfristigen Entwicklungen zu, die
von Braudel, der die politische Geschichte als irrelevant ablehnt, als das
einzig interessante akzeptiert werden. Untersuchungen der materiellen und
biologischen Grundlagen der breiten Massen, Nahrung, Kleidung, Mode, Gesundheit,
Produktionsmittel und Klassenunterschiede. 1959 erscheint das unter der Leitung
von Pierre Chaunu erarbeitete zehnbändige Werk „Sevilla und der Atlantik
1550–1650“ mit genauer Auswertung alles Geschäftstransaktionen der spanischen
Atlantikflotte.
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In den 1960er Jahren werden intensive demographische Studien unter
Auswertung der Matrikeln, Steuerregister etc. gestartet, die von der 1964
gegründeten Cambridge Group for the History of Population and Social Structure
unterstützt werden, die engen Kontakt mit der Sixième Section hält. Diese
Studien führen hin zur totalen Geschichte einer Landschaft.
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Structure ist für Braudel „eine Wirklichkeit, die die
Zeit schlecht abnutzt und sehr weit befördert“, bevor sie sie wieder
fallen lässt. Structure ist die
geschichtliche Verkörperung der durée in
ihren verschiedenen Ausformungen. Philippe Aries setzt später das Wort „Struktur“ mit Milieu gleich: „Ein und dieselbe Struktur hat sich nie wiederholt
und wird sich nie wiederholen“.
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Bei Braudel werden die Strukturen zu jenen langfristigen Prozessen, die
allein in der Geschichte entscheidend seien – Braudel hat natürlich für alle Geschichtsbereiche derartige
langfristige Lebens- und Wachstumsrhythmen angenommen – für die Wissenschaft,
die Technik, für politische Institutionen etc. Die Strukturen werden die
„Gehäuse der longue durée“, in denen die Menschen wie Gefangene festsitzen. „Nieder mit den Ereignissen, vor allem mit den
quälenden und beunruhigenden. Ich musste [in der deutschen
Kriegsgefangenschaft] daran glauben, dass das
Schicksal, dass die Geschichte sich auf einer viel tieferen Ebene schriebe.
Eine Langzeit-Skala der Beobachtung zu wählen hieß, die Position Gottvaters
selbst als Zufluchtstätte zu wählen. Fern von uns und unserem täglichen Elend
wird die Geschichte gemacht, eine Geschichte, die sich nur langsam
vorwärtsbewegt, so langsam wie das uralte Leben des Mittelmeers, dessen
Dauerhaftigkeit und majestätische Unbeweglichkeit mich so oft ergriffen
hatten“.
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Braudels Strukturgeschichte ist jedoch noch nicht dem Strukturalismus
gleichzusetzen.
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Der Annales-Historiker Francois Furet (1927–1997) hat die „strukturalistische Theoriemode“ zu erklären gesucht: „Dieses Frankreich, aus der Geschichte vertrieben, ist umso mehr
bereit, die Geschichte auszutreiben. Es vermag die Welt nun mit einem Blick zu
betrachten, der nicht mehr verhängt ist durch sein eigenes Exempel und seine
zivilisatorische Obsession: ein fast räumlicher Blick, von jetzt an skeptisch
gegenüber den Lehrern und dem Sinn der Geschichte“.
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Die Annales, zumindest Braudel, lehnten den Empirismus ab – „beobachtbare Erscheinungen und offen vorliegende Quellen sind nicht das
Ergebnis einer bestimmten Absicht, sondern eher die fragmentarischen Resultate
eines allem zugrundeliegenden Systems“, das
eben nicht empirisch erkennbar sei.
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Gegen Mitte der 1950er Jahre haben die Annales endgültig
die Oberhand über die traditionell historistische Geschichtsforschung in
Frankreich errungen. Es entstand eine Fülle von bahnbrechenden Arbeiten149.
Ein wesentlicher Faktor in der weiteren Entwicklung und Arbeit der Annales ist
die „equipe“, das Forschungsteam. Es
arbeiten große Gruppen in zentralen "Laboratoires" in Paris, aber auch in anderen Städten (z.B. Lyon), und es
gibt gigantische Beträge für den Computereinsatz größten Stil – wie sonst
nirgendwo auf der Welt. Wertvollste Arbeiten entstanden als zentral geförderte,
bis zu 10bändige Habilitationsschriften („Thèses
de Doctorat d'Etat“).
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Unter Braudel vor allem gab es einen relativ intensiven Austausch mit
marxistischen Historikern, zu denen ja vom Ansatz her eine nicht unerhebliche
Affinität besteht – Braudel: „Der Marxismus ist ein
Ensemble von Modellen. Sartre
protestierte im Namen des Besonderen und des Individuellen gegen die
Starrheit, gegen den Schematismus, die Unzulänglichkeit des Modells. Ich würde
wie er protestieren [...], freilich nicht
gegen das Modell, sondern gegen den Gebrauch, den man davon macht
[...] Marx' Genie, das Geheimnis seiner
fortdauernden Macht, beruht darauf, dass er als erster schlüssige und von
langen historischen Zeitabläufen ausgehende soziale Modelle aufgestellt hat.
Man hat diese Modelle in ihrer Einfachheit erstarren lassen, indem man ihnen
Gesetzeswert zusprach und von vornherein eine automatische, an allen Orten und
in allen Gesellschaften gültige Erklärungskraft zubilligte.“ |
In Moskau wurde 1956 eine Arbeitsgruppe für die Geschichte
Frankreichs mit einer eigenen Zeitschrift gegründet, deren Aufgabe auch „die Pflege freundschaftlicher Beziehungen zu den
ausländischen fortschrittlichen Kollegen“ war. Nach den Besuchen Braudels und anderer Vertreter der Annales in der UdSSR folgte bald
das Erscheinen der wichtigsten Schriften in der Sowjetunion, etwas später dann
in Polen und Ungarn.
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Insgesamt resultiert aus den Annales ein riesiges Gefüge von auf
einander aufbauenden, umfangreichen systematischen Untersuchungen.
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Bereits in den 1930er Jahren rezipierten die Annales die
Arbeiten des französischen Soziologen und Ökonomen Francois Simiand und teilten damit das Interesse an der Statistik. Man übernahm
von Simiand den Begriff der „ökonomischen Phase“ (A-Phase = steigende,
B-Phase = sinkende oder stagnierende Preise), die er mit der gesellschaftlichen
Entwicklung in Zusammenhang brachte.
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Den eigentlichen Durchbruch zur „konjunkturellen Geschichte“
brachte die späte Rezipierung der Arbeiten von Ernest Labrousse, der sich der Sixième Section anschloss und vor allem zur
Geschichte der Preise und Einkommen im 18. Jh gearbeitet und den Einfluss der
Wirtschaftskrise auf den Ausbruch der Französischen Revolution untersucht hatte
– „Esquisse du mouvement des prix et des revenues en France au XVIII siecle“,
Paris 1933. Braudel erklärte dazu: „Eine Bewegung
der Preise oder der Produktivität ist eine wissenschaftliche Wahrheit, eine
besondere Sprache außerhalb unserer unterschwelligen Ideologien. Ich
wiederhole beharrlich, es mag verschiedene Geschichten geben, aber es gibt nur
eine einzige wissenschaftliche Geschichte“. Und andere – wie Furet – erklärten, es könne, wissenschaftlich gesehen, keine
Sozialgeschichte geben, die nicht quantitative Geschichte sei. So kam es zu
einer – durchaus im Gefolge des Positivismus stehenden – Überschätzung der quantitativen Methode.
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Labrousse hat mit seinen Schülern auf dem Historikertag 1955 in Rom
ein großes Programm der quantifizierenden Geschichtsforschung im Bereich der
Sozialgeschichte vorgelegt.
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Pierre Goubert („Beauvais und die Gegend von Beauvais von 1600–1730“, 1960)
begann die Matrikeln und Register ländlicher Pfarrgemeinden zu erschließen und
damit der Regionalgeschichte einen neuen Stellenwert zu verschaffen, untersuchte
die Bedeutung von Familie, Sexualität etc. – dies führte allerdings zu einer
Überbetonung und zur Abschottung des Regionalen gegenüber dem Ganzen, wobei auch
religiöse, politische und institutionelle Konflikte etwas vernachlässigt
wurden.
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Emmanuel Le Roy Ladurie schreibt die
Regionalgeschichte des Languedoc (1966). Geht von einem Malthusischen Modell aus, untersucht Langzeitentwicklung der
Agrarzyklen (15.–18. Jh), Lohnentwicklung, Pauperisierung bestimmter Schichten
und sucht, Bauernrevolten, Proteste etc. zu erklären.
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Die mathematischen Modelle werden in diesen Arbeiten als
Arbeitshypothesen betrachtet und nicht als ein Schema der Geschichte
aufgezwungen. In diesen Arbeiten wird eigentlich Braudels Ideal der Histoire
materielle realisiert, die empirisch und quantitativ biologische,
geographische, klimatische etc. Faktoren miteinbezieht – Ernten, Epidemien,
Ernährung, Kleidung Mode, Produktionsmethoden, Güterverteilung etc.
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Aus diesen Arbeiten resultierte eine starke Bewegung der
„seriellen Geschichte“ = „Kliometrie“ unter massivem, bis dahin ungekanntem
EDV-Einsatz zur Materialaufbereitung. Chaunu hat diese Form der Materialgewinnung als eine unter anderen
bezeichnet, was freilich nicht vor der Überschätzung dieses Bereiches schützte,
wie sie vor allem durch Charles Moraz‚ erfolgte.
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Trotz der frühen Ansätze in Richtung Quantifizierung in den 1930er
Jahren – Earl Hamilton in Cambridge „American Treasure and the price revolution in
Spain 1501-1650“; Francois Simiand, „Le Salaire, l'evolution sociale et la monnaie“ (1932) und
Labrousse – setzten diese erst in den 1950er Jahren ernstlich ein. In
ihren Ergebnissen, erscheint – wie Georges Lefebvre festgestellt hat – der
lebendige, leidende Mensch nicht. Dies änderte sich dann in den 1960er Jahren.
Auf die Spitze getrieben hat die Quantifizierung Charles Moraz, er unterscheidet zwischen den „civilisations prestatistiques (Typ 1)“ und den „civilisations statistiques (Typ 2)“. In Europa habe sich der
Übergang zwischen den beiden zwischen 1750 und 1800 durch die deutschen
Statistiker und die französischen Enzyklopädisten vollzogen – es entstehe ein
neues Bewusstsein, eine neue Auffassung, Orientierung des Menschen in der
Welt.
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Eine andere Richtung, die innerhalb der Annales entstand,
wandte sich der Erforschung der Geschichte der kollektiven Mentalitäten zu. Die
Erforschung dieses Bereiches hat etwa in den 1970er Jahren die Dominanz der
sozial- und wirtschaftsgeschichtlich orientierten Projekte in den Annales
abgelöst bzw. ist an die erste Stelle getreten.150 |
Das Wort stammt aus dem Englischen, im Deutschen taucht es ab 1910
auf, wird 1917 als „eines der vornehmsten
Welschwörter des Geisteslebens“ von Sprachreinigern angegriffen, dann von
Schumpeter, Hitler u.a. verwendet. Im Bereich der
Geschichtsforschung wird das Wort im Deutschen erst etwa ab 1970 verwendet. In
der Folge gibt es dann die ersten Definitionsversuche – es bleibt bei relativ
vagen Umschreibungen, zumal man nicht zu erkennen vermag, wo der eigentliche
Unterschied zur Ideen- und Geistesgeschichte liegen soll.
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Viel früher werden der Begriff und auch das Bemühen um
Mentalitätsgeschichte im Französischen aufgegriffen – schon bei Durkheim; 1923 erscheint von Lucien Lévy-Bruhl eine Untersuchung „La mentalité primitive“. Der erste
Historiker in diesem Bereich war Marc Bloch mit seinem Buch „Le rois thaumaturges“, 1924. Der eigentliche
„Vater“ der Mentalitätsgeschichte ist Lucien Febvre, auf ihn berufen sich dann in der Folge auch alle
Annales-Historiker. Febvre versteht unter Mentalität so etwas wie ein kollektives
Bewusstsein, das „Matériel mental“, über das
die Menschen einer bestimmten Epoche verfügen.
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Georges Duby hat Braudels 3-Stufen-Schema auch auf die Mentalitäten angewendet und
unterscheidet dementsprechend, was natürlich nicht ohne Widerspruch und
Gegensätze bleibt. 1985 schreibt er, dass sich die Historiker nun hüteten, das
Wort Mentalitäten zu verwenden, da es unklar sei151.
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Das Problem ist in Frankreich aber auch außerhalb der Annales
aufgegriffen worden. Ein klassisches Werk – mit mittlerweile sechs Auflagen –
hat der Soziologe Gaston Bouthoul 1952 herausgebracht: „Les mentalités“. Darin stellt er eine
Art Systematik auf, in der die kollektiven Mentalitäten zwischen Doktrinen und
flüchtigen Meinungen stehen: Nationalismus, Anarchismus, Kolonialismus,
Rassismus, Liberalismus, Sozialismus etc. Eine Zuordnung von Mentalitäten zu
bestimmten sozialen Gruppen lehnt er ab.
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Die Mentalitätsgeschichte ist natürlich eng verknüpft mit der
Erforschung des menschlichen Verhaltens und seiner Grundlagen. Eine Annäherung
dazu ist auch in den USA im Zusammenhang mit den neueren Bemühungen um eine
Intellectual History unternommen worden. Mentalitätsgeschichte wird in diesem
Sinne als Bedeutungsgeschichte, Geschichte der Bedeutungen von Verhalten im
weitesten Sinne aufgefasst152.
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Am Rande bzw. außerhalb der Annales entstand der
Strukturalismus, Strukturgeschichte in einem engeren Sinne. Damit wird vor allem
bezeichnet der Strukturalismus von Claude Levi-Strauss ("Das wilde Denken", 1962) – eine strukturale
Anthropologie; Levi-Strauss versucht die Schaffung einer Kommunikationswissenschaft,
die Anthropologie, politische Ökonomie und Linguistik verknüpfen soll und nicht
gleichzusetzen ist mit der strukturalistischen Auffassung im Sinne der Durées
von Braudel.
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In den 1960er Jahren entstand in Frankreich die Richtung
einer Nouvelle Histoire, die nach der
Studentenrevolution von 1968 in die Universitäten eindrang. Sie wandte sich
gegen die „imperialistische Entwürfe der
Wirtschaftsgeschichte“ (Jacques Le
Goff) und markiert den Übergang von der Geschichte materieller
Tatbestände zur Geschichte von Lebenseinstellungen, auch „Mentalitäten“:
Religion, Liebe, Tod, Krankheit, Körperlichkeit, Sexualität etc.
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1978 ist ein eigenes Lexikon über die Nouvelle Histoire erschienen,
das aber auch weiter zurückgriff, also praktisch die Zeit ab 1945 umfasst und
damit eigentlich die Leistung der Annales nach 1945 unter diesem Begriff
zusammenfasst. Dieses Lexikon hat in zwei Jahren zwei Auflagen mit insgesamt
80.000 verkauften Exemplaren erlebt153.
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Den Annales und den Strukturalisten ist in den 1960er und
1970er Jahren deutscherseits ein Defizit an Theorie und Methodenlehre vorgeworfen
worden154. Auch sieht sich die
Richtung der Annales wie auch der Strukturgeschichte seit den 1960er Jahren trotz
ihrer antimetaphysischen Auffassung dem Vorwurf ausgesetzt, eine neue
Geschichtsmetaphysik einzuleiten, die mit einer Reduzierung der Fragestellungen
und Untersuchungsgegenstände zugunsten der bevorzugten Methoden (Quantifizierung
etc.) einhergehe, eine Übersteigerung der Anschauungen, die auch dazu führe, dass
[wissg-072-14::Erklärung]smodelle als objektive Gegebenheiten angenommen würden
etc. Auch verursache das Modell der Long Durée
oder dann der Tres long durée Schwierigkeiten,
wenn man eine relativ stabile Epoche bis etwa 1750 laufen lässt, dann eine
„Sattelzeit“ 1750-1800 einfügt, ehe dann die technisch-industrielle Zivilisation
einsetzt. Auch werde der Ansatz des historischen Humanismus nicht wirklich
realisiert, da die Menschen gleichsam wie Gefangene im Gehäuse der Longue Durée
sitzen.
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Die Kritik an den Annales hebt weiters hervor, dass die
Vernachlässigung der Ereignisebene wie der politischen Faktoren im Sinne einer
totalen Geschichte nicht akzeptabel sei, da sie zwangsläufig zu einer Verzerrung
der Analyse der sozio-ökonomischen Grundlagen führen müsse. So ist es im Verlaufe
der 1970er Jahre wieder zu einer gewissen Rehabilitierung der Ereignisgeschichte
gekommen, die ja nicht gleich eine Aufgabe der konjunkturellen Geschichte
bedeutet. In Frankreich selbst hat der Erfolg der Annales in den 1960er und 1970er
Jahren dazu geführt, dass – wie Georges Duby 1992 selbst beklagt hat – „die
harten Fakten und Daten der Geschichte im Unterricht vernachlässigt wurden. Und
das war eine pädagogische Katastrophe, denn die Schüler kamen auf einmal gar
nicht mehr zurecht. In der Tat braucht es für die Bildung eines
Geschichtsbewusstseins zunächst einmal der Kenntnis des geschichtlichen Ablaufs.
Man kann auf die großen Ereignisse und Figuren nicht verzichten, sondern man
muss die Gesellschafts- Wirtschafts- und Kulturgeschichte daran festmachen. Aus
diesem Grunde finde ich es richtig, dass jetzt wieder eine an punktuellen
Ereignissen orientierte Geschichte gelehrt wird“155.
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Weitere Vorwürfe sind die der „Fetischierung von Sachgesetzlichkeiten“ (Dieter Groh) und des Versuches, die Geschichtswissenschaft zu einer
Naturwissenschaft zu machen, indem nämlich das menschliche Leben durch blinden
Determinismus bestimmt erscheine. Auch der Vorwurf mangelnden Interesses an der
Geschichte und an der Problematik der Industriegesellschaften ist erhoben worden –
tatsächlich befassen sich relativ wenige Arbeiten mit der Zeit nach 1789. Es
erscheint als eine Schwäche, dass eher statische „Aufnahmen“ gemacht werden, wofür
die Zeit vor der „Sattelzeit“ (1750–1800) eben günstiger sei als die Zeit darnach.
Dem hat man seitens der Annales entgegengehalten, dass die den Annales eigenen
Methoden eben besser für die Analyse isolierbarer Sozialprozesse innerhalb relativ
stabiler Gesellschaften geeignet seien.
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Von seiten der Hermeneutiker ist den Annales vorgeworfen worden,
nicht die angekündigte Totalgeschichte geschrieben zu haben – das einzulösen ist
aber wohl schlichtweg unmöglich. Die Annales liefern ebenso Aspekte wie die
Hermeneutiker – nur andere.
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Wenn den Annales Vorwürfe gemacht werden können, dann ist es die
völlige Ablehnung und Ignorierung der politischen Geschichte und wohl auch eine
Überbewertung der Quantifizierung, die oft genug unter Anwendung soziologischer
Vorstellungen des 19. und 20. Jhs für wesentlich früher Zeiten angewendet wird,
was natürlich oft sehr problematisch ist. Zwischen Ereignissen und Strukturen
bleibt eine Kluft bestehen; der Versuch, die Geschichte zu einer Naturwissenschaft
zu machen, birgt in sich die Gefahr des blinden Determinismus, in dem der Mensch
praktisch keine Rolle mehr spielt.
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Dazu kommt die Auswirkung der starken Zentralisierung der
Geschichtsforschung in Frankreich in großen „Laboratoires“ unter zentralistischer
Leitung großer alter Männer, es herrscht nicht die Vielfalt an den Universitäten
wie in Deutschland oder in den USA.
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Insgesamt ist die weitgehend in Reaktion auf die
hermeneutisch-subjektivistische Geschichtsforschung der idealistischen Richtung
des deutschen Historismus entstandene Annales-Bewegung samt ihren begleitenden
Ausformungen wohl die einflussreichste Erscheinung in der Geschichtsforschung des
20. Jhs.
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Die Rezipierung der Annales-Bewegung durch die deutsche
Geschichtswissenschaft bzw. die Zusammenführung der Einflüsse der hermeneutischen
Richtung, der Annales und der analytischen Geschichtsphilosophie haben gegen Ende
des 20. Jhs zu einer neuerlichen Belebung der Geschichtsforschung in einer
außerordentlichen Vielfalt156 der Auffassungen,
Methoden und Meinungen und wohl auch der Moden geführt; die in solchen
Entwicklungen stets auftretenden Extreme sind im Abklingen.
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Das 20. Jh und vor allem die Zeit nach 1945 ist dominiert
durch eine außerordentlich intensive Diskussion um die erkenntnistheoretische
Möglichkeit im Umfeld historischer Forschung. Diese Diskussion hat längst das engere
Feld der historischen Erkenntnistheorie überschritten und auf das Feld
Wissenschaftstheorie übergegriffen, wobei vor allem der analytischen Philosophie und
der Sprachphilosophie hohe Bedeutung zukommt157. Kritisch
wurde und werden unsere Möglichkeiten eines vorurteilslosen und prämissenlosen
Umgangs mit unserer Welt untersucht und diskutiert: Die Wirklichkeit bleibt ohne
Sinn, wenn man sich ihr nicht mittels eines begrifflichen Vorentwurfs, eine
Hypothese nähert; dadurch aber wird bereits ein Bezugsrahmen eingeführt, der alles
weitere beeinflusst. Hempel vertrat 1974 die Ansicht, dass „wissenschaftliche Hypothesen oder Theorien [...] nicht aus beobachteten Tatsachen abgeleitet, sondern in der Absicht
erfunden
werden, sie zu erklären“. Dadurch wurde die Stellung und Bedeutung von
Theorie, Hypothesen und Begriffsbildung in der historischen Analyse und Darstellung
wesentlich gestärkt und ausgebaut. Dies hatte eine grundlegende Verschärfung der
methodologischen und begrifflichen Strenge nicht nur in der Geschichtswissenschaft,
sondern in den Humanwissenschaften überhaupt zur Folge. Es ist klar, dass sich dabei
eine Fülle von verschiedenen Positionen ergeben hat; ein von allen modernen
Richtungen getragener gemeinsamer Nenner besteht lediglich darin, die Möglichkeiten
der Geschichtswissenschaft mit vorsichtiger Zurückhaltung und Relativierung zu
betrachten und Offenheit gegenüber neuen Ansätzen bei Beibehaltung der alten
quasi-handwerklichen Methoden der wissenschaftlich-kritischen Materialüberprüfung zu
wahren.
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Die Fülle der neuen Entwicklungen und Positionen ist unüberschaubar und
von einem Einzelnen nicht mehr erfassbar, da die Bandbreite der theoretischen und
methodologischen Ansätze ungeheuer und rein kenntnismäßig von einem Historiker, der
sich nicht nur darauf spezialisiert, nicht mehr bewältigbar ist. Unter dem Druck der
analytisch-theoretischen Diskussion scheint man verschiedentlich die
Geschichtsforschung als einen gleichsam außer-historischen Prozess zu verstehen und
zu vergessen, dass auch dieser Diskussionsprozess, der Prozess der
Geschichtsforschung selbstverständlich ebenfalls als ein historischer Prozess zu
betrachten ist und dass man gut daran tut, sich auch seiner historischen Entwicklung
und Tiefe hin und wider bewusst zu werden.
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Erstaunlich ist, dass verschiedentlich wieder als aufregend und neu
konstatiert wird, dass die Ergebnisse der Geschichtsforschung bzw. die jeweiligen
Abbilder von Geschichte an bestimmte Zeitalter gebunden und damit kulturbedingt
relativ seien – Theodor
Lessing hat in seinem 1921 erschienen Buch „Geschichte als Sinngebung des
Sinnlosen“ die Geschichte als einen Mythos bezeichnet, Popper und Levi-Strauss haben 1971 und 1975 die Ansicht vertreten, die Geschichte
habe überhaupt kein Objekt und gelte nur für die jeweilige Zeit und Kultur, Partei,
Klasse, Glauben, Nation etc. in der und für die sie geschrieben worden sei – und so
ist es denn wohl auch, und das ist solange tragbar, solange eine Deklarierung
erfolgt.
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Keiner der beschrittenen Wege ist letztlich umsonst begangen worden.
Wenn heute noch der Historismus
angegriffen wird, dann ist das müßig – auch der Historismus und sogar ganz besonders
der Historismus hat Bedeutendes geleistet, aber er ist eben durch das Fortschreiten
der Entwicklung überwunden worden; dieselbe Entwicklung wäre aber ohne den Historismus
nicht denkbar. Wie in allen anderen geistigen Entwicklungen auch, sind stets mehr
oder minder radikale Positionen gegenüber eben überwundenen Vorstellungen erkennbar
– das wird unter steter Berufung auf Thomas S.
Kuhn oft allzu leichtfertig und überschätzend als Paradigmenwechsel
bezeichnet, ist aber wohl eher eine Frage des allgemein menschlichen Verhaltens denn
eine große Besonderheit.
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Interessanterweise ist eher negativ denn positiv abgegrenzt worden, was
Geschichtswissenschaft sei bzw. wie sie vorzugehen habe – indem man nämlich
Übereinstimmung erzielte über das, was sie nicht sein sollte. Eine einheitliche
Sozial- oder Geschichtswissenschaft mit fertig entwickelten Konzepten und Rezepten
gibt es nicht. Geschichtsforschung wird ja auch nicht nur von professionellen
Historikern betrieben, sondern ist auch weiterhin ein Unternehmen freier
Gelehrsamkeit, und es ist ein weites, und letztlich fruchtbares Feld zwischen den
Extremen in dieser Hinsicht.
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Der Ausbau der idealistisch-historistischen Position führte im
deutschen Sprachbereich zur Verfestigung und zum Ausbau dessen, was seither als
Geisteswissenschaften bezeichnet wird. Die Entwicklung ist gut verfolgbar im Wirken
der beiden Zentralfiguren Gustav Droysen, der sich der Opposition gegenüber dem „Materialismus“ bzw. Positivismus
als Historiker annimmt, und dann Wilhelm Dilthey, der sein akademisches Leben lang um die Grundlegung der
Geisteswissenschaften rang.
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Wenn es sich auch nicht so verhält, dass die deutschen Historiker bzw.
Geisteswissenschaftler in lückenloser Geschlossenheit der idealistischen Position
anhingen, so hat diese doch klar das Feld beherrscht und ist durchaus erfolgreich
gegen jene aufgetreten, die es wagten, auch nur in die Nähe positivistischer
Anschauungen zu rücken. Dies bewirkte eine verhängnisvolle Einseitigkeit, die bis in
die zweite Hälfte des 20. Jhs nachwirken sollte, als der Ausgang des Ersten
Weltkrieges eine unerhörte Verhärtung der Position bewirkte, indem die beiden
konkurrierenden Anschauungen nach 1918 politischen Gegnern, ja Feinden zugeordnet
werden konnten, wodurch zumindest auf deutscher Seite die Auseinandersetzung
ideologischen Charakter annahm und Abweichung nachgerade als Verrat eingestuft
wurde.
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Der zentrale Begriff, der auch im 20. Jh im Mittelpunkt der
Diskussion, der Auseinandersetzung stand und um den sich die Gegnerschaft zum Positivismus
zuspitzte, war der des Verstehens im Sinne Droysens, das einerseits sehr bald weithin als die genuin
geisteswissenschaftliche Methode schlechthin akzeptiert worden ist158, das sich aber
andererseits, weil erkenntnistheoretisch nicht hinreichend begründbar, als sehr
problematisch erwiesen hat.
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Die zentrale Stellung in der Diskussion bzw. Grundlegung der
Geisteswissenschaften nahm Wilhelm Dilthey ein, der in zahlreichen Anläufen durch Jahrzehnte versuchte, den von
ihm dauerhaft so benannten Geisteswissenschaften eine gemeinsame philosophische
Grundlage, also eine den Naturwissenschaften vergleichbare methodische Sicherheit zu
geben; angestrebt wurde eine streng objektive Grundlage der Geisteswissenschaften, die
ihren Aussagen Allgemeingültigkeit verschaffen sollten. Er musste jedoch konzedieren,
dass die Geisteswissenschaften nicht von einem absoluten Standort aus betrieben werden
können: „Sie unterwerfen geschichtliche Personen,
Massenbewegungen, Richtungen ihrem Urteil, und dieses ist von ihrer Individualität,
der Nation, der sie angehören, der Zeit, in der sie leben, bedingt. Selbst, wo sie
voraussetzungslos zu verfahren glauben, sind sie von diesem ihrem Gesichtskreis
bestimmt“. Die dadurch bedingte Relativität deutete er in seinem Sinne um: „Das historische Bewusstsein von der Endlichkeit jeder
geschichtlichen Erscheinung jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes,
von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des
Menschen“; denn die Menschen erhielten „durch
geschichtliches Bewusstsein die Möglichkeit, Sinn und Bedeutung“ ihres Lebens und des geschichtlich-gesellschaftlichen
Lebenszusammenhanges, in dem sie stehen, selbst zu setzen. Da es für das historische
Bewusstsein keine absolute Instanz mehr gebe, die dem Menschen sagt, wer er ist, brauche er die Geschichte, um sich selbst zu finden:
„Der Mensch erkennt sich nur in der Geschichte“.
Dilthey postuliert für die Geisteswissenschaft im Gegensatz zum Empirismus
eine eigene Empirie – nämlich nicht auf der Grundlage der Beobachtung, sondern des
Erlebens; um die geschichtliche Welt und das menschliche Leben in ihr in seiner
Reichhaltigkeit und Tiefe zu erfassen, reichten Beobachtung und abstrakter Verstand
nicht aus, dazu bedürfe es des ganzen Menschen „in der
Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen“. Die Wirklichkeit selbst kann in letzter Instanz nicht
logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden. In jeder Realität, die uns als
solche gegeben ist, ist ihrer Natur nach etwas Unaussprechliches,
Unerkennbares“: Indem die Geschichte vom Menschen handelt, habe sie einen, ja
einzigartigen Gegenstand, nämlich den einzigen im Universum, den der Mensch nicht nur
von außen, sondern auch von innen betrachten könne, was ihm einen Zugang im Sinne der
Analogie ermögliche – unter der Grundvoraussetzung der Identität des menschlichen
Handelns (Bernheim). Der Historiker versucht, sich in die Lage der zu beschreibenden
handelnden Person zu versetzen und ihre Handlungen nachzuvollziehen und schließt
daraus auf das Handeln der historischen Person.
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Unter dem Einfluss Husserls hat sich Dilthey von einer psychologischen Grundlegung zu einer hermeneutischen
Fundierung hingewendet und ist damit von der Annahme einer allen Menschen gemeinsamen
Seelenstruktur als Grundlage für das Verstehen übergegangen zur Annahme, dass das
Verstehen durch kulturelle Gemeinsamkeiten im geschichtlich-gesellschaftlichen
Lebenszusammenhang der Menschen ermöglicht würde.
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Dilthey definierte die Geisteswissenschaften als "Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen", als "Wissenschaft der geistigen Welt". Rothacker hat in seiner „Logik und Systematik der Geisteswissenschaften“
1926 diesen Bereich umgrenzt: „Die Wissenschaften,
welche die Ordnung des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung,
Wirtschaft, Technik und die Deutung der Welt in Sprache, Mythus, Kunst, Religion,
Philosophie und Wissenschaft zum Gegenstand haben, nennen wir
Geisteswissenschaften“ – damit sollten sie umfassen: Staats-, Gesellschafts-
und Wirtschaftwissenschaften, Rechts-, Kultur- und Erziehungswissenschaften, Sprach-,
Kunst- und Religionswissenschaften sowie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Wenn
hier die Historie zu fehlen scheint, dann deshalb, weil sie das selbstverständliche
Medium all dessen ist159.
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Dazu ist außerdem noch zu bedenken, dass ein großer Teil dieser
Wissenschaftsbereiche auf unterschiedliche Weise betrieben werden kann. Im Grunde
genommen umfassen die Geisteswissenschaften im allgemeinen Sinne die
Nicht-Naturwissenschaften (Theodor Bodammer).
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Andere unternahmen keine Versuche einer
transzendentalphilosophischen oder wissenschaftstheoretischen Grundlegung der
Geisteswissenschaften mehr, sondern begnügten sich damit, die methodischen
Möglichkeiten der Geschichts- und Sozialwissenschaften zu klären, wie z.B. Georg Simmel
(1858–1918) in seinen Publikationen „Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine
erkenntnistheoretische Studie“ (1892, 1905) und „Vom Wesen des historischen
Verstehens“ (1918), in denen er gegen Rankes
„naiven Realismus“ auftrat und die historische
Erkenntnis nicht als Kopie der Ereignisse, sondern eine geistige Aktivität
charakterisierte, die aus ihrem Stoff „etwas macht, was
er an sich noch nicht ist“; durch Fragestellung gestalte der Historiker den
Stoff, die vom Betrachter herbeigebrachten Gesichtspunkte stiften Sinneinheiten und
ermöglichen eine Geschichte. Simmel
hat im Sinne einer Analyse der aprioristischen Grundlagen (gewissermaßen die
„Konstruktionsbedingungen“) der durch die Historiker geschaffenen Geschichte
festgestellt, dass die Voraussetzungen des täglichen Lebens, die sich in der
Geschichtsforschung "vollständiger und einflussreicher
als in irgendeiner anderen Wissenschaft wiederholen", zu diesen Bedingungen
gehören. Eine zumeist unausdrücklich bleibende "Psychologie der täglichen Praxis" bestimme die Verbindungsglieder, mit deren
Hilfe der Historiker die Ereignisse als einheitliche Zusammenhänge deutet; damit hängt
das Verständnis historischer Einheiten weitgehend von der Lebenserfahrung des
Historikers ab, dessen Synthesen verständlich seien, nicht "weil sie einheitlich sind, sondern wir nennen sie einheitlich, weil sie
verständlich sind". Dem entsprechend sieht Simmel
nur die Möglichkeit einer psychologischen (nicht einer logischen) Konstruierung
historischer Persönlichkeiten, deren Bild „in einer
Synthesis der Phantasie“ entstehe; die Objektivität des Bildes beruht auf der
einfühlsam nacherlebenden Subjektivität des Historikers, dessen Kunst (!) darin
bestehe, sein „ganz individuelles Objekt“ so zu
beschreiben, dass es „subjektiv allgemein
nachbildbar“ und verständlich wird; „Dem
Individuellen, ja völlig Einzigartigen diese Art Allgemeinheit zu verleihen, ist das
künstlerische Geheimnis des Historikers“. Das logisch nicht ermessbare
Verstehen sei ein Urphänomen des menschlichen Geistes. – Ein ebenfalls nicht wirklich
tragfähiges Erklärungsmodell geisteswissenschaftlichen Erkennens.
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Die intensive Diskussion um die Eigenständigkeit und
erkenntnistheoretische Fundierung der Geisteswissenschaften löste im 20. Jh
zahlreiche Versuche einer erkenntnisheoretisch fundierbaren Abgrenzung und hierauf
andererseits Versuche der Begründung einer Einheitlichkeit aller Wissenschaft
aus.
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Wilhelm Windelband unterschied 1894 in seiner Straßburger Rektoratsrede über
"Geschichte und Naturwissenschaft" zwischen nomothetischem Denken der
Naturwissenschaft und dem ideographischem Denken der historischen Disziplinen –
die Naturwissenschaften suchten allgemeine Gesetze (= Gesetzeswissenschaft), die
anderen besondere historische Tatsachen (= Ereigniswissenschaft); jene lehrten,
was immer ist, diese, was einmal war.
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Windelbands Schüler Heinrich Rickert hat der Frage der Grenzziehung einen wesentlichen Teil seiner
Studie gewidmet; in seinen Arbeiten "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen
Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften"
(1902) und "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" (1899) unterschieden
zwischen "generalisierenden" und "individualisierenden" Wissenschaften, wobei er
sich insbesondere gegen Gesetzmäßigkeiten in den Geisteswissenschaften wehrte:
"Wo die Wirklichkeit in ihrer Individualität und
Besonderheit erfasst werden soll, da ist es einfach logisch widersinnig, sie
unter allgemeine Begriffe zu bringen, oder Gesetze des Historischen
aufzustellen, die, wie wir wissen, als Gesetze notwendig allgemeine Begriffe
sind [...]. Es ist nicht etwa mehr oder
weniger schwierig, die Gesetze der Geschichtlichkeit zu finden, sondern der
Begriff des 'historischen Gesetzes' enthält eine contradictio in adiecto, d.h.
Geschichtswissenschaft und Gesetzeswissenschaft schließen einander begrifflich
aus". Rickert muss aber anerkennen, dass die Unterschiede nur relativ sind, da
sich sowohl in den Geisteswissenschaften naturwissenschaftliche Elemente finden
als auch umgekehrt – es handle sich demnach nur um die hauptsächliche Gewichtung
der Methoden. Rickert gestand den Geisteswissenschaften schließlich immerhin auch zu,
sich nicht allein mit dem historisch Einmaligen, sondern auch mit allgemeinen
strukturellen Zusammenhängen und Regelmäßigkeiten in der Geschichte zu
beschäftigen.
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Auch Dilthey stellte fest, dass insoferne in jedem Verstehen auch allgemeine
Sachkenntnis enthalten sei, es also zumindest unausdrücklich mit erklärbarem
Wissen verknüpft sei, die Geisteswissenschaften also nicht nur verstehen, sondern
auch erklären;
dies hat natürlich insbesondere für die systematischen Geisteswissenschaften, die
Sozial- und Wirtschaftswissenschaften mit ihrem höheren empirischen Anteil
Bedeutung; die spezifische Leistung der Geisteswissenschaft liege demnach eben
darin, dass sie über das Erklären
hinaus noch verstehen – dass auch die Naturwissenschaften andererseits im
Zusammenhang metatheoretischer Darstellungen ihres Tuns und der Bedeutung ihrer
Theorien ebenfalls verstehen, hat Dilthey nicht in dieser Deutlichkeit ausgeführt.
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Auch hier treten ernsthafte Schwierigkeiten auf, da man ja
nicht einfach Natur und Geist einander gegenüberstellen kann – in seiner
physischen Existenz unterliegt der Mensch nun einmal Bereichen, die Gegenstand der
Naturwissenschaften sind (wie etwa der Physiologie) und alles was der Mensch
schafft etc. besitzt ein materielles Substrat, und selbst die Quellen zur
Geistesgeschichte haben immer wieder Aspekte an sich, die zum Gegenstand
naturwissenschaftlicher Forschung gemacht werden können und müssen.
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Nicht aber sind umgekehrt alle Gegenstände der Naturwissenschaften
auch potentiell solche der Geisteswissenschaften. Eine wesentliche Differenzierung
ist zwischen Sachen und Personen gegeben; sind Sachen nur Gegenstände, reine
Objekte, so sind Personen zugleich auch moralische Subjekte.
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Der Sinn geschichtlichen Handelns oder menschlichen Lebens, so meint
Dilthey, erweist sich als ein durch Zwecksetzung und Wertgesichtspunkte
bestimmter struktureller Zusammenhang, der etwas anderes ist als ein
Kausalzusammenhang. "Seine Bedeutung erhält das
Einzelne im gegliederten Lebens- und Geschichtszusammenhang dementsprechend
nicht durch seine gesetzmäßige Ableitbarkeit, sondern durch die besondere
Relevanz, die ihm für das Selbstverständnis von Menschen im konkreten
geschichtlichen oder gegenwärtigen Lebenszusammenhang zukommt". Insoferne
komme den Gegenständen der Geisteswissenschaften ein Doppelcharakter zu, das "hat zur Folge: Die Geisteswissenschaften können zur
umfassenden Erforschung ihrer Gegenstände wie die Naturwissenschaften von
erklärenden Verfahren der empirischen Analyse Gebrauch machen; um den reflexiven
Charakter ihrer Gegenstände gerecht zu werden, müssen sie sich darüber hinaus
auslegend und verstehend mit den Geltungsansprüchen überlieferter Äußerungen
auseinandersetzen. Die Geisteswissenschaften erweisen sich deshalb sowohl als
empirisch analysierende Text- und Tatsachenwissenschaften wie auch als
Geltungsansprüche reflektierende moralische Wissenschaften".
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Jürgen Habermas („Erkenntnis und Interesse“, 1968) hat ein
Klassifikationssystem der Wissenschaft aufgestellt, das sich an den "erkenntnisleitenden Interessen" orientiert:
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– |
die empirisch-analytischen Wissenschaften folgen demzufolge
einem technischen,
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– |
die historisch-hermeneutischen Wissenschaften einem
praktischen und
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– |
die kritisch orientierten Wissenschaften einem
emanzipatorischen Erkenntnisinteresse (wichtigstes Beispiel die Philosophie,
weiters Ideologiekritik und Psychoanalyse).
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Es handelt sich hierbei nicht um die ältere Dreiteilung der
Wissenschaften in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, denn Habermas zählt unter bestimmten Aspekten auch die auf die Hervorbringung
nomologischen Wissens gerichteten systematischen Handlungswissenschaften – die
Ökonomie, Soziologie und Politik – zu den empirisch-analytischen Wissenschaften
(also den Naturwissenschaften).
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Im Zuge dieser Untersuchungen hat Habermas nachgewiesen, dass die empirisch-analytischen Wissenschaften
nicht in der Lage sind, die Wirklichkeit "als das,
was sie ist" zu beschreiben, sondern nur, wie sie im Funktionskreis
instrumentellen Handelns erscheint, und er stellte fest, dass die
historisch-hermeneutischen Wissenschaften sich einer Sprache (Umgangssprache)
bedienen, in der Sprache, Handeln und expressive Ausdrucksphänomene (leibliche
Ausdrucksformen) sich in der alltäglichen Lebenspraxis wechselseitig
interpretieren – „Im Rahmen sozialer Lebenswelten
ist die umgangssprachliche Kommunikation niemals von den eingespielten
Interaktionen und den begleitenden oder intermittierenden Erlebnisausdrücken
isoliert, eine natürliche Sprache entzieht sich letztlich einer formal-strengen
Rekonstruktion, weil Nicht-Sprachliches interpretierend in sie verwoben ist. Die
Umgangssprache ist deshalb durch Reflexivität gekennzeichnet; der Grammatik der
Umgangssprache kommt im ganzen ein transzendentaler Stellenwert zu: Die
Wirklichkeit konstituiert sich im Rahmen einer umgangssprachlich organisierten
Lebensform kommunizierender Gruppen“. Das Verstehen und Interpretieren der
verschiedenen Arten von Lebensäußerungen beginnt deshalb für Habermas nicht mit den methodisch betriebenen Geisteswissenschaften,
sondern gehört selbst zur allgemeinen Lebenspraxis umgangssprachlich vermittelter
Interaktion. Die Interpretation setzt ein, sobald die verlässliche kommunikative
Erfahrung gestört wird, und hat das Ziel, Verstehen wiederherzustellen. Das „kunstmäßige Verstehen“ in den
historisch-hermeneutischen Wissenschaften sei nichts anderes als die rational
disziplinierte, methodische oder wissenschaftliche Form der „interpretatorischen
Alltagsleistung“; die historisch-hermeneutische Forschung bringt somit nur einen
Prozess der Verständigung, der sich vorwissenschaftlich im
Traditionszusammenhang symbolisch vermittelter Interaktionen eingespielt hat, in
eine methodische Form.
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Verstehen ist demnach kommunikative Erfahrung, der Interpret ist ein
Dialogpartner, also ein Beteiligter, Objektivität des Verstehens ist damit nur
innerhalb der Rolle des reflektierenden Mitspielers in einem
Kommunikationszusammenhang möglich – Partner sind lebende oder historische Objekte
oder Personen; wie Gadamer meint Habermas, dass Sachlichkeit des hermeneutischen Verstehens in dem Maße
erreichbar sei, "als das verstehende Subjekt über
die kommunikative Aneignung der fremden Objektivationen sich selbst in einem
eigenen Bildungsprozess durchschauen lernt". Der Forschungsprozess ist auch
handlungsorientierend. Ausdrücklich bezieht
sich Habermas auf den Dialog mit fremden Kulturen und deren
Überlieferungsgeschichte, wobei die Kontrastierung mit der fremden Kultur die
Eigenart der eigenen Überlieferungstradition besser hervortreten lässt, also ein
besonders geeignetes Mittel der Selbsterkenntnis ist.
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Den Abgrenzungsversuchen stehen Versuche der Begründung der
Theorie einer Einheitswissenschaft gegenüber:
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Gegen die methodische
Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften wendet sich mit Vehemenz
der Logische Empirismus des Wiener Kreises. Moritz Schlick vertrat die Ansicht, es gebe nur eine Wirklichkeit, die der
Erkenntnis auf prinzipiell in allen Bereichen gleiche Weise zugänglich sei;
demnach sollte es nur ein System von Begriffen zur Erkenntnis aller Dinge des
Universums geben (1918) – das ist eine philosophische, keine wissenschaftliche
Grundannahme, wie sie Leibniz schon gemacht hatte, als er eine "Characteristica Universalis" zu entwickeln suchte. Ziel ist eine
universelle Wissenschaftssprache, auf die sich die fachwissenschaftlichen
Sondersprachen durch logische Transformationen zurückführen lassen (Carnap, Neurath 1931).
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Carnap zielt darauf ab, die Sondersprachen auf die der Physik zu
transformieren, da die Physik auf die Grundformen Zeit und Raum direkt
zurückgreift und deshalb "intersubjektiv und
intersensual", also allgemein gültig sei. Dem entsprechend hat Carnap, und auch Neurath, den "physikalischen" =
naturwissenschaftlichen Anteil an der Tätigkeit der Geisteswissenschaften
wesentlich aufzuwerten gesucht und die Geisteswissenschaften als
"Sozialbehaviorismus" und als einen Teil der Einheitswissenschaft zu verstehen
gesucht; der Dualismus von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft ist für Neurath "letzten Endes ein Restbestand
der Theologie". 1934 hat Julius
Kraft – als sich die Geisteswissenschaften im traditionellen Sinne nicht
einheitswissenschaftlich begründbar erwiesen – von der "Unmöglichkeit der Geisteswissenschaften" gesprochen. – Carnap hat selbst noch den Physikalismus etwas zurückgenommen, die These
ist nicht haltbar.
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Jürgen von Kempski vertrat 1964 die Anschauung, dass eine Brücke zwischen Natur-
und Geisteswissenschaften durch die Mathematik seit eh und je gegeben sei. Er
bringt ein Modell auf, in dem zwischen möglichem und wirklichem Handeln
unterschieden wird, was das Problem jedoch nicht löst.
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Der Marxismus – historisch-dialektischer Materialismus –
lehnte die dualistische Trennung der Natur- und Geisteswissenschaften als "unannehmbar" ab. Es liege ein fortschreitender
Differenzierungsprozess vor und eine Systemisierung der Wissenschaft sei nach
praxisbezogenen Kriterien vorzunehmen; prinzipiell sei aber die Einheit der
Wissenschaft zu wahren. Grundlage dafür ist die objektive materielle Einheit der
Welt, die im historisch fortschreitenden Erkenntnisprozess als einheitliches
System erkannt wird. Da sich die Wissenschaften "mit der Erforschung jeweils bestimmter Bereiche, Bewegungsformen, Seiten oder
Zusammenhänge der objektiven Realität oder aber ihrer Widerspiegelungen im
Bewusstsein befassen", diese "objektive
Realität aber kein zusammenhangloses Chaos, sondern ein gesetzmäßig geordnetes
Ganzes ist, muss die Entwicklung schließlich zu einer Annäherung der einzelnen
Wissenszweige führen".
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Natur- und Geisteswissenschaften sind in erster Linie durch ihren
Gegenstand von einander zu unterscheiden. Die Meinung, dass in der Natur kausal
und gesetzmäßig, in der Gesellschaft akausal und damit nicht gesetzmäßig zugehe,
wird als ideologischer Irrtum abgelehnt. Auch ihrer gesellschaftlichen Funktion
nach werden beide Bereiche als einer gesehen – sie bieten die wissenschaftliche
Grundlage für die Lenkung und Leitung der Gesellschaft und sind Produktivkräfte im
gesellschaftlichen Arbeitsprozess, wobei insbesondere die
Gesellschaftswissenschaften ein theoretisches Instrument zur Führung der Massen
sein sollten. Ihr gundlegendes Prinzip sei die "unbedingte Einheit von strengster wissenschaftlicher Objektivität und
revolutionärer Parteilichkeit".
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Max
Weber (1864–1920) hat sich wegweisend mit der Frage der Wertbezogenheit der
Geisteswissenschaften auseinandergesetzt. Er schloss an Rickerts wertphilosophische Fragestellung an und meinte, dass eine
wertbezogene Wissenschaft nicht selbst wertend verfahren müsse. In seiner Arbeit
„Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“
(1904) analysierte er die praktisch-politische Relevanz einer werturteilsfreien
Sozialwissenschaft: „Eine empirische Wissenschaft
vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und – unter
Umständen – was er will“. Empirische Sozialwissenschaft erscheint ihm deshalb
deskriptiv erklärend und teleologisch zweckrational möglich, nicht aber in
präskriptiver Weise. Die Sozialwissenschaften sind ihm dennoch „sinnverstehende Wissenschaften“ und verfügen über die
Möglichkeit „idealtypischer Begriffsbildung“,
wobei er jedoch in seiner Auseinandersetzung mit dem Historiker Eduard
Meyer vor der Überschätzung der Bedeutung methodologischer Studien für die
wissenschaftliche Praxis warnte, da er die Ansicht vertrat, dass die Methodologie
immer nur Selbstbesinnung auf die Mittel sein könne, die sich in der Praxis bewährt
hätten – und das sei so wenig Voraussetzung für die Praxis wie die Kenntnis der
Anatomie für das richtige Gehen; die Methodologie werde nur „durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme“
weiterentwickelt und nicht durch rein erkenntnistheoretische oder methodologische
Erwägungen.
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In der Folge haben sich Ernst Troeltsch („Der Historismus und seine Probleme“ 1922), Heinrich
Gomperz („Über Sinn und Sinngebilde. Verstehen und Erklären“ 1929), Edmund
Husserl und Eduard Spranger mit anschließenden Problemen beschäftigt.
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Vor allem Spranger (1882–1963) hat in einer Fülle von Arbeiten Grundsatzprobleme der
Geisteswissenschaften untersucht – er behandelte Möglichkeiten
psychologisch-historischer Typenbildung, verwies auf außerwissenschaftliche
Voraussetzungen der Geisteswissenschaften und auf die Gefahr ihrer Ideologisierung
und das Problem der Werturteilsfreiheit, und in ganz besonderem Maße hat auch er um
eine bessere Erfassung des Verstehens gerungen, wobei er zwischen verschiedenen
Formen des Verstehens zu unterscheiden suchte und in Vielem Simmel folgte; er zog dabei wieder besonders die räumlich-zeitliche
Abhängigkeit und Entwicklung des Verstehenden in Betracht, woraus ihm eine
perspektivische Begrenztheit des Verstehens folgt: „Anders als perspektivisch kann der Mensch die Wahrheit gar nicht zu sehen
bekommen“; aus dieser Sicht wendet er sich gegen die Vorstellung von der
Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, die interne theoretische wie externe
außertheoretische Voraussetzungen habe, wobei ihm letztere im Falle der
Geisteswissenschaften besonders wichtig schienen: „Jeder, der auf dem Gebiete der Wissenschaft tätig ist, ist auch lebendiger Mensch
mit einem weltanschaulichen Apriori, das er als Kind seiner Zeit und als gebildete
Individualität mitbringt“. Diese weltanschaulichen Voraussetzungen empfand er
nicht nur als Mangel, sondern auch als „produktiv,
weil sie eine bestimmte Perspektive, eine einheitliche geistige Form
begründen“. Im Unterschied zu Max
Weber wollte Spranger auch von den Geisteswissenschaften Werturteile auf Grund von
Erkenntnis gefällt wissen – er sprach von einer Zweiregistertheorie: Der
Geisteswissenschaftler haben den Befund objektiv zu ermitteln und dann auf dieser
Grundlage Stellung zu nehmen, der Forscher habe ein Recht, „zu richten und zu bewerten“; es gehe dabei nämlich nicht nur um
das realitätsgebundene hinnehmende Verstehen, sondern auch „um das Verstehen des Seinsollenden“ – auch für den Historiker,
nicht nur für die Vertreter der systematischen Geisteswissenschaften, die selbst
Normensysteme zum Gegenstand haben (Rechts-, Politik- und Religionswissenschaften).
Insoferne haben die Geisteswissenschaften bei Spranger eine praktische Funktion. Hauptzweck ist allerdings die
Bildungsfunktion: Aufbau von Gesinnung, Selbstbesinnung, Weg zur
Selbsterkenntnis.
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Der wirksamste Dilthey-Schüler war Theodor Litt
(1880–1962). Er wies der Geschichtswissenschaft als Paradefall der
Geisteswissenschaften keinen Selbstzweck zu, sondern „eine durch und durch dienende Funktion“: Als vergegenwärtigende Erinnerung
ist sie „in das Gesamtleben eingebunden und auf das
Gesamtleben angewiesen“ – Erinnerung als wichtige Lebensfunktion weise nicht
nur den Bezug zu Vergangenem auf, sondern vermittle unter dem Aspekt des „Lebensbedeutsamen“ auch eine Beziehung auf das
Zukünftige, sie ist damit nicht nur eine „dem Leben
zur Seite gehende, sondern fort und fort an ihm bildende Kraft“. Insoferne
entwickle die Geschichtswissenschaft „ein schon in
Sicht Getretenes zu höherer Klarheit“, und insoferne sei die
Geschichtswissenschaft nicht nur eine Sache der Gelehrten im engeren Sinne, sondern
trage zur erinnernden Selbstvergewisserung der Gemeinschaft bei; sie sei die „Hüterin eines Schatzes von Erinnerungen, die in der zu
bestehenden Prüfung dem Gemüt gegenwärtig sein müsse“. Litt
hat sich auch mit der Frage des Allgemeinen beschäftigt und diesem Begriff durch
eine Aufsplitterung gerecht zu werden gesucht. Den Historismus
sah er als „das Wissen des Menschen um die in Form
der Geschichte geschehende, nur in Form der Geschichte mögliche und durch die
Geschichte ihm auferlegte Mitwirkung an der Gestaltung seiner selbst“
(Prozess der geschichtlichen Selbstgestaltung).
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In der weiteren Folge interpretierte Martin Heidegger das Verstehen neu, und zwar auf die Zukunft hin orientiert: „Das Verstehen bedeutet das Sichentwerfen auf die
jeweilige Möglichkeit des In-der-Welt-Seins“; das Verstehen ist damit nicht
nur eine besondere Erkenntnisart neben etwa dem Erklären,
sondern gewinnt die Bedeutung einer fundamentalen Vollzugsweise menschlichen
Daseins, an dessen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit es selbst teilhat. Im
alltäglichen Leben vollzieht sich Verstehen zumeist auf eine selbstverständliche,
unausdrückliche Weise. Erst durch Auslegung kommt das unausdrücklich Verstandene zur
„Ausdrücklichkeit“. Geschichtswissenschaft ist
auch ihm Daseins- und Selbstorientierung.
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Sehr wesentlich und wirksam hat Hans-Georg Gadamer (1900–2002) die Diskussion der Geisteswissenschaften
beeinflusst, indem er sich in seinem 1960 erschienen Werk „Wahrheit und Methode“
sehr eingehend mit der „hermeneutischen
Erfahrung“ beschäftigte, d.h. der Einfügung der wissenschaftlichen
Verfahren in den fortschreitenden Prozess der Verständigung der Menschheit mit
sich selbst; er untersucht die Geschichtlichkeit und Vorurteilshaftigkeit des
Verstehens (Vorurteil, Vormeinung, Vorverständnis etc. = „Urteil, das vor der endgültigen Prüfung aller sachlich bestimmenden
Momente gefällt wird“); jeder Wissenschaftler arbeitet mit
geschichtlich-gesellschaftlichen und sprachlichen Voraussetzungen, die ihm selbst
nicht bis ins letzte durchsichtig sind; jeder Versuch, etwas verstehen zu wollen,
bringt bereits eine Vormeinung über die Sache ins Spiel, deshalb sei es wichtig,
für die Meinungen anderer offen zu sein (nicht, dass man die eigene deshalb
aufgeben müsse) – nicht die Vorurteile an sich verhindern das Verstehen, sondern
es sind „die undurchschaubaren Vorurteile, deren
Herrschaft uns gegen die in der Überlieferung sprechende Sache taub macht“.
Die eigenen Vorurteile werden erkenn- und durchschaubar, wenn man sie „reizt“ – sei es in der Diskussion mit anderen
Individuen, sei es durch ein besonderes Ernstnehmen der Aussagen von Texten unter
Abwägung der möglichen Aussagen des Textes – vor allem „klassische“ Texte gewinnen
für Gadamer den Charakter von Dialogpartnern; einen Text verstehen, heißt
die Frage verstehen, die der Text stellt, und seinerseits die richtigen Fragen an
den Text zu stellen.
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Dem hermeneutischen Zirkel hat Gadamer eine neue Dimension gegeben160, indem er dessen Wechselbeziehung auch auf das
Verhältnis zwischen der Überlieferung und dem Erkennenden selbst ausweitet – ein
Text (besonders ein „klassischer“) kann immer wieder neu gelesen und immer wieder
neu verstanden werden, weil sich die geschichtliche Situation des Verstehenden
verändert; in diesem Zusammenhang führt Gadamer den Begriff des Frage- bzw. Erkenntnishorizontes ein und
analysiert die Eigenartigkeit des geisteswissenschaftlichen Forschungsprozesses,
der nicht in abrupter Ablösung von Erkenntnis, sondern deren partielle Veränderung
und verschmelzende Akkumulierung von Altem und Neuen bringt. Fortschritt ist nach
Gadamer deshalb in den Geisteswissenschaften nicht immer mit einer
Vermehrung objektiven Wissens verbunden, sondern besteht häufig in nichts anderem
als in der „Erreichung einer höheren
Reflexionsstufe der Fragestellung“; Geisteswissenschaftler sind deshalb
nicht allein Beobachter oder Benützer von Überlieferung, sondern Teilnehmer am
Überlieferungsgeschehen, indem sie es kritisch reflektierend mitgestalten. Die
wichtigste Aufgabe des Historikers ist es, die Bedeutung des Erforschten für die
Gegenwart neu zu bestimmen.
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Gadamer gelangt natürlich auch zur Problematik, dass die
Geisteswissenschaften „philosophische Wissenschaften“ seien, indem sie beides
vereinigen: sorgfältige methodische Analyse der Forschungsgegenstände und
Reflexion ihrer Einbettung in den wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang, in dem sie
selber stehen. „Was die Geisteswissenschaften zu
Wissenschaften macht, lässt sich eher aus der Tradition des Bildungsbegriffes
verstehen als aus der Methodenidee der modernen Wissenschaft. Es ist die
humanistische Tradition, auf die wir zurückgewiesen werden“161. Die
Geisteswissenschaften sind deshalb für Gadamer auch moralische Wissenschaften, da sie in enger Verbindung mit
dem sittlichen Wissen stehen – Gegenstand ist der Mensch und was er von sich weiß;
das Wissen soll sein Tun leiten.
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Wie bereits ausgeführt, stand im Zentrum der Diskussion um
die Geisteswissenschaften der Begriff des Verstehens, der auf der Grundannahme des
deutschen Idealismus aufbaute, dass es eine Welt des Geistes gebe, in der eine Fülle
von Individualitäten existiere, die man nicht durch induktives Denken, sondern nur
durch Interpretation der Ausdrucksformen, also der historischen Quellen
begreifen könne; zu der aber – da nicht alles in der Sinnenwelt sichtbar sei – der
Rest „hinzuempfunden, geschlossen, erraten“
werden müsse.
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Wie ebenfalls bereits erwähnt, war es ein wesentliches Problem, dass
man sich auf Grund der Entwicklung der Naturwissenschaften, die klare, wiederholbare
und nachvollziehbare Experimente und Gesetzmäßigkeiten kennen und dementsprechend
vielfach (aber nicht immer) „gewisse“ (d.h. gesicherte) Erkenntnisse zu liefern
imstande sind, immer wieder bemühte, deren Kriterien auf die Historie anzuwenden,
was naturgemäß nicht gelang.
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Seit Jahrhunderten wird darüber eine intensive Diskussion geführt, in
der es die verschiedensten Positionen gibt und deren Endziel es ist, ein allgemein
gültiges wissenschaftliches Erklärungsmodell zu erarbeiten, das für alle Wissenschaftsbereiche gilt. In
diesen Ansätzen wird zwischen zwei Gruppen von Kriterien unterschieden: zwischen
jenen Kriterien, die spezifische Ausgangs- und Randbedingungen feststellen, und
jenen, die allgemein gültige, deterministische oder statistische Gesetze und
Theorien enthalten, die aussagen, dass ein Ereignis der zu erklärenden Art immer
dann eintritt, wenn die in der ersten Gruppe aufgezählten Ereignisse in der dort
beschriebenen Art und Weise auftreten162.
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Lange wurde in der historischen Erkenntnistheorie damit operiert, dass
die Geisteswissenschaften im Gegensatz zu den Naturwissenschaften „individuelle Vorgänge in ihrer unwiederholbaren Einmaligkeit“
erklärten (ideographische Erkenntnis), während die Naturwissenschaften vom
Allgemeinen (= nomographische Erkenntnis) handlen; bei näherem Hinsehen lässt sich
diese Auffassung in derartigem Absolutheitsanspruch nicht halten.
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Eine wesentliche Einschränkung der historischen Erklärung
liegt dieser „Gleichschaltung“ der Methoden allerdings bereits zugrunde: Nämlich die
zweifellos zutreffende Annahme, dass wir keine Möglichkeit haben, ein individuelles
Ereignis, ein raum-zeitliches Realitätsstück in seiner vollen Totalität zu erklären; es kann nur mehr der Anspruch erhoben
werden, bestimmte Aussagen über diese „individuellen
Objekte“ zu machen. Aus diesen Gründen glaubte man die Auffassung vertreten
zu können, dass sich die historischen Erklärungsmodelle im Prinzip nicht von jenen
in den Naturwissenschaften unterscheiden, solange man einen logisch-systematischen
Erklärungsbegriff anwendet.
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Das Wort „erklären“
wird vom Historiker in vielfacher – und nicht immer zutreffender Weise – verwendet:
„erklären“ im Sinne von „verdeutlichen“, „einen Zweck aufdecken“ oder
Verfahrensweisen aufzeigen. Fast immer sind historische Erklärungen
unvollständig, weil sich wesentliche Teile, die für ihre streng
logisch-systematische Exaktheit erforderlich sind, nicht erbringen lassen. Viele
Erklärungen sind deshalb in Wirklichkeit nur Mutmaßungen über Erklärungen
(Erklärungsskizzen). Hinsichtlich des Verstehens wieder ist zu bemerken, dass das
Einzelne nicht aus dem Ganzen deduzierbar und umgekehrt das Ganze nicht aus dem
Einzelnen induzierbar ist; damit kann aber das Historisch-Individuelle niemals als
Fall eines Allgemeinen auftreten und kann das Ganze immer nur als „relative
Totalität“ oder als Kontinuität erscheinen, die
geschichtliche Erfahrung von der Vergangenheit zur Zukunft hin offenhält.
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Die analytische Geschichtsphilosophie unterwarf im 20. Jh (und vor
allem nach 1945) den schon von Dilthey in seiner Tragfähigkeit als ungenügend erkannten und von Max
Weber wie von Heidegger163 kritisierten Verstehensbegriff einer tiefgehenden Kritik, die
naturgemäß weit mehr von den Philosophen als von den Historikern getragen wurde. Sie
setzte in den angelsächsischen Ländern ein.
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Kritisch wurde und werden unsere Möglichkeiten eines vorurteilslosen
und prämissenlosen Umgangs mit unserer Welt untersucht und diskutiert. Hexters Auffassung gemäß bleibt die Wirklichkeit ohne Sinn, wenn man sich
ihr nicht mittels eines begrifflichen Vorentwurfs, eine Hypothese nähert; dadurch
aber wird bereits ein Bezugsrahmen eingeführt, der alles weitere beeinflusst. Carl
G. Hempel, einer der Hauptvertreter der einheitswissenschaftlichen
Auffassung, die das historische Erklären
mit demselben Instrumentarium wie jenes der Naturwissenschaften bewerkstelligen
will, vertritt die Ansicht, dass „wissenschaftliche
Hypothesen oder Theorien [...] nicht aus
beobachteten Tatsachen abgeleitet, sondern in der Absicht erfunden werden, sie zu
Erklären“. Dadurch wird die Stellung und Bedeutung von
Theorie, Hypothesen und Begriffsbildung in historischer Analyse und Darstellung
wesentlich gestärkt und ausgebaut. Dies hatte eine grundlegende Verschärfung der
methodologischen und begrifflichen Strenge nicht nur in der Geschichtswissenschaft,
sondern in den Humanwissenschaften überhaupt zur Folge. Es ist klar, dass sich dabei
eine Fülle von verschiedenen Positionen ergeben hat; ein von allen modernen
Richtungen getragener gemeinsamer Nenner besteht darin, die Möglichkeiten der
Geschichte – um nicht zu sagen der Geschichtswissenschaft – mit vorsichtiger
Zurückhaltung und Relativierung zu betrachten, und Offenheit gegenüber neuen
Ansätzen bei Beibehaltung der alten quasi-handwerklichen Methoden der
wissenschaftlich-kritischen Materialüberprüfung zu wahren.
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Hempel entwickelte gemeinsam mit Paul Oppenheim ein 1948 vorgestelltes rein logisches Erklärungssystem, das
„Hempel-Oppenheim-Modell der wissenschaftlichen Erklärung“ („H-O-Schema“), mit dem
die Auffassung vertreten wurde, dass historische Erklärungen
(der Begriff „Verstehen“ wird natürlich abgelehnt) „ebenso wie naturwissenschaftliche Systematisierungen im Normalfall auf
deterministischen oder statistischen Gesetzen und Theorien beruhen“. Mit
seinen strikten Verallgemeinerungen und der Annahme von „allgemeinen Gesetzen“
vermag dieses System jedoch auch „im Normalfall“
den Anforderungen historischer Forschung nicht gerecht zu werden164.
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Historisches Erklären
bezieht sich genaugenommen auf zwei Gegenstandsbereiche:
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auf die exogenen Variablen =
physikalische oder biologische Determinanten, die dem Subjekt zum Zeitpunkt der
Handlung nicht bewusst sind.
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auf die endogenen Variablen =
die subjektiven Zustände, Gründe und Motive, die dem Subjekt zum Zeitpunkt seiner
Handlung bewusst sind.
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Der Historiker ist auch nur deshalb in der Lage, das
Individuelle zu betrachten, weil es vor der Folie des
Gleichförmigen und Typischen erscheint; man kann erst dann feststellen, dass etwas
in dieser oder jener Beziehung einzigartig sei, wenn man weiß in welcher
Hinsicht es nicht einzigartig sei – so kann ein
Vorgang unter unterschiedlichen Aspekten als typisch oder als einzigartig bezeichnet
werden. D.h. einfach, dass das Individuelle nur im Vergleich zum Allgemeinen in
seiner Abweichung von diesem erkannt werden kann, was aber nicht gleichzusetzen ist
mit einer „Erklärung“ des Abweichenden, des an sich wesentlich Individuellen.
|
|
Die umfassende und zusammenfassende Kritik der klassischen
historischen Vorstellung des Verstehens leistete Wolfgang Stegmüller (1923–1991) im ersten Band "Wissenschaftliche Erklärung und
Begründung" seines Werkes "Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und
analytischen Philosophie" (1969).
|
Stegmüller weist die These von der prinzipiellen Differenz
naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis (nomothetisch
contra ideographisch) entschieden zurück, indem er darauf verweist, dass in dem
Augenblick, in dem die reinen empirischen Theorien zu wissenschaftlichen Erklärungen oder Prognosen herangezogen werden, zusätzliche Aussagen
hinzugezogen werden müssen, die das Postulat der idealen naturwissenschaftlichen
Erkenntnis nicht mehr erfüllen. Er stellt auch fest, dass ein individueller
Gegenstand als ein raum-zeitliches „Wirklichkeitsstück“ niemals in seiner vollen
Totalität erklärt werden könne; was wir erklären, seien gewisse Tatsachen
hinsichtlich dieser, „über“ diese individuellen Objekte.
|
Die Gegenüberstellung von Erklären
und Verstehen bezeichnet Stegmüller als „zweifellos eine gänzlich
schiefe Konstruktion“, denn was immer man unter „Verstehen“ verstehe, solle
es eine Methode darstellen, um zu geeigneten Erkenntnissen zu gelangen, sei es zu
einem Wissen über die in einem konkreten Fall vorliegenden psychischen Prozesse
und geistigen Inhalte, sei es zu Einsichten in allgemeine Zusammenhänge zwischen
seelisch-geistige Vorgänge. Erklären hingegen sei eine Warum-Frage, eine Frage
nach Ursachen und Gründen. Die einzig sinnvolle Gegenüberstellung sei also in dem
Begriffspaar "Erklären
– Beschreiben" gegeben. Die fragliche Methode des Verstehens müsse daher, soll sie
nicht überhaupt sofort als etwas gänzlich Unklares abgelehnt werden, so
charakterisiert werden, dass es sich um ein Verfahren handelt, um zu geeigneten
Erklärungen zu gelangen, d.h. um die für diese Erklärungen erforderlichen
Hypothesen oder nichthypothetischen Einsichten zu gewinnen.
|
Unter diesen Voraussetzungen definiert Stegmüller das Verstehen im Sinne Diltheys als ein Gedankenexperiment
von bestimmter Art, eine gedankliche, vielleicht auch teilweise erlebnismäßige
Identifizierung des Historikers mit seinem Helden, durch die er zu einem
Verständnis von dessen Erlebnissen und somit zu einer adäquaten Erklärung von
dessen Handlung gelangen sollte. Und das ist nichts anderes als ein heuristisches Verfahren, um zu gewissen psychologischen
Hypothesen zu gelangen, die man als Prämissen
eines erklärenden Arguments verwenden kann. Das Verfahren des Verstehens
liefert keineswegs eine Garantie dafür, dass die auf diese Weise gewonnenen
Hypothesen auch richtig sind – historisches Verstehen kann (je nach Standpunkt) zu
unterschiedlichen Ergebnissen führen165; und der Historiker ist im Verstehen vom
tatsächlichen Ausgang des Vorganges beeinflusst. Das Verstehen ist kein
Verifikationsverfahren und macht deshalb ein solches auch nicht überflüssig (dies
hatte schon Max
Weber festgestellt, wenn er meinte, dass eine Verifikation der durch die
subjektive Deutung gewonnenen Ergebnisse auf Grund des vorhandenen empirischen
Materials unentbehrlich sei.
|
Eine Hypothese liegt nach Stegmüller im Verstehen in zweifacher Hinsicht vor:
|
– |
einmal, wenn wir versuchen, uns mittels des
Gedankenexperiments in die Lage eines Anderen zu versetzen – wir können uns
dabei gründlich irren und erleben dies auch im Alltag; wir können glauben,
jemanden bestens zu verstehen, indem wir ihm aber völlig irrige Vorstellungen
und Motive unterschieben;
|
– |
zweitens durch die Gewinnung einer psychologischen
Generalisierung – denn der Historiker muss ja nicht nur überlegen, wie er selbst
reagiert hätte, sondern muss darüber hinaus aus seiner persönlichen Erfahrung
eine allgemeine Regelmäßigkeit zu abstrahieren versuchen, die er bei seiner
Erklärung benützt.
|
|
So wird also durch das Verstehen in zweifacher Hinsicht
keine unbezweifelbare Einsicht gewonnen, zumal das Verstehen zu einander
widersprechenden Ergebnissen führen kann und außerdem nicht möglich ist bei
Psychopathen und Angehörigen ganz anderer oder primitiver Kulturen. Stegmüller erklärt deshalb:
|
– |
Verstehen ist für die Gewinnung historischer Erklärungen
nicht hinreichend,
|
– |
Verstehen ist für die Gewinnung historischer Erklärungen
nicht notwendig, die Erklärung mit Hilfe allgemeiner Prinzipien sei möglich und
ausreichend,
|
– |
Verstehen sei ein Akt einer "Vulgärpsychologie".
|
|
Nach Stegmüller sind nicht "Verstehen" und "Erklären"
die (einander keineswegs ausschließenden) Grundmuster der Methoden, sondern "Interpretation" und "wissenschaftliche
Erklärung". Durch Stegmüller erscheint das Ungenügen des Verstehens klargestellt; das
Verstehen bleibt aber weiterhin ein unverzichtbarer Akt. Die Diskussion um die
Möglichkeit der Gewinnung von wissenschaftstheoretisch gesicherter Erkenntnis aus
der Geschichte ist nach wie vor im Gange.
|
Historiker wie Karl-Georg Faber nehmen Stegmüllers Kritik gegenüber eine kritische Haltung ein, wenngleich sie
die Kritik am Verstehen durchaus akzeptieren, nicht aber das H-O-Schema, das für
den Historiker nicht umsetzbar ist. Der Historiker könne sich wie jeder Mensch dem
Versuch, Handlungen zu verstehen, nicht entziehen. Faber anerkennt die Notwendig der Verifizierung (Habermas: kontrollierte Verfremdung des Verstehens), verzichtet auf die
Bewertung der durch das Verstehen gewonnenen Sinn-Einheiten und fordert, dass sich
die Geschichtswissenschaft der objektiven Wahrheit durch eine Verbindung von
Verstehen und Methode zu nähern versuche. Für den Historiker bestehe der Wert des
historischen Verstehens im Auffinden von Motiven für das Erklären;
die Motive liegen nicht offen zutage, sie sind in der Regel nur indirekt über die
Quellen erschließbar; durch das Verstehen wird überliefertes Handeln in der
Verbindung mit plausiblen Motiven erklärt. Der Historiker rekurriert dabei auf
seinen Verstehenshorizont, auf die kumulative Lebenserfahrung, in die er
hineingeboren ist und die je nach seinem Umfeld ausgeprägt ist – sie ist das
Wissen um die Möglichkeiten menschlichen Handelns auf Grund zumeist rationaler
Akte des Vergleichens und der Statistik, der Kausalität (für Stegmüller ist dies Vulgärpsychologie); das Verstehen erscheint Faber als wissenschaftlich zulässiges heuristisches Hilfsmittel, weil es
in der Lebenspraxis einer dauernden rationalen Kontrolle unterworfen sei.
|
Das Verstehen ist für die Geisteswissenschaften unentbehrlich – und
wohl auch unumgehbar; es ist zulässig, weil seine Ergebnisse der rationalen
Kontrolle zugänglich sind. Gadamer interpretierte in seiner normativen Hermeneutik das Verstehen
als Verschmelzen vermeintlich für sich seiender Horizonte, der Horizont des
Verstehenden bildet zusammen mit den Vergangenheitshorizonten einen einzigen, von
innen her beweglichen Horizont, der über die Grenzen des Gegenwärtigen hinaus die
Geschichtstiefe unseres Selbstbewusstseins umfasst. Die Auffassung Stegmüllers, dass dieser Prozess nicht rationaler Natur sei, teilt Faber nicht.
|
|
Die wichtigste heutige wissenschaftstheoretische Position,
auch in bezug auf die Problematik der Geschichtswissenschaft, ist wohl die des Kritischen Rationalismus
Poppers.
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Sir Karl Popper (1902–1994) geht neuerlich von der bereits in der Antike und
später immer wieder und besonders von Hume vertretenen Annahme aus, dass es logisch unmöglich sei, aus einer
endlichen Menge von Sätzen (von Singularien) einen allgemeinen Satz (die
Formulierung eines Universale) abzuleiten; die Versuche, die Kluft zwischen dem
allgemeinen Satz einerseits und der gegebenen Datensatzmenge andererseits durch
Postulieren zu überbrücken, lehnte er ebenso wie den Fundamentalismus (Ausgehen
von angeblich sicheren Basissätzen) ab und gelangte zur Position des Fallibilismus
und Kritizismus (= Kritisierbarkeit durch Erfahrung); dies führte Popper dazu, das alte Kernstück des Wissenschaftsideals des logischen
Empirismus aufzugeben: wissenschaftliches Wissen ist
(auch idealiter) nicht mehr gekennzeichnet dadurch, dass es sicher, gewiss
ist;
seine wissenschaftlichen Sätze sind durch ihre
Kritisierbarkeit durch Erfahrung ausgezeichnet und Wissenschaft besteht deshalb
aus hypothetischen Annahmen, aus Vermutungen; wissenschaftliches Wissen ist eine
Fülle von falsifizierbaren Hypothesen, die sich in möglichst strengen Tests
bewährt haben und deshalb – einstweilig, vorläufig! – als Wissen akzeptiert
worden sind: wissenschaftliches Wissen kann prinzipiell nicht sicher sein.
Poppers Methodologie ist präskriptiv und nicht deskriptiv!
|
Nach Popper verläuft der Forschungsprozess deshalb folgendermaßen: Vermutung (Hypothese, Theorie) gefolgt von
strenger Prüfung (Widerlegungsversuch). D.h. der
Forschungsprozess beginnt mit einem Problem. Popper gestattet auch die weitere Anwendung einer falsifizierten
Theorie, wenn sie sich in wesentlichen Teilen des Problems bewährt hat (Principle
of Tenacity = Zähigkeit, auch bei Feyerabend und Lakatos). Die Position Poppers wurde als „das wichtigste
Bollwerk gegen den Relativismus in der Wissenschaftstheorie“ erachtet –
Popper selbst vertrat die Auffassung, der intellektuelle Relativismus
sei die Hauptursache des moralischen Relativismus.
|
|
Aus der hermeneutischen Tradition heraus, von Droysen bis auf Gadamer und Apel herauf kommt den Geisteswissenschaften ein praktisch-philosophischer,
kommunikationsverbessernder, handlungs- und daseinsorientierender Sinn zu. Indem
geschichtliche Entwicklungstendenzen erkannt werden, sollen Kriterien für vielleicht
mögliche Veränderungen gewonnen werden.
|
Eine provokant konservativ-konträre Position ist die, die Joachim
Ritter 1974 in seinem Aufsatz "Die Aufgabe der modernen Geisteswissenschaft
in der modernen Gesellschaft" vertrat, indem er den Geisteswissenschaften die Funktion
zuordnete, "das Vergangene wie das vom Vergehen
Bedrohte aufzusuchen, einzubringen und zu erschließen, zu schützen und zu erhalten,
es in Sammlungen und Editionen zugänglich zu machen". Damit werden sie als
praktisch unanwendbar, nicht notwendig, freie und damit auch rein theoretische
Wissenschaften definiert, die ihren Zweck in sich selbst hätten und auch nicht auf die
Gewinnung letzter Ursachen und Gründe abzielten, sondern auf die Interpretation und das Verstehen der geschichtlichen Welt des Menschen sich
beschränkten. Ihre "Rechtfertigung" liege darin, dass sie dem Menschen die Möglichkeit
des Wissens um sein nicht mit der Gesellschaft identischen Seins eröffnen, sodass er
sich nicht ausschließlich durch eine (seiner Meinung nach) nahezu geschichtslos
gewordene, sich nur mehr funktional verstehende Gesellschaft bestimmt sehen muss – die
Geisteswissenschaften eröffnen damit einen nicht auf Praxis abzielenden "Hintergrund"
der Existenz.
|
1980 hat Günther Patzig
in seinem Aufsatz "Erklären und Verstehen" drei Wechselbezüge zwischen Vergangenheit
und Gegenwart postuliert:
|
1) |
Vergegenwärtigung des Vergangenen in seiner Fremdheit, |
2) |
die Erklärung
der Gegenwart aus der Vergangenheit: Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich mit
der Gegenwart, wenn sie diese oder Teilbereiche der Gegenwart genetisch als Ergebnis
vorausgegangener historisch Prozesse erklärt. – Alle diese Leistungen der
Geschichtswissenschaft sind von lebenspraktischer Relevanz, indem sie auf
unterschiedliche Weise Aufklärung der Gegenwart über sich selbst ermöglichen und
Voraussetzungen für bewusstes Handeln in der Gegenwart schaffen. Die Geschichte
gewährt natürlich nicht direkt verbindliche Handlungsanweisungen, doch gewährt die
genaue Kenntnis des historischen Entstehungszusammenhanges der Gegenwart in
Zusammenhang mit der Einsicht in wirksam gebliebene Elemente der Tradition wertvolle
Entscheidungshilfen. Analoges gilt für die Erkenntnisse aus der
historisch-systematischen Analyse sachlicher verwandter Begebenheiten in der
Vergangenheit.
|
3) |
die Entschlüsselung der Vergangenheit mit Hilfe gegenwärtiger
Erfahrungen. Damit hat er die Aufgabenstellung der Geistes- und insbesondere der
Geschichtswissenschaft beträchtlich erweitert, indem er die alte Vorstellung, dass
der eigentliche Zweck der Geschichtsforschung in der Gegenwart liege, erneuerte und
auf präzisere Grundlagen stellte. Edward Hallett Carr
hat 1961 festgestellt, dass zwischen Vergangenheit und Gegenwart ein Verhältnis
wechselseitiger "Beleuchtung" und "Entschlüsselung" bestehe, denn die Gegenwart sei
nicht von vornherein verständlicher als das Vergangene: Auch die eigenen Erfahrungen
sind interpretationsbedürftig, und dies geschieht nicht durch Introspektion, sondern
(wie schon Dilthey feststellte) ausschließlich aus der Geschichte heraus.
|
|
Hermann Lübbe
hat immer wieder darauf hingewiesen, dass den historischen Geisteswissenschaften auch
eine "identitätspräsentative" Funktion zukomme –
damit meint er, dass die Geisteswissenschaften auch die Funktion hätten, "Kenntnisse von passierten Geschichten gegenwärtig zu
halten, über die wir eigene und fremde Identität charakterisieren können";
dabei versteht Lübbe
unter Identität die Antwort auf die Frage, wer wir sind; Identität ist demnach kein
Resultat von Handlungen, sondern "Resultat einer
Geschichte", also von Abfolgen von nicht bewusst intendierten Ereignissen
(1978). Lübbe
hat damit eine wichtige Dimension der Geschichtswissenschaft neuerlich ins Blickfeld
gerückt, und Daniel Henrich hat im Anschluss daran darauf hingewiesen, dass die
Geschichtswissenschaft "als problematisch erfahrene
Identitäten" aufklären und tiefer begründen könne. Es gehe auch nicht nur um
die Ereignisse, sondern auch um die Aufdeckung von Interdependenzen (wechselseitigen
Abhängigkeiten) jener historischen Situationen, aus denen bestimmte Ereignisse
hervorgingen.
|
|
|
1 |
Es darf nicht übersehen werden,
dass Begriffe, die wir heute in
historischen Bezügen anwenden, z.T. anachronistische
Projektionen sind. So ist etwa
der Begriff „Physik“ im heutigen Sinne relativ jung
und erst im 19. Jh durch
die Zusammenführung der einzelnen Teilbereiche entstanden.
Umgekehrt sind andere Begriffe,
die ursprünglich gegeben waren (wie etwa historia, worunter man das Gesamte der
Weltgeschichte verstand), im Zuge der Differenzierung „aufgelöst“
worden.
|
2 |
In der Einleitung zu ihrem Beitrag „Die Kultur der
wissenschaftlichen Objektivität“ (In: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, hg. von
Michael Hagner, Frankfurt/Main 2001 [fischer taschenbuch 15261], 137-158, bes.
137f.
|
3 |
Es gibt
nahezu alle denkbaren Verknüpfungen und Unter- bzw. Zuordnungen:
Sozialwissenschaften als Teilklasse der Geisteswissenschaften; umgekehrt
Geisteswissenschaften als Teilbereich der Sozialwissenschaften; Geistes- und
Sozialwissenschaften gleichrangig als Bestandteile einer übergeordneten Klasse, etwa
der Humanwissenschaften; Geisteswissenschaften (= Literatur- und
Kunstwissenschaften) der Geschichtswissenschaft gegenübergestellt.
|
4 |
Und zwar in einer
anonymen Schrift mit dem Titel "Wer sind die Aufklärer"; es heißt dort: „Wenn ich sage
geistliche, die doch in der Gottesgelehrtheit und Geisteswissenschaft sorgfältigst
sind unterrichtet worden ...“; es ist hier offenbar ein Bereich im Umfeld der
Pneumatologie oder Geisterlehre gemeint.
|
5 |
Nur in der 1. Auflage; in der 2. Auflage steht:
„moralische Wissenschaft“.
|
6 |
Humanities und liberal arts entsprechen nicht, die
Fachliteratur verwendet human studies, sciences humaines, filosofia bzw. scienze
dello spirito (Croce), las ciencias del espiritu.
|
7 |
So etwa im Titel der umfassenden Geschichte der
österreichischen Humanwissenschaften, hg. von Karl Acham, 8 Bde, Wien
1999–2006.
|
8 |
Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 1971, S. 26
f.
|
9 |
Darüber hinaus sprechen wir aber auch von einer
Geschichte der Tier- und Pflanzenwelt, der Erde und des Kosmos. – Der
Vollständigkeit halber ist daran zu erinnern, dass der Mensch in der Natur lebt
und ihren Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist, die deshalb auch
von der Geschichtswissenschaft berücksichtigt werden müssen.
|
10 |
Friedrich II. „warnt“ Papst Honorius III., zu energisch
gegen ihn vorzugehen, denn würde das Hl. Römische Reich zugrunde gehen,
bedeutete das den Anbruch der Jüngsten Gerichts.
|
11 |
Es gibt zahlreiche
weitere Deutungen der Vorstellungen des Joachim von Fiore: Zeit des Knechtsdienstes – Zeit des
Sohnesdienstes – Freiheit; Plagen – Werk – Kontemplation; Furcht – Glauben –
Liebe; Sternlicht – Morgenröte – Tageshelle; Nesseln – Rosen – Lilien; Gras –
Ähren – Weizen; Wasser – Wein – Öl etc.
|
12 |
Das Weitere wesentlich nach
Karl Acham, Grundlagenprobleme der Geschichtswissenschaft. In: Enzyklopädie der
geisteswissenschaftlichen Arbeitsmethoden, München / Wien 1974,
1–76.
|
13 |
Nietzsche unterschied zwischen monumentalischer (= Glaube an die
Humanität), antiquarischer (Bewahrung) und kritischer (der Mensch zieht die
Vergangenheit vor das Gericht, inquiriert sie peinlich und verurteilt sie
endlich) Geschichte. 1874 zweites Hauptstück der „Unzeitgemäßen
Betrachtungen“: "Von der historischen Krankheit", dann abgeändert in: "Vom
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben". Nietzsche hat allerdings auch die Naturwissenschaften scharf
angegriffen und in Wissenschaft überhaupt etwas Zerstörendes gesehen –
Götzen-Dämmerung, Werke Bd 2, München 1966, 988.
|
14 |
Patrick Gardiner, Theories of History, New York
1959.
|
15 |
, Igor S. Kon,
Geschichtsphilosophie im 20. Jahrhundert, 2 Bde, Berlin
1964.
|
16 |
Dies kann in Analogie zu den
Begriff „ius“ (und „doctor utriusque iuris“), „ius canonicum“ (= Kirchenrecht)
und „ius civile“ gesehen werden.
|
17 |
Entdeckung Amerikas
durch Kolumbus, „Entdeckung“ des Buchdrucks, Luthers Thesenanschlag u.a.m.
|
18 |
Der Begriff „Sattelzeit“ ist vom deutschen Historiker Reinhard
Kosseleck geprägt worden, um diese wesentliche Übergangsphase zu
bezeichnen. Der Begriff wird mittlerweile auch anderweitig
angewendet.
|
19 |
Ein bemerkenswertes Projekt unternahmen im Jahr 2006 britische
Historiker, indem sie die Bevölkerung aufforderten, Aufzeichnungen über einen
bestimmten (durch keinerlei besondere Ereignisse ausgezeichneten) Tag
anzufertigen; auf diese Weise erhoffte man sich, eine umfassende Beschreibung
eines „normalen“, durchschnittlichen Tages aus der Sicht der „Masse“ zu
erhalten.
|
20 |
Eine frühe derartige Konzeption hat für
Österreich Joseph Chmel 1857 vorgelegt, als er eine „Geschichte des österreichischen Kaiserstaates als Ganzes“ forderte:
„Österreich
ist ein großartiger
Culturstaat,
darum ist seine wahre Geschichte die Culturgeschichte, bei
der die
politischen Formen, wie die politischen Schranken nur in Betracht
kommen, in wie
fern sie den Gang der Cultur hemmen oder fördern. Der Stoff
und die Aufgabe
einer Culturgeschichte aber sind: Glaube und Sitte, Recht,
Wissenschaft und
Kunst“.
|
21 |
Im Wesentlichen nach Jörn Rüsen, Historische
Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der
Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983 (= Kleine Vandenhoeck-Reihe
1489).
|
22 |
Es sei an dieser Stelle an
die zentrale Grundoperation jeder wissenschaftlichen Tätigkeit, den Vergleich
erinnert, worauf u.a. Nikolaus von
Kues hingewiesen hat.
|
23 |
Bei Calepinus heißt es 1502: „Critica,
Philologiae pars est, quae in emendatione auctorium et iudicio
consistit.“
|
24 |
Der erste Teil trägt den
Titel „De inventione“.
|
25 |
Zum Folgenden vgl. Marie Schulz, Die Lehre von
der historischen Methode bei den Geschichtsschreibern des Mittelalters
(VI.–XIII. Jh), Berlin-Leipzig 1909 (= Abhandlungen zur Mittleren und
Neueren Geschichte, hg. von Georg von Below, Heinrich Finke und Friedrich
Meinecke, Bd 13); Berthold Lasch, Das Erwachen und die Entwicklung der
historischen Kritik im Mittelalter (VI.–XII. Jh), Breslau 1887; sowie die
Einleitung zu Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und
Italien, letzte Auflage.
|
26 |
Bei Isidor und ihm folgend auch bei Vinzenz von Beauvais (ca. 1194–1264) heißt es: "apud veteres
enim nemo conscribebat historiam nisi is, qui interfuisset et ea, quae
conscribendae sunt, vidisset."
|
27 |
Die folgende Darstellung
folgt im wesentlichen der grundlegenden Arbeit von Arno Seifert, Cognitio
historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie,
Berlin 1976 (= Historische Forschungen 11), weiters Friedrich Bezold, Zur
Entstehungsgeschichte der historischen Methodik, in: Internationale
Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 8 (1914),
274-306.
|
28 |
Dass die Geschichten der Mittelmeer-Anrainer zu einer
Geschichte zusammenwüchsen.
|
29 |
Dies unter dem Einfluss einer im Ausgang des
15. Jhs entwickelten und für damalige Verhältnisse „globalen“,
d.h. gesamteuropäischen und in Visionen sogar den Vorderen Orient
einbeziehenden Bündnispolitik und nachfolgend der Entdeckungen.
|
30 |
Thomas Morus: “Utopia” (1516), Tommaso Campanella: “Citta del Sol” (1602), Francis Bacon: “Nova Atlantis” (1627) u.a.
|
31 |
S. dazu weiter unten die
Ausführung zu Jean Bodin.
|
32 |
Zu
den relativierenden Aspekten des Spätmittelalters traten nun im 16. Jh noch
die Auswirkungen der Entdeckungen hinzu.
|
33 |
Scientia = philosophia ist jener Bereich, in
dem man eindeutige Schlüsse, also „Wissen“ im strengsten Sinne für möglich
hält, in dem eindeutige Aussage gewonnen werden können. Dem entsprechend ist
die historia humana nur eine ars – und ars ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Bereich mehrerer
Möglichkeiten ist, d.h.: Es gibt eben keine eindeutigen
Aussagen.
|
34 |
Aus der Inhaltsübersicht
in der Einleitung: „Damit das, was auch immer
wir über historische Methodik schreiben, eine gewisse wissenschaftliche
Ausrichtung bekomme, werden wir zuerst die Geschichte einteilen und
abgrenzen [Kap. 1], dann die innere
Ordnung der Geschichtswerke darlegen [Kap. 2]; fernerhin werden wir die Gemeinplätze menschlicher
Handlungen [...] beifügen
[Kap. 3], sodann werden wir eine
spezielle Auswahl der Historiker vornehmen [Kap. 4] und die richtige Beurteilung geschichtlicher Ereignisse
erörtern [Kap. 5]; im folgenden
sprechen wir von der Beschaffenheit der Staaten [Kap. 6],
wobei die Wissenschaft von der Geschichte
hauptsächlich
verweilt; dann widerlegen wir die, welche uns die Lehre von
den vier
Monarchien und einem goldenen Zeitalter gebracht haben
[Kap. 7];
danach wollen wir versuchen,
die dunkle und
verhüllte Chronologie aufzuhellen, damit man weiß, wo man
den Anfang der
Geschichte zu suchen hat und wohin er zurückgeführt werden
muss [Kap. 8]; schließlich widerlegen
wir den Irrtum derer, die Ursprungssagen von Völkern für bare Münze
genommen haben [Kap. 9];
zum Schlusse
gehen wir über
zu einem geordneten Katalog der Historiker, damit man klar
ersehen kann,
was jeder geschrieben und wann er gelebt
hat.“
|
35 |
Philosophie von Gott =
Theologie, Philosophie von der Natur = Naturphilosophie, Philosophie vom
Menschen als sozialem Wesen = praktische Philosophie.
|
36 |
1577 hat der französische
Historiker Loys de Roy den Plan einer großen
Kulturgeschichte entwickelt, die praktisch alles umfassen sollte (dazu
w.u.)
|
37 |
„De disciplinis“ ist praktisch ein Vorspiel zu
Francis Bacons Instauratio, in dem wichtige Fragen des
wissenschaftlichen Verfahrens diskutiert werden.
|
38 |
Dies findet sich
zuerst ab 1430 in Italien wirkenden beim Aristoteles-Übersetzer Theodor Gaza
(1398–1478) um 1450 und dann 100 Jahre später beim averroistischen
Aristoteliker Giacomo Zabarella (1533–1589) in Padua, der meinte, Aristoteles habe die Zoologie zweimal behandelt: einmal als
Einführung historisch und ein zweites Mal wissenschaftlich.
|
39 |
So in seiner Schrift De utilitate legendae
historiae libri duo, Antwerpen 1593 (nach Seifert).
|
40 |
Es mag dabei
mitgespielt haben, dass es manchen Theoretikern ein Dorn im Auge war, dass
der Historiker sich mit der Frage nach den Ursachen das Geschäft des
Philosophen anmaße und sich noch dazu gerade durch diese Frage als tüchtiger
Historiker erweise. In diesem Zusammenhang haben einige Autoren später noch
die Auffassung vertreten, dass der Historiker, wenn er nach den Ursachen
fragt, dies nur in einer historischen, nicht in einer philosophischen
Dimension tun könne. Galilei sei als Astronom ein Historiker, denn er sage nicht, warum
Jupiter vier Monde habe, sondern nur, dass es von ihm so beobachtet worden
sei, analog verhalte es sich mit Tycho Brahe etc. Die eigentlich wissenschaftliche Astronomie als scientia bzw. sapientia baue erst auf der historiographischen Basis
auf.
|
41 |
siehe |
42 |
Solches war zuvor schon um
1450 in Italien auf Grundlage der Poetik des Aristoteles angestellt worden waren, als Lorenzo Valla und nach ihm Francesco Robortello die strikte Grenze zwischen universale und singulare in der aristotelischen Lehre gelockert und die Ansicht
vertreten hatten, dass es in der Poesie nicht immer und nur um das
Universale gehe und dass die Historie sehr wohl und wirksamer als die Moral
allgemeine Wahrheiten vermittle, indem sie für das menschliche Handeln
Beispiele gebe – res gestas narrare, quae
sunt rerum agendarum exempla. Für Robortello verhält sich die Historie zur Philosophie wie die
Verhaltens- zur Naturerkenntnis.
|
43 |
Der Gang der Überlegung lautet: Die Historia
unterrichte durch Beispiele (exempla),
nicht durch das fictum der Poesie, daraus ergibt sich: Libri exempla continentes sunt historiae. – Das exemplum beruht auf einem Analogieschluss
von einem singularen Sachverhalt auf einen anderen, und ein derartiger
Analogieschluss hängt hinsichtlich seiner logischen Gültigkeit an der
Wahrheit eines Universalsatzes (der allerdings in der Praxis nicht geleistet
wird).
|
44 |
Unbeschadet dessen umfasst sie ihm weiterhin
alle Bereiche der Erkenntnis, was natürlich der gegebenen Praxis
widersprach. Es gab somit wieder viele Historien, so viele wie Disziplinen,
und die Historia im engeren Sinne war nichts anderes als eine konventionelle
Einengung – freilich die eine große, dominierende Fragestellung, nach deren
Rechtfertigung oder Hervorhebung man insbesondere strebte.
|
45 |
Weiterhin nach Seifert, Cognitio historica.
|
46 |
Es ist in diesem
Zusammenhang an die französischen Historiker des 16. Jhs zu erinnern, dazu
s.w.u.
|
47 |
Es entspricht dies
dem Axiom von der Identität des menschlichen Wahrnehmens und Denkens bei Bernheim.
|
48 |
Diese seien eine gute Übung für den Geist, vermögen aber nicht
zu überzeugen, „denn von zwei gegensätzlichen
Meinungen ist nicht nur mit Sicherheit die eine falsch, sondern
möglicherweise beide“, Geneviève Rodis-Lewis in Ueberweg
305f.
|
49 |
Die
Philosophie des
17. Jahrhunderts, Bd 2 Frankreich und die Niederlande, hg. von
Jean-Pierre Schobinger,
Basel 1993 (= Grundriss der Geschichte der
Philosophie, begründet von
Friedrich Ueberweg), 306.
|
50 |
Giovanni
Gentile, Giovannbattista Vicos Stellung in der Geschichte der europäischen
Philosophie, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft und Technik 7
(1914), 430 ff.; 2007; eine Übersetzung durch Erich Auerbach nach der Ausgabe von 1744 ist 1924 in München erschienen.
|
51 |
Er bemühte sich mit großem Erfolg, das
Gesamtsystem der Wissenschaft nach streng logisch-mathematischen Gesichtspunkten
zu ordnen, dass er dies in deutscher Sprach tat, machte ihn zu einem der
Schöpfer der deutschen philosophischen Fachsprache.
|
52 |
Campanella hatte diesbezüglich festgestellt: locus ab authoritate in
omnibus scientiis excepta historia infirmissimus est.
|
53 |
S.
http://www.zedler-lexikon.de/
|
54 |
Vgl.
dazu: Immanuel Kant,
Vorlesungen, Bd 1: Vorlesungen über Logik, hg. von der
Göttinger Akademie der
Wissenschaften, Berlin 1966 (= Kants gesammelte Schriften
Bd 24).
|
55 |
Logik 68 – Seifert
189.
|
56 |
Kritik der
Urteilkraft 457 – Seifert 189.
|
57 |
Logik 71f. – Seifert
190.
|
58 |
Zur Geschichte der neueren
Historiographie ist immer
noch unverzichtbar Eduard Fueter, Geschichte der
Neueren Historiographie,
München-Berlin 1911 (= Handbuch der Mittelalterlichen
und Neueren Geschichte,
hg. von Georg von Below und Friedrich Meinecke,
Abteilung I: Allgemeines).
Zur Geschichtsschreibung des Humanismus ist auch
immer noch Paul
Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in
Deutschland unter dem
Einfluss des Humanismus, Leipzig 1910 (= Beiträge zur
Kulturgeschichte des
Mittelalters und der Renaissance 6), zu vergleichen. In
Hinblick auf Österreich
ist unverzichtbar Alphons Lhotsky, Österreichische
Historiographie, Wien 1962
(Österreich Archiv), Alphons Lhotsky, Quellenkunde
zur mittelalterlichen
Geschichte Österreichs, Graz-Köln 1963 (= MIÖG Erg.Bd
19).
|
59 |
So hat z.B. um 1965
Hermann Wiesflecker in diesen Kollektaneen zwei Fassungen einer bis dahin
unbekannten Autobiographie Maximilians I.
festgestellt.
|
60 |
Dieses Werk wurde 1717 von
Struve neu herausgegeben, weshalb man meist das Zitat „Freher-Struve“ findet. – Freher hat übrigens ähnliche Unternehmungen für Franken, Böhmen
und das Großfürstentum Moskau durchgeführt.
|
61 |
Wichtigste Mitarbeiter waren Johann Wigand, Mathias Iudex, Basilius Faber, Andreas Corvinus und Thomas Holthuter. Die Kosten trugen die evangelischen Fürsten. –– S. Paul Lehmann, Geisteswissenschaftliche Gemeinschafts- und
Kollektivuntersuchungen in der geschichtlichen Entwicklung, in SBMünchen
1956 = Erforschung des Mittelalters 4, Stuttgart 1961, 352–385.
|
62 |
Es sei hier verwiesen vor
allem auf die Ausführungen bei George Huppert, The idea of perfect history.
Historical erudition and historical philosophy in renaissance France,
Urbana-Chicago-London 1970; weiters immer noch auch auf Paul Hazard, Die
Krise des europäischen Geistes (La Crise de la Conscience Européenne
1680-1715), deutsch 5. Aufl. Hamburg 1939; Paul Hazard, Die Herrschaft der
Vernunft. Das europäische Denken im 18. Jahrhundert (La Pensée Européenne au
xviiie siècle de Montesquieu à Lessing), deutsch Hamburg 1949, bei Ernst
Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 3. Aufl. (1932) Nachdruck Tübingen
1973; bei Fueter; für Österreich speziell s. Peter G. Tropper, Urkundenlehre
in Österreich vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Errichtung der ‚Schule für
Österreichische Geschichtsforschung‘ 1854, Graz 1994 (= Publikationen aus
dem Archiv der Universität Graz 28).
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63 |
Vives formuliert, dies aufgreifend, bereits 1519: „Jus totum manat ex historia“, Huppert 41
– „history became a social science in the
law schools“.
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64 |
Claude de Seyssel (1450–1520) schrieb im Vorwort seiner Justinus-Ausgabe: "Indem
die
Römer sich die
griechische Literatur aneigneten, machten sie ihre eigene
Sprache
mächtig und schufen damit ein Mittel zur Weltherrschaft; uns
obliegt es,
Latein zu übersetzen und eine mächtige französische
Literatur zu
schaffen" – ein Programm, das von König Francois I. aufgenommen worden ist. Die Franzosen glaubten, die
italienische Renaissance als Ganzes übertreffen zu müssen und die besseren
Italiener werden zu müssen. Neben dieser Richtung gab es auch Philologen,
die von diesen Vorstellungen nicht so sehr okkupiert wurden und die
Frankreich im 16. Jh sehr wohl zu einer führenden Stellung in den
klassischen Studien verhalfen. Hier ist vor allem Guilleaume Budé (1486–1540) zu nennen, der die Stiftung des College de
France anregte und das totale Verbot des Buchdrucks in Frankreich, das die
Sorbonne 1533 gefordert hatte, verhinderte. Seine bedeutendste Leistung
ist die Vorbereitung des „Thesaurus Linguae Graecae“, den dann später
Henri II Etienne herausgebracht hat. – In weiterer Folge kam es
dann zur Gründung der Presse Royale, an der der Graveur Claude Garamond herrliche griechische Lettern schuf, die als "typi regii" bzw. "Grecs du roi" 200 Jahre lang als das Vorbild
griechischer Schrift in Europa sein sollten.
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65 |
Es ist in diesem Zusammenhang daran zu
erinnern, dass nicht nur die Welt des Rechts, sondern – als ein Ergebnis
einmal der Wahrnehmung anderer Religionen und andererseits auch der
Reformation – auch die der Religion, als eine Folge der zunehmenden
philologischen Arbeit dynamisiert wird; zuvor gewissermaßen statische,
unabänderlich erscheinende Faktoren erweisen sich nun definitiv als im Laufe
der Zeiten sich verändernd, als relativ. Das Historische wird so ein
Medium.
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66 |
Diese Arbeit ist mit zwei
anderen – „Histoire des histoires“ und „Dessein de l’histoire nouvelle des
francais“ – in einem Band unter dem Titel „Histoire des histoires“
erschienen.
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67 |
Auf ihn gehen u.a. drei höchst umfangreiche Foliobände „Bibliothèque
historiale“ (Paris 1588) zurück, ein vierter Band erschien 50 Jahre nach
seinem Tod Paris 1650.
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68 |
In
älteren Chroniken galt Priamos als erster König der Franken, und als Troja
gefallen war, sei es einer Gruppe gelungen, der Verfolgung durch die
Griechen zu entkommen, und diese Gruppe habe einen gewissen Francio zum König gewählt. Diese trojanische
Abstammung ist noch von den Valois und den Bourbonen in Anspruch genommen
worden – daraus wird der Anspruch Pasquiers klar, der sie als Mythos abtat.
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69 |
Dieser Nationalismus
entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten in geradezu skuriler Weise
weiter: 1714 wurde der Gelehrte Nicolas Fréret als Mitglied der Academie des inscriptiones in die Bastille
geworfen, weil er nachgewiesen hatte, dass die Franken Germanen gewesen
seien.
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70 |
Er hatte unter dem Eindruck der großen
Katastrophen in der Geschichte auch den skurrilen Einfall, wenigstens der
Fortbestand der Druckkunst zu sichern, in dem er in seinem Werk die
Druckerpresse und ihre Bedienung haargenau beschrieb – offenbar war er von
der Unvergänglichkeit wenigstens seines Werkes überzeugt.
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71 |
la
Popeliniere entwickelt natürlich die Kritik weiter, so stellt er
beispielsweise bezüglich textlicher Überlieferungen eine Reihe von Fragen:
Wurde der Text tatsächlich von dem Menschen geschrieben, dem er
zugeschrieben wird? Welches war Land und Religion des Verfassers? Wann
schrieb er und welcher Art von Regierung? Welches waren seine
Informationsquellen? Unter welchen Umständen erstellte er den Text? Erhielt
er von jemandem irgendwelche Unterstützung? Wie lange arbeitete er an dem
Text? Lässt sich seine Version der Darstellung mit der vorangehender und
nachfolgender Autoren in Einklang bringen? Ist die Darstellung diskutiert
worden? Wenn ja, in bezug worauf und von wem und wann?
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72 |
La
Popelinière, Idée 317, nach Huppert 145f.
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73 |
la
Popeliniere hat diese Frage – zusammen mit anderen – in einem Brief
an Joseph Justus Scaliger (Paris, 04.01.1604) diskutiert, in der
Hoffnung, dass die Generalstaaten ein derartiges Unternehmen finanzieren
würden.
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74 |
Die Mauriner
formierten sich 1618 als Reformkonkregation innerhalb des
Benediktinerordens; Zentrum wurde dann die Abtei Saint-Germain-des-Prés in
Paris.
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75 |
Der Name begegnet auch als
Papebroch u.ä.
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76 |
S.
http://www.heiligenlexikon.de/Literatur/Baende_Acta_Sanctorum.html
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77 |
Buch 1: Alter der Schrift,
Beschreibstoffe;
Buch 2: Stil,
Unterschriften, Siegel, Datierung; Buch 3: Bedeutung der
Formelbücher und
Chartulare; Buch 4: Verzeichnis der Königspfalzen als
Ausstellungsorte von
Diplomen; Buch 5: Zeichnungen von Schriften, Stiche von
Urkunden; Buch 6: 200
Urkunden als Beweismaterial. Die Bücher 1–3 enthalten
somit die Regeln, die
Bücher 4–6 das Beweismaterial.
|
78 |
Dazu besonders Tropper, Urkundenlehre in
Österreich.
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79 |
Dies findet sich auch noch
bei Gatterer.
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80 |
Dementsprechend vertrat er auch die Ansicht, dass die
Sintflut nicht die ganze Welt betroffen habe; die Erbsünde (peccatum originale) gelte nur für das
jüdische Volk, die heidnischen Völker unterlägen nur einer natürlichen
Sündhaftigkeit (peccatum
naturale).
|
81 |
Mit der mehrfach verwendeten Tradition, dass Noah mit seiner Arche in China
gestrandet sei.
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82 |
Es sei in diesem Zusammenhang auf Abbé de
Saint-Pierre hingewiesen, der 1718 in seinem „Discours sur la
polysynodie“ das Ziel eines ewigen Friedens verfolgte.
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83 |
Er
verweist z.B. darauf, dass wir bezüglich der punischen Kriege über keinen
einzigen punischen Text verfügen, allein auf römische Autoren angewiesen
seien!
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84 |
Aus dem Artikel „Usson“ des Dictionnaire. |
85 |
Hardouin war Herausgeber von 12 Bden Acta
conciliorum et epistolae decretales ac constitutiones summorum pontificum,
Paris 1714-1715.
|
86 |
Dazu Loraine Daston,
Classical Probability in the Enlightenment, Princeton University Presse
1988, 2. Aufl. 1995, 312-315. S. auch Gillespie und „Craig’s rules of
historical evidence“, in: History and Theory 1964, Beiheft
4.
|
87 |
Der „Liber
iudiciarium Angliae“, der alle Grundbesitzungen verzeichnet, wie sie zur
Zeit Wilhelms des Eroberers bestanden, als die
Bestandsaufnahme durch eine königliche Kommission 1085–1086
erfolgte.
|
88 |
Nach Ernst Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Nachdruck der 3. Aufl.
(1932) Tübingen 1973, 289.
|
89 |
Große Bedeutung von Göttingen – Personalunion
mit England, Verbindung auch in die Niederlande, Vereinigung von deutscher
Gelehrsamkeit, Bibelkritik und holländischer Philologentradition. Gatterer führt an dem von ihm begründeten Historischen Institut
erstmals historische Seminarübungen nach philologischem Vorbild
durch.
|
90 |
Spätere Wortinhalte: Neo-Positivismus = logischer Positivismus
ist die Bezeichnung der vom Wiener Kreis ausgehenden Lehre, die rasch auf die
USA, England und Skandinavien übergriff. Gemeinsamkeit mit dem älteren
Positivismus: Negation der Metaphysik, Forderung der Wissenschaftlichkeit der
Philosophie und die Auffassung, dass Erkenntnis der Wirklichkeit auf sinnlicher
Erfahrung beruhen müsse. Die Unterscheidung liegt vor allem in einer anderen
Bewertung des Status der Logik und der Mathematik, die als a priori =
erfahrungsunabhängig und damit als analytisch eingestuft und eingesetzt werden;
in der Methode zielt man vor allem auf die logische Analyse von Begriffen und
Aussagen ab (deshalb "logischer Positivismus"); diese Analyse erstreckt sich
wesentlich auf die Sprache als Ausdrucksmittel von Erkenntnis (es gibt in
England für die von Wittgenstein vor allem vertretene Richtung nach 1945 auch den Begriff
"therapeutischer Positivismus" – sprachtherapeutisch, Beseitigung der
sprachlichen Irrtümer in der Erkenntnisarbeit). – Post-Positivismus: Strömung ab
1955, der Thomas
S. Kuhn, Paul Feyerabend und auch Sir Karl Popper zugerechnet werden. – Schimpfwort „Positivismus“ – das Wort
wird schon im 19. Jh als negative Bezeichnung verwendet, vor allem aus der
idealistisch-hermeneutischen Position heraus, aber auch – bis heute – unter den
verschiedensten anderen Aspekten, meist sehr unreflektiert wie etwa in der
Bezeichnung "Positivismusstreit".
|
91 |
Diese
Wissenschaftssystematik ist verschiedentlich mit geringen Veränderungen auch
später noch vertreten worden (Mathematik wird zur Logik, die Physiologie zur
Biologie, es tritt die Moral hinzu. Ampère hat bereits zur Zeit Comtes (um 1850) eine 128 Gruppen umfassende streng deduktivistische
Wissenschaftssystematik aufgestellt, in der es auch logische Leerstellen, aber
bereits Namen für noch nicht existierende, aber aus der Systematik zu
erschließende und zu postulierende Wissenschaftsbereiche gab.
|
92 |
Es ist in diesem Zusammenhang auf die Bemühungen um
demographisch-statistische Bemühungen zu verweisen, wie sie etwa durch Anton
Friedrich Büsching (1724–1793) in Zusammenhang mit seinen
Arbeiten zu einer neuen quellenfundierten politischen Geographie unternommen
worden waren.
|
93 |
Wilhelm von Humboldt, Über
die Aufgabe des Geschichtsschreibers. Werke 1, Darmstadt 19060,
603.
|
94 |
Historisches Wörterbuch der Philosophie: s.v. Geist, Sp. 185. |
95 |
Ulrich Muhlack,
Empirisch-rationaler Historismus, in: HZ 232 (1981) 603–616 und Otto Gerhard
Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen
zum Standort der Geschichtsforschung, in: HZ 238 (1984) 17–-55.
|
96 |
S. Karl-Georg Faber, Ausprägungen des Historismus, in: HZ 228
(1979) 1–22.
|
97 |
Karl Mannheim, Historismus 1924. |
98 |
Meinecke lässt den Historismus in der 2. H. des 18. Jhs entstehen;
Erich Hassinger und Fritz Wagner
(Die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im
17. Jh, in:
SBMünchen 1979) greifen richtigerweise wesentlich weiter zurück,
bis in die Zeit um 1600,
und Wagner leitet den Historismus
überhaupt aus der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit ab (Otto Gerhard
Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen
zum Standort der Geschichtsforschung, in: HZ 238 (1984) 17–55).
|
99 |
Wolf war Lehrer August Boeckhs und der Gebrüder Grimm. – Es ist hier auch an
die Bedeutung der Antike als Vorbild zu erinnern – Winckelmann und Niebuhr versuchen, den Geist der Antike wieder aufleben zu
lassen.
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100 |
Überhaupt
ist die enorme Bedeutung der Befassung mit dem klassischen Altertum in
Erinnerung zu rufen, wie sie etwa in Goethes Haus in Weimar nicht
minder evident wird wie im zweiten Teil seines „Faust“.
|
101 |
Die Anwendung der
verfeinerten und auch auf textliche Struktur achtenden
philologisch-kritischen Methode auf als bereits altbekannt eingeschätzte
Autoren und auf bislang in ihrem Traditionsgehalt nicht erkannten Texten hat
zu mancher Veränderung hinsichtlich der Einschätzung der Autoren bzw. ihrer
Werke geführt. So hatte bereits Louis de Beaufort (1703–1795) in seiner „Dissertation sur l’incertitude des
cinq premiers siècles de l’histoire romaine“ 1738 diverse Passagen bei Livius als patriotische Geschichtsverfälschung bezeichnet, und
weit wirksamer hat Barthold Georg Niebuhr im Zusammenhang mit seiner „Römischen Geschichte“ die
Autorität des Livius massiver Kritik unterzogen bzw. ihr ein Ende gesetzt. Wenn
man der philologisch-kritischen Methode übertriebenen Skeptizismus,
Hyperkritizismus vorwarf, so war das wohl nicht berechtigt.
|
102 |
Dieser kann ja innerhalb eines Textes je nach
der Nähe der Aussage zum beschriebenen Ereignis sehr unterschiedlich
sein.
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103 |
„Die genetische Kraft ist die Mutter aller Bildung auf der
Erde, der das Klima feindlich oder freundlich nur zuwirket“. Die
Genese vollzieht sich für Herder vom Anorganischen zum Organischen, weiter zu Pflanze, Tier
und schließlich zum Menschen, der durch den Faktor der Freiheit
ausgezeichnet erscheint.
|
104 |
„Über die Kawi-Sprache auf
der Insel Java“, 3 Bde, 1836–1840; Kawi ist die alte, stark mit Sanskrit
durchsetzte javanische Literatursprache.
|
105 |
Dieses Werk ist in seiner Bedeutsamkeit später
erst richtig „hochstilisiert“ worden; es erregte ursprünglich bei den
Spezialisten Aufmerksamkeit, weil Ranke eine der großen historiographischen Autoritäten in Bezug auf
die Geschichte Italiens, Francesco Guicciardini, hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit demontierte; es
trug Ranke in sehr gezielter Aktion innerhalb weniger Monate eine
provisorische Vertretungsprofessur in Berlin ein, in der er sich dann sehr
erfolgreich festigte, Wolfgang Weber 212f.
|
106 |
Rudolf Vierhaus, Leopold von Ranke. Geschichtsschreibung zwischen
Wissenschaft und Kunst, in: HZ 244 (1987) 285–298.
|
107 |
Wolfgang Weber, Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche
Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte
der Geschichtswissenschaft 1800–1970, Frankfurt/M / Bern / New York 1984
(Europäische Hochschulschriften Reihe III Geschichte und ihre
Hilfswissenschaften Bd 216), 211.
|
108 |
Wolfgang Weber
210–262.
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109 |
Georg Waitz (1813–1886), begründete und schuf die „Deutsche
Verfassungsgeschichte“, die bis in das 20. Jh als Quellen- und
Materialsammlung bedeutend war; den Schritt zur modernen
Verfassungsgeschichte hat er nicht mehr geschafft.
|
110 |
Sybel hat sich später von Ranke losgegsagt und ist einer der Wortführer der kleindeutschen
Geschichtsschreibung geworden, s.w.u.
|
111 |
Friedrich Wilhelm Benjamin
Giesebrecht (1814–1889), verfasste die „Geschichte der deutschen
Kaiserzeit" (5 Bde, Braunschweig 1855–1888), erwarb sich durch die
Rekonstruktion der Annales Altahenses, die dann später von Öfele in Aventins Nachlass gefunden werden und die Rekonstruktion
bestätigen, großes Ansehen und leitete ab 1874 auch das große Unternehmen
der Heeren-Uckert’sche "Geschichte der europäischen
Staaten".
|
112 |
Schirrmacher (1824–1904) hat eingehend zu den Staufern gearbeitet
und ist vor allem durch seine große Geschichte Spaniens bekannt
geworden.
|
113 |
Wattenbach (1819–1897) ist wesentlich in den Hilfswissenschaften
hervorgetreten mit seiner lateinischen und seiner griechischen Paläographie
und mit seinem Hauptwerk „Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis
zur Mitte des XIII. Jahrhunderts“ – allesamt Standardwerke bis weit in die
Zeit nach 1945.
|
114 |
Harry Bresslau (1848–1926) war zugleich Schüler Droysens, ist als Jude Heinrich von Treitschke entgegengetreten, mit dem er in der Nationalliberalen
Partei zusammengearbeitet hatte, und wurde mit seinem bis heute nicht
ersetzten „Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien“ zu einem
der Klassiker der hilfswissenschaftlichen Literatur; von ihm stammt auch die
„Geschichte der Monumenta Germaniae Historica“ zu deren
100. Geburtstag.
|
115 |
Droysen hatte sich schon 1843, konkreter dann 1852 mit diesem
Gedanken getragen und nannte die Vorlesung nach dem großen Vorbild (der
Vorlesung des Altphilologen August Boeckh) „Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte“. Droysen hat diese Vorlesung, in ständiger Überarbeitung innerhalb
von 25 Jahren nicht weniger als 18mal gehalten; sie ist jedoch immer wieder
nur als Skriptum gedruckt worden (ähnlich der Vorlesung Boeckhs, die ja auch erst posthum erschienen ist). Obgleich sie
inhaltliche als Vorlesung große Wirkung gezeitigt hat, ist die Historik erst
1936 von Rudolf Hübner aus den Manuskripten herausgegeben
worden.
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116 |
Dieser freut sich, dass es
"keine objektiven, unparteiischen, blut-
und nervenlosen Historiker" mehr gebe, Kleine Schriften I 3. Aufl.
1880 S. 355.
|
117 |
Dieser spricht von dem
„beleidigenden Gerede von Rankes sogenannter
Objektivität“. Die bürgerliche Geschichte und die
naturwissenschaftliche Geschichte, in: HZ 39 (1878) 458–485.
|
118 |
„Mein Kampf“: Man „verpeste nicht schon die Kinderherzen mit dem
Fluche unserer 'Objektivität' auch in Dingen der Erhaltung des eigenen
Ichs“.
|
119 |
Treitschke (1834–1896) wude nach mehreren Professuren (anfangs für
Staatswissenschaft) 1873 Nachfolger Rankes an der Universität Berlin. 1879 erregte er Opposition (u.a.
Droysens) durch den in seinem Aufsatz „Unsere Aussichten“
formulierten Satz: „Die Juden sind unser
Unglück“, der später ein Leitmotiv des NS-Blattes „Der Stürmer“
werden sollte, damals aber den Antisemitismusstreit und die Diskussion um
Assimilation auslöste.
|
120 |
Dazu: Wolfgang Weber,
262–272.
|
121 |
Weltgeschichte Teil 9 Abt.
II, Leipzig 1888, S. xiii–xvi.
|
122 |
S. Karl-Georg Faber,
Ausprägungen des Historismus, in: HZ 228 (1979) 1–22.
|
123 |
Droysen hat Humboldt als einen Bacon der
Geschichtswissenschaft bezeichnet.
|
124 |
Vgl. dazu: Wolfgang Weber,
272–280.
|
125 |
Friedrich Wilhelm Benjamin
Giesebrecht (1814–1889), verfasste die „Geschichte der deutschen
Kaiserzeit" (5 Bde, Braunschweig 1855–1888), Rekonstruktion der Annales
Altahenses, die dann später von Öfele in Aventins Nachlass gefunden werden und die Rekonstruktion bestätigen;
er leitete ab 1874 auch die Heeren-Uckert’sche "Geschichte der europäischen
Staaten".
|
126 |
In diesem Zusammenhang ist an Chateaubriand „Le gènie du christianisme“ (1801) und „Les martyrs,
ou le triomphe de la religion chrètienne“ (1809) zu erinnern.
|
127 |
Caenegem: „Es
ist kein Vergleich
zwischen den
klassischen Studien in Frankreich und der Altertumswissenschaft
in Deutschland
während der ersten Hälfte des 19. Jhs
möglich."
|
128 |
Es sei hier auf die
von Rawdon Brown (1803–1883) herausgegebenen Calenders of State
Papers aus den venezianischen und oberitalienischen Archiven verwiesen sowie
auf die von Gustav Adolf Bergenroth (1813–1869), einem deutschen
Juristen, publizierten und teilweise dechiffrierten auf England bezüglichen
Materialien aus dem kastilianischen Archivio General in Simancas.
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129 |
In der englischen Verwaltung
wurden Register, Listen etc. als „rolls“ bezeichnet.
|
130 |
Geschichte Österreichs unter
den jeweiligen Landesfürsten, Franz
Kurz hat so das Spätmittelalter aufgearbeitet; manche seiner
Formulierungen sind in heute noch in Druck befindlichen Standardwerken
anzutreffen.
|
131 |
Nach einer ersten Welle von
humanistisch inspirierten
Akademiegründungen im 15. und 16. Jh kam es im
17. und 18. Jh
zur Gründung der wichtigsten, heute noch bestehenden Akademien
der Wissenschaften bzw.
ihrer Vorläuferinstitutionen. 1629 wurde die Academie
francaise begründet und
1663 die Academie des Inscriptiones et Belles-Lettres;
letztere führte im
19. Jh die Arbeit der Mauriner weiter. 1700 wurde die
Brandenburgische Sozietät
der Wissenschaften in Berlin gegründet, sie ist die
Vorläuferin der
Preußischen Akademie der Wissenschaften („Acta borussica“).
1751 erfolgte die Gründung
der Göttinger Sozietät der Wissenschaften, die die
seit 1739 erscheinenden
„Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ betreut. Bei der
1759 gegründeten Akademie
der Wissenschaften in München („Monumenta Boica“)
wurde 1858 auf Anregung Rankes durch König Maximilian II. die Historische Kommission
eingerichtet. – In diesem Kontext ist die Royal Society nicht relevant, da
diese sich nur den Naturwissenschaften widmet.
|
132 |
Es sei an
dieser Stelle angemerkt, dass man sowohl in der preußischen
Unterrichtsverwaltung (Althoff, dann Becker für Breysig) wie auch in Sachsen (insbesondere für Lamprecht) für abweichende Auffassungen Verständnis und Förderung
aufgebracht hat.
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133 |
Julien Offray de La
Mettrie (1709–1751), Arzt, 1747 "L'Homme machine", 1748 "L'Homme
plante", vertrat die Ansicht, dass der Materialismus die Wahrheit sei: "Wissen Sie, warum ich etwas vom Menschen
halte? Weil ich ihn allen Ernstes für eine Maschine halte. Im
entgegengesetzten Falle kenne ich nur wenige, deren Gesellschaft
schätzenswert wäre. Der Materialismus ist das Gegengift gegen die
Menschenverachtung".
|
134 |
David Hartley (1705–1757) meinte, das Leben gehe auf die Bewegung
kleinster Fasern in der Marksubstanz (Rückenmark etc.) zurück und deshalb
sei auch die Seele materieller Natur. Dieselbe Auffassung vertrat auch
Joseph Priestley (1733–1804).
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135 |
Diese Zirkelhaftigkeit
macht die Arbeit zu einem Gestaltungsprozeß in Natur und
Gesellschaft.
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136 |
Roscher studierte in Göttingen und Berlin, Habilitation
Göttingen 1840, dort oP 1844, 1848 nach Leipzig, wo er bis zu seinem Tod
lehrte.
|
137 |
Eine kurze
Darstellung gibt Hans-Josef Steinberg, Karl Lamprecht. In: Deutsche
Historiker I, hg von Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1971,
58–68.
|
138 |
Was Geschichte sei, wandle
sich zwar mit der Entwicklungsstufen der Volksseele, doch allen – ob niedrig
oder höherentwickelt – sei eigen, dass sie eine formale und eine materielle
Seite der Betrachtung von Geschichte unterschieden. Die formale Seite:
Geschichte als Abklatsch der Wirklichkeit, als Dokument, Abfolge von
Ereignissen, unteilbares Ganzes von Ursachen und Wirkungen, Sinnhaftigkeit
aus Kausalität. Geschichte betrachten, Geschichte verstehen, verschiedene
Ebenen des Geschichtsverständnisses sind möglich – höchste Ebene ist die
„philosophische Höhe der Weltgeschichte
eines Ranke" = Auffassung des Wesens von Geschichte. Daneben die
materielle Seite = die Auffassung des Inhalts der Geschichte, also die
Bewertung der Ereignisse in der Geschichte. Lamprecht meint: "Inhalt
der
Geschichte ist
zu allen Zeiten, was den Zeitgenossen als im menschlichen
Geschehen
bedeutend erscheint. Was aber ist jeweils bedeutend? Hier wirken
zur Bestimmung
tausend Einzelmotive zusammen, daneben aber auch einige
ständig und
gesetzmäßig wachsende Faktoren: Zunahme der Erziehung zu
innerer
geistiger und sittlicher Freiheit, Erweiterung des Horizontes mit
wachsendem
Verkehr und dergleichen. Das Ergebnis ist in den Hauptzügen in
allen
Kulturentwicklungen dasselbe. Sehen wir von Zufallsnotizen ab, wie
denen über das
Wetter [...] so ist es
überall das
äußere große Handeln, das die Aufmerksamkeit des
rückblickenden
Gedenkens am frühesten fesselt. Und dieses äußere Handeln,
insofern es
vornehmlich auch das äußere Schicksal Vieler bedingt,
erscheint dabei
geradezu als einziger Inhalt der Geschichte". Erst im
Verlaufe der Bewusstseinssteigerung in historicis tritt die Erkenntnis
hervor, "dass auch die Zustände sich
ändern", und "die
Zustände immer mehr
als wirklich
historische verstanden. An dieser Stelle kann nur betont
werden, dass die
Auffassung, die Zustände seien ein wirklicher aktiver und
verursachender
Teil des großen geschichtlichen Geschehens, selbst heute
noch keineswegs
auch nur in ihren wichtigsten Folgen und zu dauernd
gegenwärtiger
Wirkung in das Bewusstsein der schaffenden Historiker oder
gar der
Zeitgenossen im Allgemeinen gedrungen ist." Unter "Zuständen"
versteht Lamprecht Zustände seelischer Natur, die "Lebensformen vergesellschafteter Menschen, die sich in
gewisse äußere, objektive Hüllen kleiden, sie sind sozialpsychische, ja
sie sind die sozialpsychischen Erscheinungen überhaupt". Für jede
menschlich-seelische Erscheinung nahm Lamprecht die Gültigkeit jenes psychologischen Gesetzes an, "das [Wilhelm] Wundt das der schöpferischen
Synthese genannt [...] hat.
Es besagt,
historisch
gewandt und gemeinverständlich ausgedrückt, dass kein einziger
seelischer
Tätigkeitsvorgang sich in der Wirkung erschöpft, die man nach
der Natur der
vorliegenden Ursache allein anzunehmen geneigt sein möchte,
sondern darüber
hinaus schwingt, vorwärts dringt zu einer weiteren
Wirkung" - die chemisch-physikalischen Vorgänge im Inneren einer
Pflanze erklären nicht ihr Wachstum, "bei
jeder der Lebensäußerungen der Pflanze stellt sich also ein leiser
feinster Überschuss ein über die chemisch-physikalische Wirkung hinaus,
und die Summationen eben dieser Überschüsse bilden, schaffen das
Spezifische der Pflanze". Was für die Individuen gelte, gelte auch
für die Arten und auch für die geologischen Zeitalter – es seien "Potenzen
vorhanden, die sich in den Arten hin durch die Millionen von Individuen
entfalten haben und entfalten". Als Folge seiner Überlegungen sieht
Lamprecht, dass die bisher für wesentlich gehaltenen Erscheinungen
in der Geschichte als nebensächlich zurücktreten, nämlich die "politisch-militärische Geschichte"; ins
Zentrum des Interesses rücke nun das, was man früher als unveränderlich
ignoriert habe, nämlich die Zustände, die durch ihn als historische
Phänomene, als Teile einer Entwicklung erkannt wurden. Es ist nun belanglos,
sich mit irgendwelchen Individuen zu beschäftigen, die nur "nebensächliche Staffage auf dem breiten
Hintergrunde bestimmter Kulturen" seien; nun beginne man "ernsthaft geschichtlich zu denken. Der
weltgeschichtliche Zusammenhang, der letzte große, von dem alles
geschichtliche Werden erst Licht und Bedeutung erhält, „ist ein
kulturgeschichtlicher". Die Welt der politischen Geschichte wird der
Kulturgeschichte untergeordnet, ihr eingegliedert. "Geschichte ist eine geistige Bewegung". "Große Persönlichkeiten sind nur Führer nach
entwickelungsgeschichtlich nahegelegten, eben herannahenden Zielen einer
immanenten Entfaltung: früheste Ahner und Witterer des seinem innersten
Kern nach notwendig Kommenden mit der Möglichkeit, dieses Kommen eben in
Folge frühen Ahnens wenigstens in seinen Einzelheiten individuell zu
bestimmen" – so hätten sich auch Luther oder Bismarck selbst verstanden. Die Masse
aber – die "Viel zu Vielen", von denen
keiner entbehrt werden könne – schaffe die Zustände täglich neu, "gleichwie es für die Tätigkeit einer
Dampfmaschine stetig erhaltener Spannung des Dampfes bedarf"; auch
für sie gelte das Gesetz von der schöpferischen Synthese, "denn eben durch sie wird durchaus wesentlich die
Wirtschaftentwickelung mit bestimmt", die wiederum "nicht zum wenigsten
die Entfaltung der übrigen Kulturzweige" bestimme – "trotz allen vielfach berechtigten Anfechtungen
der Marx’schen
Geschichtsphilosophie". Dem Determinismus ist Lamprecht aus dem Weg gegangen: Die Gesetze allein könnten das
geschichtliche Leben nicht erklären, die Geschichtswissenschaft löse sich
nicht in eine Psychologie als Lehre von der Mechanik der seelischen
Bewegungen auf, dafür sorge doch das Individuum, das Unteilbare, die
Persönlichkeit, die nicht vollständig im Sinne der Psychologie logisch
"durchdacht" werden könnten und letztlich in vielem unergründbar bleibe
(= individuum est ineffabile!) und das wohl nie den chemisch-physikalischen
Gesetzen der Naturwissenschaften "einverleibt" werden könne – "einstweilen und wohl für immer ist mit dem
Unterschied zwischen mechanischen und Entwickelungsgesetzen zu
rechnen". Die wesentlichen und – da im wesentlichen immer gleich
bleibend – die Kontinuität von Nationalität zu Nationalität, "den weltgeschichtlichen Zusammenhang"
herstellenden "ins rein Psychische
verfeinerten" Elemente sind für Lamprecht Religion, Weltanschauung, Wissenschaft und Kunst, die
Lehre vom Staat; "weit treten ihnen gegenüber
Gesellschaft, Wirtschaft, Krieg und äußere Politik als Gerüst und
wichtigste Lebensäußerungen des sinnlich gegebenen nationalen Körpers
zurück". Dementsprechend strebt Lamprecht, dem die Wirtschaftsgeschichte für das Verständnis der
Geschichte von zentraler Bedeutung ist, nach der "Psychisierung" des Wirtschaftslebens – es soll nicht in
der geschichtlichen Forschung materialisiert, sondern in seinem "inneren Zusammenhang mit der seelischen
Gesamtentwickelung" beleuchtet werden.
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139 |
Ostwald hat beispielsweise seine „Annalen der Naturphilosophie“
1913 (kurzzeitig) in „Annalen der Natur- und Kulturphilosophie“
umbenannt.
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140 |
1. Bd: „Psychologie der
Geschichte“, 1933,
2. Bd: „Die Meister der entwickelnden
Geschichtsforschung“,
1936; 3. Bd: „Gestaltungen des Entwicklungsgedankens“,
1940; 4. Bd: „Das
neue Geschichtsbild im Sinne der entwickelnden
Geschichtsforschung“,
1944.
|
141 |
Aus „Objektivität
sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“
(1904).
|
142 |
Zu Meinecke s. Ernst Schulin, Friedrich Meineckes Stellung in der
deutschen Geschichtswissenschaft, in: HZ 230 (1980) 3–29.
|
143 |
Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der
hermeneutischen Theorie im 19. Jh, 3 Bde, Tübingen 1926, 1929 und
1933.
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144 |
Die Ausführungen über die
Annales etc. folgen wesentlich Claudia Honegger (Hg), M. Bloch, F. Braudel,
L. Febvre u.a. Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur
systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt 1977, edition
suhrkamp 814. Weiters ist heranzuziehen George Iggers, Neue
Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft.
Ein internationaler Vergleich, München 1978 und Febvre, Ein Historiker
erforscht sein Gewissen (in: Lucien Febvre, Das Gewissen des Historikers,
Berlin 1988) aufschlussreich.
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145 |
Am College de France bestand seit dem Ausgang
des 18. Jhs ein Lehrstuhl für Geschichte und Moral, an dem Daunou und Michelet wirkten, und der später in Lehrstuhl für „Allgemeine
Geschichte und angewandte historische Methode“ umbenannt wurde. 1892, mit
dem Tod Alfred Maurys, hat das College de France diesen Lehrstuhl nach mehr als
hundertjährigem Bestehen aufgelassen; erst 1933 ist der Lehrstuhl wieder
installiert und mit Lucien Febvre besetzt worden.
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146 |
Emile Durkheim war einer der bedeutendsten frühen französischen
Soziologen; er war erst Professor in Bordeaux, ab 1896, und dann ab 1902 an
der Sorbonne. Er vertrat den damals revolutionären Gedanken, dass "soziale
Tatsachen" mit den Methoden der positiven Wissenschaft wie reale Dinge zu
behandeln seien, und postulierte ein Kollektivbewusstsein, das zwar von den
Individuen erzeugt werde, dessen überindividuellem Zwang sie aber
unterworfen seien. Durkheim ist in Deutschland – wo er 1885/86 in Marburg, Berlin und
Leipzig Pädagogik und Soziologie Studien betrieben hatte – erst wenig
beachtet worden, da er dem Soziologismus zugeordnet wurde; erst nach 1945
wurde er zu einem der Klassiker der Soziologie. In Frankreich und in England
aber hat er von Beginn an wesentlichen Einfluss ausgeübt.
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147 |
Die Zeitschrift erschien
vierteljährlich, 1939 wurde sie umbenannt in "Annales d'Histoire Sociale",
1942 in "Mélanges d'Histoire Sociale", 1945 wieder Annales Histoire Sociale,
1946 "Annales. Economies – Sociétés – Civilisations" und ab 1994 schließlich
Annales. Histoire. Sciences sociales.
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148 |
Eine deutsche
Übersetzung ist in einer Auswahl aus den Schriften Febvres 1988 unter dem Titel "Das Gewissen des Historikers" in
Berlin herausgekommen, hg und übersetzt von Ulrich Raulff.
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149 |
Beispielsweise seien erwähnt: Micheline Baulant und Jean Meuvret, Geschichte der Getreidepreise
anhand der Marktberichte von Paris, 2Bde, 1960–1962; Emmanuel Le
Roy Ladurie: 1959 erster Entwurf einer Klimageschichte, 1973
Geschichte von Sonnenschein und Regenwetter. Pierre Chaunu quantifizierte in seinem Werk "Séville et l'Atlantique
(1550–1650)" sämtliche Transaktionen der spanischen Handelsflotte im
Atlantik aus den Archiven von Sevilla und bestimmte damit den Aufschwung im
16. Jh sowie die Krise im 17. Jh im spanischen Raum. Pierre Vilar untersuchte mit Hilfe demographischer Methoden und der
Quantifizierung die Rolle Kataloniens im Spanien des 18. Jhs.
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150 |
Zur Mentalitätsgeschichte s. Volker Sellin, Mentalität und
Mentalitätsgeschichte, in: HZ 241 (1985) 555–598.
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151 |
Georges Duby, Über einige Grundtendenzen der modernen französischen
Geschichtswissenschaft, in: HZ 241 (1985) 543ff.
|
152 |
Was Geschichte sei, wandle
sich zwar mit der Entwicklungsstufen der Volksseele, doch allen – ob niedrig
oder höherentwickelt – sei eigen, dass sie eine formale und eine materielle
Seite der Betrachtung von Geschichte unterschieden. Die formale Seite:
Geschichte als Abklatsch der Wirklichkeit, als Dokument, Abfolge von
Ereignissen, unteilbares Ganzes von Ursachen und Wirkungen, Sinnhaftigkeit
aus Kausalität. Geschichte betrachten, Geschichte verstehen, verschiedene
Ebenen des Geschichtsverständnisses sind möglich – höchste Ebene ist die
„philosophische Höhe der Weltgeschichte
eines Ranke" = Auffassung des Wesens von Geschichte. Daneben die
materielle Seite = die Auffassung des Inhalts der Geschichte, also die
Bewertung der Ereignisse in der Geschichte. Lamprecht meint: "Inhalt
der
Geschichte ist
zu allen Zeiten, was den Zeitgenossen als im menschlichen
Geschehen
bedeutend erscheint. Was aber ist jeweils bedeutend? Hier wirken
zur Bestimmung
tausend Einzelmotive zusammen, daneben aber auch einige
ständig und
gesetzmäßig wachsende Faktoren: Zunahme der Erziehung zu
innerer
geistiger und sittlicher Freiheit, Erweiterung des Horizontes mit
wachsendem
Verkehr und dergleichen. Das Ergebnis ist in den Hauptzügen in
allen
Kulturentwicklungen dasselbe. Sehen wir von Zufallsnotizen ab, wie
denen über das
Wetter [...] so ist es
überall das
äußere große Handeln, das die Aufmerksamkeit des
rückblickenden
Gedenkens am frühesten fesselt. Und dieses äußere Handeln,
insofern es
vornehmlich auch das äußere Schicksal Vieler bedingt,
erscheint dabei
geradezu als einziger Inhalt der Geschichte". Erst im
Verlaufe der Bewusstseinssteigerung in historicis tritt die Erkenntnis
hervor, "dass auch die Zustände sich
ändern", und "die
Zustände immer mehr
als wirklich
historische verstanden. An dieser Stelle kann nur betont
werden, dass die
Auffassung, die Zustände seien ein wirklicher aktiver und
verursachender
Teil des großen geschichtlichen Geschehens, selbst heute
noch keineswegs
auch nur in ihren wichtigsten Folgen und zu dauernd
gegenwärtiger
Wirkung in das Bewusstsein der schaffenden Historiker oder
gar der
Zeitgenossen im Allgemeinen gedrungen ist." Unter "Zuständen"
versteht Lamprecht Zustände seelischer Natur, die "Lebensformen vergesellschafteter Menschen, die sich in
gewisse äußere, objektive Hüllen kleiden, sie sind sozialpsychische, ja
sie sind die sozialpsychischen Erscheinungen überhaupt". Für jede
menschlich-seelische Erscheinung nahm Lamprecht die Gültigkeit jenes psychologischen Gesetzes an, "das [Wilhelm] Wundt das der schöpferischen
Synthese genannt [...] hat.
Es besagt,
historisch
gewandt und gemeinverständlich ausgedrückt, dass kein einziger
seelischer
Tätigkeitsvorgang sich in der Wirkung erschöpft, die man nach
der Natur der
vorliegenden Ursache allein anzunehmen geneigt sein möchte,
sondern darüber
hinaus schwingt, vorwärts dringt zu einer weiteren
Wirkung" - die chemisch-physikalischen Vorgänge im Inneren einer
Pflanze erklären nicht ihr Wachstum, "bei
jeder der Lebensäußerungen der Pflanze stellt sich also ein leiser
feinster Überschuss ein über die chemisch-physikalische Wirkung hinaus,
und die Summationen eben dieser Überschüsse bilden, schaffen das
Spezifische der Pflanze". Was für die Individuen gelte, gelte auch
für die Arten und auch für die geologischen Zeitalter – es seien "Potenzen
vorhanden, die sich in den Arten hin durch die Millionen von Individuen
entfalten haben und entfalten". Als Folge seiner Überlegungen sieht
Lamprecht, dass die bisher für wesentlich gehaltenen Erscheinungen
in der Geschichte als nebensächlich zurücktreten, nämlich die "politisch-militärische Geschichte"; ins
Zentrum des Interesses rücke nun das, was man früher als unveränderlich
ignoriert habe, nämlich die Zustände, die durch ihn als historische
Phänomene, als Teile einer Entwicklung erkannt wurden. Es ist nun belanglos,
sich mit irgendwelchen Individuen zu beschäftigen, die nur "nebensächliche Staffage auf dem breiten
Hintergrunde bestimmter Kulturen" seien; nun beginne man "ernsthaft geschichtlich zu denken. Der
weltgeschichtliche Zusammenhang, der letzte große, von dem alles
geschichtliche Werden erst Licht und Bedeutung erhält, „ist ein
kulturgeschichtlicher". Die Welt der politischen Geschichte wird der
Kulturgeschichte untergeordnet, ihr eingegliedert. "Geschichte ist eine geistige Bewegung". "Große Persönlichkeiten sind nur Führer nach
entwickelungsgeschichtlich nahegelegten, eben herannahenden Zielen einer
immanenten Entfaltung: früheste Ahner und Witterer des seinem innersten
Kern nach notwendig Kommenden mit der Möglichkeit, dieses Kommen eben in
Folge frühen Ahnens wenigstens in seinen Einzelheiten individuell zu
bestimmen" – so hätten sich auch Luther oder Bismarck selbst verstanden. Die Masse
aber – die "Viel zu Vielen", von denen
keiner entbehrt werden könne – schaffe die Zustände täglich neu, "gleichwie es für die Tätigkeit einer
Dampfmaschine stetig erhaltener Spannung des Dampfes bedarf"; auch
für sie gelte das Gesetz von der schöpferischen Synthese, "denn eben durch sie wird durchaus wesentlich die
Wirtschaftentwickelung mit bestimmt", die wiederum "nicht zum wenigsten
die Entfaltung der übrigen Kulturzweige" bestimme – "trotz allen vielfach berechtigten Anfechtungen
der Marx’schen
Geschichtsphilosophie". Dem Determinismus ist Lamprecht aus dem Weg gegangen: Die Gesetze allein könnten das
geschichtliche Leben nicht erklären, die Geschichtswissenschaft löse sich
nicht in eine Psychologie als Lehre von der Mechanik der seelischen
Bewegungen auf, dafür sorge doch das Individuum, das Unteilbare, die
Persönlichkeit, die nicht vollständig im Sinne der Psychologie logisch
"durchdacht" werden könnten und letztlich in vielem unergründbar bleibe
(= individuum est ineffabile!) und das wohl nie den chemisch-physikalischen
Gesetzen der Naturwissenschaften "einverleibt" werden könne – "einstweilen und wohl für immer ist mit dem
Unterschied zwischen mechanischen und Entwickelungsgesetzen zu
rechnen". Weitere wesentliche Beiträge sind: Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des positiven Denkens im archaischen
Griechenland (1957) Robert Mandrou: Arbeiten über das Klassenbewusstsein im 16. und 17. Jh,
über die Volkskultur im 17. und 18. Jh, Jacques Le
Goff: Rolle der Kaufleute und Bankiers, der Intellektuellen, Ketzer
und Bettelorden, Geschichte des Lesens und Schreibens, Georges Duby: Adel, Rittertum und Herrschaft im Hochmittelalter, Führend
ist Philippe Aries: Geschichte der Kindheit 1960, und insbesondere der berühmte
"Essai sur l'histoire de la mort en Occident du moyen age […] nos jours"
(1975).
|
153 |
Das Werk ist in
folgende Kapitel gegliedert: L'Histoire nouvelle, L'Histoire et la longue
durée, L'Histoire des structures, L'Anthropologie historique, L'Histoire des
mentalités, L'Histoire de la culture matérielle, L'Histoire imm‚diateé,
Marxisme et histoire nouvelle, L'Histoire des marginaux (Randgruppen),
L'Histoire de l'imaginaire.
|
154 |
Dazu vor allem Dieter Groh, Strukturgeschichte
als 'totale' Geschichte, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte 58 (1971) 289–322.
|
155 |
Interview in "Der Standard", 30. Oktober 1992, Album 1–2. |
156 |
S. George Iggers, Neue
Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft.
Ein internationaler Vergleich, dtv 1978.
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157 |
S. Ernst
Schulin, Geschichtswissenschaft in unserem Jahrhundert. Probleme und Umrisse
einer Geschichte der Historie, in: HZ 245 (1987) 1–30.
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158 |
Was, wie Stegmüller bewiesen hat, irrig ist, s.w.u.
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159 |
Rothacker versuchte zwischen einer „erklärenden“, einer „begreifenden“
und einer „verstehenden“ Methode zu unterscheiden, was sich natürlich auch nicht
durchzusetzen vermochte.
|
160 |
Dieser
Begriff war zuvor nur Ausdruck der wechselseitigen Bedingtheit von Singularien
und Universalien.
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161 |
Bildung = Vorgang der bewussten persönlichen Aneignung der
Überlieferung, in dem diese nichts Äußerliches mehr ist, sondern sich im
Menschen zu "gewordenem Sein" verwandelt hat.
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162 |
Dies ist die
Grundannahme des H-O-Schemas, s.w.u.
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163 |
Heidegger sprach das Verstehen als eine Vorstufe, als Voraussetzung
von Erkenntnisprozessen an, sprach von der "Vor-Struktur" des Verstehens.
|
164 |
Was Geschichte sei, wandle sich zwar mit der Entwicklungsstufen
der Volksseele, doch allen – ob niedrig oder höherentwickelt – sei eigen, dass
sie eine formale und eine materielle Seite der Betrachtung von Geschichte
unterschieden. Die formale Seite: Geschichte als Abklatsch der Wirklichkeit, als
Dokument, Abfolge von Ereignissen, unteilbares Ganzes von Ursachen und
Wirkungen, Sinnhaftigkeit aus Kausalität. Geschichte betrachten, Geschichte
verstehen, verschiedene Ebenen des Geschichtsverständnisses sind möglich –
höchste Ebene ist die „philosophische Höhe der
Weltgeschichte eines Ranke" = Auffassung des Wesens von Geschichte. Daneben die materielle
Seite = die Auffassung des Inhalts der Geschichte, also die Bewertung der
Ereignisse in der Geschichte. Lamprecht meint: "Inhalt
der Geschichte
ist zu allen Zeiten,
was den Zeitgenossen als im menschlichen Geschehen
bedeutend erscheint.
Was aber ist jeweils bedeutend? Hier wirken zur
Bestimmung tausend
Einzelmotive zusammen, daneben aber auch einige ständig und
gesetzmäßig
wachsende Faktoren: Zunahme der Erziehung zu innerer geistiger und
sittlicher Freiheit,
Erweiterung des Horizontes mit wachsendem Verkehr und
dergleichen. Das
Ergebnis ist in den Hauptzügen in allen Kulturentwicklungen
dasselbe. Sehen wir
von Zufallsnotizen ab, wie denen über das Wetter
[...] so ist es überall das äußere große
Handeln, das die Aufmerksamkeit des rückblickenden Gedenkens am frühesten
fesselt. Und dieses äußere Handeln, insofern es vornehmlich auch das äußere
Schicksal Vieler bedingt, erscheint dabei geradezu als einziger Inhalt der
Geschichte". Erst im Verlaufe der Bewusstseinssteigerung in historicis
tritt die Erkenntnis hervor, "dass auch die
Zustände sich ändern", und "die
Zustände
immer mehr als
wirklich historische verstanden. An dieser Stelle kann nur
betont werden, dass
die Auffassung, die Zustände seien ein wirklicher aktiver
und verursachender
Teil des großen geschichtlichen Geschehens, selbst heute
noch keineswegs auch
nur in ihren wichtigsten Folgen und zu dauernd
gegenwärtiger
Wirkung in das Bewusstsein der schaffenden Historiker oder gar
der Zeitgenossen im
Allgemeinen gedrungen ist." Unter "Zuständen"
versteht Lamprecht Zustände seelischer Natur, die "Lebensformen vergesellschafteter Menschen, die sich in gewisse
äußere, objektive Hüllen kleiden, sie sind sozialpsychische, ja sie sind die
sozialpsychischen Erscheinungen überhaupt". Für jede menschlich-seelische
Erscheinung nahm Lamprecht die Gültigkeit jenes psychologischen Gesetzes an, "das [Wilhelm] Wundt das der schöpferischen Synthese
genannt [...] hat. Es besagt, historisch
gewandt und gemeinverständlich ausgedrückt, dass kein einziger seelischer
Tätigkeitsvorgang sich in der Wirkung erschöpft, die man nach der Natur der
vorliegenden Ursache allein anzunehmen geneigt sein möchte, sondern darüber
hinaus schwingt, vorwärts dringt zu einer weiteren Wirkung" - die
chemisch-physikalischen Vorgänge im Inneren einer Pflanze erklären nicht ihr
Wachstum, "bei jeder der Lebensäußerungen der
Pflanze stellt sich also ein leiser feinster Überschuss ein über die
chemisch-physikalische Wirkung hinaus, und die Summationen eben dieser
Überschüsse bilden, schaffen das Spezifische der Pflanze". Was für die
Individuen gelte, gelte auch für die Arten und auch für die geologischen
Zeitalter – es seien "Potenzen vorhanden, die sich in den Arten hin durch die Millionen
von Individuen entfalten haben und entfalten". Als Folge seiner
Überlegungen sieht Lamprecht, dass die bisher für wesentlich gehaltenen Erscheinungen in
der Geschichte als nebensächlich zurücktreten, nämlich die "politisch-militärische Geschichte"; ins Zentrum des
Interesses rücke nun das, was man früher als unveränderlich ignoriert habe,
nämlich die Zustände, die durch ihn als historische Phänomene, als Teile einer
Entwicklung erkannt wurden. Es ist nun belanglos, sich mit irgendwelchen
Individuen zu beschäftigen, die nur "nebensächliche Staffage auf dem breiten Hintergrunde bestimmter
Kulturen" seien; nun beginne man "ernsthaft
geschichtlich zu denken. Der weltgeschichtliche Zusammenhang, der letzte
große, von dem alles geschichtliche Werden erst Licht und Bedeutung erhält,
„ist ein kulturgeschichtlicher". Die Welt der politischen Geschichte wird
der Kulturgeschichte untergeordnet, ihr eingegliedert. "Geschichte ist eine geistige Bewegung". "Große Persönlichkeiten sind nur Führer nach
entwickelungsgeschichtlich nahegelegten, eben herannahenden Zielen einer
immanenten Entfaltung: früheste Ahner und Witterer des seinem innersten Kern
nach notwendig Kommenden mit der Möglichkeit, dieses Kommen eben in Folge
frühen Ahnens wenigstens in seinen Einzelheiten individuell zu bestimmen"
– so hätten sich auch Luther oder Bismarck selbst verstanden. Die Masse aber –
die "Viel zu Vielen", von denen keiner
entbehrt werden könne – schaffe die Zustände täglich neu, "gleichwie es für die Tätigkeit einer Dampfmaschine stetig
erhaltener Spannung des Dampfes bedarf"; auch für sie gelte das Gesetz
von der schöpferischen Synthese, "denn eben durch
sie wird durchaus wesentlich die Wirtschaftentwickelung mit bestimmt", die
wiederum "nicht zum wenigsten die Entfaltung der übrigen Kulturzweige"
bestimme – "trotz allen vielfach berechtigten
Anfechtungen der Marx’schen Geschichtsphilosophie".
Dem Determinismus ist Lamprecht aus dem Weg gegangen: Die Gesetze allein könnten das
geschichtliche Leben nicht erklären, die Geschichtswissenschaft löse sich nicht
in eine Psychologie als Lehre von der Mechanik der seelischen Bewegungen auf,
dafür sorge doch das Individuum, das Unteilbare, die Persönlichkeit, die nicht
vollständig im Sinne der Psychologie logisch "durchdacht" werden könnten und
letztlich in vielem unergründbar bleibe (= individuum est ineffabile!) und das
wohl nie den chemisch-physikalischen Gesetzen der Naturwissenschaften
"einverleibt" werden könne – "einstweilen und
wohl für immer ist mit dem Unterschied zwischen mechanischen und
Entwickelungsgesetzen zu rechnen". Weitere wesentliche Beiträge sind:
Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des positiven Denkens im archaischen
Griechenland (1957) Robert Mandrou: Arbeiten über das Klassenbewusstsein im 16. und 17. Jh, über
die Volkskultur im 17. und 18. Jh, Jacques Le
Goff: Rolle der Kaufleute und Bankiers, der Intellektuellen, Ketzer und
Bettelorden, Geschichte des Lesens und Schreibens, Georges Duby: Adel, Rittertum und Herrschaft im Hochmittelalter, „Die
Erklärung des Auftretens eines Ereignisses
einer bestimmten Art
E an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit,
besteht, wie es
üblicherweise ausgedrückt wird, in der Benennung von Ursachen
oder
Bestimmungsfaktoren von E. Die
Behauptung, dass
eine Reihe von Ereignissen – sagen wir C1, C2, ... – das zu
erklärende Ereignis
verursacht haben, läuft nun auf die Aussage hinaus, dass
einem allgemeinen
Gesetz zufolge eine Reihe von Ereignissen der erwähnten Art
regelmäßig von einem
Ereignis der Art E begleitet werde
[...]“.
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165 |
Dazu das von Edgar
Zilsel gebrauchte Beispiel einer belagerten Stadt: Wir verstehen,
warum sie sich ergibt; wir verstehen aber auch, warum sie sich nicht ergibt.
In diesem Zusammenhang ist auf Karl Achams Feststellung zu verweisen, dass Verstehen keine
Rechtfertigung bedeute.
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